Montag, 12. Dezember 2011

´THIS THING OF DARKNESS´. Edward St. Aubyns Trilogie "SOME HOPE"

Um den Mund hat er, auf den im Web verfügbaren Fotos, einen hochmütig-spöttischen Zug,  eine hell- und dünnhäutige Ausgabe des dunkel-brütenden, stolzen Mr. Darcy, des Prototypen aller literarischen Gentlemen. Wenn man die Fotos anschaut, sucht man nach Spuren in diesem Gesicht und natürlich stellt man fest, dass es keine gibt. ---Damit habe ich es hinter mich gebracht und die entlarvende Neugier eingestanden, die eben auch mich während der Lektüre dieser Trilogie plagte: Wer ist dieser Edward St. Aubyn, der in Interviews sagte, was in „Some Hope“ geschildert werde, sei autobiographisch? Gewöhnlich interessiert mich das Privatleben der Autoren und Autorinnen, deren Romane ich lese, nicht. Doch die Geschichte des kleinen Patrick, die  St. Aubyn in „Never Mind“, dem ersten Teil der Trilogie, erzählt, ist so abscheulich, dass man sich als Leser:in unwillkürlich fragt: Wie hat einer das überlebt und schreiben können?

Distanz statt Identifizierung
Edward St. Aubyns Roman ist aber keine Bekenntnisprosa, die ihren Wert aus (scheinhafter) Authentizität, aus der Erzeugung rührseligen Mitgefühls oder aus dem wohligen Schauder bezieht, selbst davongekommen zu sein. St. Aubyns kühler, präziser und ironischer Stil verweigert sich einer solchen Lesart. Hier müht sich einer nicht um Anteilnahme und Anerkennung des eigenen Leids, hier stellt sich auch keiner aus, um für „solche Kinder“ Verständnis zu wecken, um gesellschaftliche Aufmerksamkeit oder politische Aktion gegen Kindesmissbrauch, Vergewaltigung und Pädophilie zu erzeugen.

Warum ich so lange schreibe darüber, was dieser Roman nicht ist?  Weil St. Aubyns Bekenntnis ihn in diese Falle  wohlmeinender Vereinnahmung für gute Zwecke bringt, die aber seinem literarischen Anspruch geradezu entgegen läuft. Gleichwohl ist die Selbstaussage, mit der er das Buch in die Öffentlichkeit gebracht hat, nicht verzichtbar, sondern Bestandteil des künstlerischen Wahrheitsanspruchs, den dieser Roman, jenseits von Identitätskonstruktionen, aufrecht erhält. Weil wahr ist, was nicht zu heilen und nicht zu vergeben ist: Es ist dieser Roman nämlich keine Selbstfindungsgeschichte, sondern eine der (Selbst-)Distanzierung. 

Im dritten und letzten Teil der Trilogie erzählt die Hauptfigur Patrick ihrem Freund Johnny, dass er als Kind von seinem Vater vergewaltigt wurde: „When I was five, my father ´abused´ me, as we´re invited to call it these days...“ Er habe gedacht, erklärt Patrick, die Wahrheit auszusprechen, könne ihn befreien, aber tatsächlich: „The truth just drives you mad.“ Denn was Patrick ist, ist die Bitternis, der Hass, die Wut. Was von ihm übrig bliebe, ließe er diese fallen: Fast nichts. Johnny schlägt vor, das Handeln des Vaters als krank und nicht als böse zu verstehen.  Patrick antwortet: „But then, what is evil if not sickness celebrating itself?“


„Narrative Fatigue“
Dass das Verbrechen ausgesprochen wird, befreit nicht: „Narrative fatigue is what I´m going for. If the talk cure is our modern religion then narrative fatigue must be it´s apotheosis.“ Die Erzählung zielt nicht darauf, die Wahrheit an die Öffentlichkeit zu zerren, die Erlösung kommt nicht aus der Verkündigung und die Erhöhung ergibt sich nicht aus der Vergebung.  Patrick wendet sich grimmig entschlossen gegen christliche und psychoanalytische Heilsversprechen: Er braucht seine ihm Haltung verleihende Distanz zu sehr, um sich vergebend an die Seite des Gottessohnes zu setzen. Und er denkt nicht daran, „to get Californian“, um seine düstere Seele mit Hilfe der „talking cure“ aufzuhellen. Beides kann notwendig und hilfreich sein. St. Aubyns Roman zeigt das in einer hinreißend komischen und anrührenden Szene, in der Johnny an einem Treffen Anonymer Drogensüchtiger teilnimmt. Die Lächerlichkeit der immergleichen Phrasen entgeht ihm nicht: „It they had to use this obscure slang in order to do so, then that was a pity, but not a reason to hope that they would fail.“ Die Ermüdung durch Erzählung, die Patrick anstrebt, kennt Johnny von diesen Treffen, ebenso wie die christliche Versöhnlichkeit durch die jedes Treffen abschließenden Gebete. Aber Patrick strebt nach etwas anderem: Einer Haltung, die keine falsche Versöhnlichkeit mit dem Bösen, das es, wie Patrick weiß, gibt, aufkommen lässt und dennoch der Gefangenschaft in Wut und Verzweiflung, Zynismus und Selbsthass entkommt.

´This Thing Of Darkness´
Es ist, Patrick versteht das, während er mit Johnny spricht, ein einsamer Weg, der vor ihm liegt: „The roots of his imagination were in the Pagan South and the unseemly liberation it had engendered in his father, but the discussion had somehow remained in the Cotswolds being dripped on by the ghosts of England´s rude elms. The opportunity to make a grand gesture and say ´This thing of darkness I acknowledge mine´ , had somehow petered out into ethical debate.“  Die Suche nach der Wahrheit, auf die sich Patrick begibt, ist keine Suche nach dem wahren Ich hinter dem verletzten Kind, sondern nach den wahren Bildern und Worten am Grund seiner Erinnerungen. Was Patrick nach der Ermüdung zu erzählen haben wird, ist eine Geschichte ohne moralisches Urteil, eine Geschichte, die nicht mehr nach einem Ich fahndet, das sich nicht finden lässt, ohne sich aufzulösen, sondern sich dem Anderen und den Anderen zuwenden kann. St. Aubyn schreibt von hier her, von dieser im Roman am Ende verankerten Selbstoffenbarung her, eine Trilogie, in deren Zentrum zwar sein Alter Ego Patrick steht, die jedoch nicht um diesen kreist. 

Never mind
„Never mind“, der erste Teil, schildert einen Tag im Leben der britisch-amerikanischen Familie Melrose, die im Süden Frankreichs einen Landsitz besitzt. David, der Vater, entstammt vearmtem britischen Adel, hat Medizin studiert, praktiziert jedoch nicht als Arzt. Eleanor, die Mutter, ist eine reiche amerikanische Erbin, die trinkt. Ihr Sohn Patrick ist zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt. St. Aubyn nähert sich dem Schauplatz wie mit einer Filmkamera: Wir sehen die Haushälterin Yvette über die Einfahrt auf das Haus zugehen, einen Wäschekorb unter dem Arm. Ihr Blick fällt auf David Melrose, der mit einem Wasserschlauch Ameisen verfolgt und tötet: „His technique was well established: he would let the survivors struggle over the wet stones and regain their dignity for a while, before bringing the thundering water down on them again.“ Yvette fürchtet, vom Dr. Melrose gesehen zu werden. Er verwickelt sie häufig in lange Gespräche, um die Muskelkraft ihrer Arme zu testen, bis diese den Wäschekorb kaum mehr halten können. St. Aubyn führt David Melroses  Sadismus mit dieser kleinen Szene perfekt vor. Die Technik, mit der er die Ameisen quält, ist jene, die er auch auf seine Frau und sein Kind anwendet.  Die Art, wie der Yvette seine Macht spüren lässt, ohne dass seine Grausamkeit von ihr zu benennen und anzuklagen wäre, entspricht dem Verfahren, mit dem er auch Freunde und Bekannte bloßstellt. Ganz beiläufig wird dieser bösartige Charakter von St. Aubyn den Leser:innen bekannt gemacht und es ergeht ihnen wie all jenen, die an diesem schlimmen Tag, an dem David seinen Sohn zu ersten Mal vergewaltigen wird, mit den Melroses in Berührung kommen: Sie fühlen, dass etwas „Abartiges“ vor sich geht, doch sie können es nicht benennen und anzeigen.

St. Aubyn beginnt mit der Herkunft, aber knüpft den Blick auf diese an die Perspektive der Fremden: Yvettes. Immer schneller wechselt im ersten Teil des Romans die personale Perspektive. Wir sehen die Szene aus dem Blickwinkel Eleanors, des Hausfreundes Nicolas und seiner jungen Geliebten Bridget, des jüdisch-britischen Philosophen Victor und dessen amerikanischer Lebensgefährtin Anne. Doch als David Patrick vergewaltigt, um ihn für eine Tat zu bestrafen, die er ihm nicht nennt, nehmen wir als Leser:innen das Geschehen aus Patricks Sicht wahr: „Then he was back down on the bed again feeling a kind of blankness and bearing the weight of not knowing what was happening. He could hear his father wheezing, and the bedhead bumping against the wall. From behind the curtains with the green birds, he saw a gecko emerge and cling motionslessly to the corner of the wall beside the open window. Patrick lanced himself toward it. Thightening his fists and concentrating until his concentration was like a Telefone wire streched between them. Patrick disappeared into the lizards body.“ Dieses Gefühl wird Patrick nicht mehr verlassen: In und außerhalb seines Körpers zu sein. Das Ungeheuerliche und Unausprechliche geschieht. Und alles geht weiter wie zuvor. Die Gäste treffen ein. Die Mutter hat keine Zeit für Patrick.  David nimmt sein Lunch ein und ist ein wenig besorgt: „During lunch David felt that he had perhaps pushed his disdain for middle-class prudery a little too far. Even at the bar of the Cavalry and Guards Club one couldn´t boast about homosexual, paedophiliac incest with any confidence of a favourable reception.“ St. Aubyn beendet den ersten Teil der Trilogy mit einem Traum Patricks: Ein Schäferhund jagt ihn durch die Wälder. In seiner Verzweiflung beginnt Patrick laut zu rechnen, während er rennt und im letzten Moment hebt sein Körper ab und er schwebt über den Baumspitzen: „He knew that he must never allow himself to fall asleep. Below him the Alsatian scrambled to a halt in a flurry of dry leaves and picked up a dead brunch in his mouth.“

Bad News
Der zweite Teil der Trilogy trägt den Titel „Bad News“.  Er beginnt und endet mit dem Satz: „Patrick pretended to sleep...“ Der kleine Junge, der sich davor fürchtete jemals einzuschlafen, ist abgehoben. Patrick, jetzt 22 Jahre alt,  ist schwer heroin – und tablettenabhängig. Er führt ein zügelloses Dandyleben, das ihm sein ererbtes Vermögen ermöglicht. Der Süchtige findet keinen Blick von außen auf sich und andere. Alles kreist um ihn, der doch nie ganz bei sich ist. Am Anfang von „Bad News“ sitzt Patrick in der Concorde auf dem Flug nach New York, wo sein Vater gerade verstorben ist. Das sind die „Schlechten Nachrichten“, die Patrick jedoch als gut empfindet, ohne sich tatsächlich an ihnen erfreuen zu können. Niemand erreicht ihn. Alle, die er trifft, erscheinen ihm widerlich, dumm, gescheitert. Einzig sein New York Dealer, ein Ex-Psychotiker, nötigt ihm einen gewissen Respekt ab. In einer großartigen Szene zeigt St.Aubyn, wie der Drogensüchtige in mehreren Telefonaten Geliebte und Freunde geschickt manipuliert, während er zugleich mit Injektionen und Tabletten seinen Körper malträtiert und sich an die Grenze der Bewusstlosigkeit bringt.  Mehrmals reizt Patrick in den zwei Tagen, die hier geschildert werden, sein „Glück“ aus, kotzt und fixt sich beinahe ins Jenseits. Die Asche seines Vaters vergisst er zum Schluss fast im Hotel. Ein Penner auf der anderen Straßenseite erscheint ihm als „Mon semblable.“ Sagen andere. Sagt wer? Es gibt bedeutende Unterschiede. Patrick hat noch immer genug Geld in der Tasche und neben sich auf dem Sitz in einer braunen Papiertüte die Überreste seines Vaters.

Some hope
Im dritten und letzten Teil „Some hope“ ist Patrick, nun ein Mittdreißiger, erwacht: „Patrick woke up knowing he had dreamed but unable to remember the contents of his dream.“ Er ahnt etwas von einem See, an dem der Traum spielte, alles wird von den Bildern eines Kinofilms zugedeckt, den er mit seinem Freund Johnny Hall am Abend zuvor gesehen hat. Patrick sucht nach Worten und hat zugleich den Verdacht, dass es diese exzentrische Suche nach dem rechten Wort für alles ist, an der er leidet. Im dritten Teil geht es um eine Party auf dem Land, die Bridget, jene junge Aufsteigerin aus dem ersten Teil, für Princess Margret gibt. Sie ist inzwischen mit einem Hochadligen verheiratet, der sie mit einer Jüngeren betrügt. St. Aubyn schildert die Vorbereitungen verschiedener Romanfiguren auf dieses gesellschaftliche Ereignis, die amourösen Verwicklungen, das Statusgehabe, die Ängste und Begehrlichkeiten. Noch rasanter erscheint der Perspektivenwechsel als im ersten Teil. Man kann große Teile dieser Erzählung als eine ironische Darstellung der grotesken Rituale der  englischen Upper Class lesen. Es kommt zu dramatischen diplomatischen Zwischenfällen, als der französische Botschafter das Kleid der Prinzessin versehentlich beschmutzt und diese ihn öffentlich demütigt. Man versucht sich die Langeweile zu vertreiben, die sich auf solchen Partys einstellt: „We´re making a list of all people whose father´s aren´t really their fathers.“ Johnnys heimliche Geliebte, die auch schon mal ein Verhältnis mit Patrick hatte, macht sich wieder an den heran. Ein alter Freund von Patricks Vater erleidet einen Herzanfall und muss ins Krankenhaus transportiert werden. Am Ende der Nacht verlässt Bridget ihren Ehemann und kehrt zu ihrer spießigen, aber herzlichen Mittelklasse-Mutter heim. Patrick nimmt diese sich Stück für Stück auflösende Party und selbst entblößende Gesellschaft  scharf, aber ohne zu urteilen, wahr. Ganz am Ende steht er an einem See.  Schwäne erheben sich über dem Nebel. Er raucht eine letzte Zigarette. Dann nimmt er, wie der Hund in jenem Traum, den der kleine Patrick träumte, einen toten Ast auf und schleudert ihn in den See: „After their useless journey the swans drifted majestically back into the fog. Nearer and noisier, a group of gulls circled overhead, their squawks evoking wilder water and wider shores. Patrick flicked his cigarette into the snow, and not quite knowing what had happened, headed back to his car with a strange feeling of elation.“

Er hat sich nicht ermüdet, erzählend. Auch die Leser:innen nicht. Am Ende dieser Roman-Trilogie bleibt das: „a strange feeling of elation.“ Ein Wechselbad der Gefühle. Der Wille zur Distanzierung, zur Differenz, zum Perspektivenwechsel. Der Ekel. Die Scham. Eine haltlose Traurigkeit. Kein Ich. Viele. Die Anderen wahrnehmen. Ein großartig komponierter Roman. Bilder, die sich lange einprägen werden. Geckos an einer südlichen Hauswand werde ich nie wieder unbefangen sehen.

Edward St. Aubyn: Some Hope, Picador € 9,50 (komplette Trilogie in Englisch)
Edward St. Aubyn: Schöne Verhältnisse, btb € 8,00 (erster Teil auf Deutsch)
Edward St. Aubyn: Schlechte Neugikeiten, btb € 8,00 (zweiter Teil auf Deutsch)
Edward St. Aubyn: Nette Aussichten, btb € 8,00 (dritter Teil auf Deutsch)


Die "Melrose-Saga" wird in den Bänden "Mothers milk" und "At last" fortgesetzt. 

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