Im neuen Intelligent Life, der vierteljährlichen Kulturbeilage des Economist, wird gefragt: „What´s the greatest invention of all time?“ Die Antworten der sechs Autor:innen sind: das WorldWideWeb(Samantha Weinberg), die Klinge (Edward Carr), die wissenschaftliche Methode (Roger Highfield), die Schrift (Tom Standage), das Transistorradio (Nnaemeka Ikegwuonu), das WC (Nick Valery).
Roger Highfield, finde ich, hat sich geschickt, aber unredlich aus der Affäre gezogen. Eine Methode der Erfindung als beste Erfindung auszugeben, ist sicher raffiniert, führt aber letztlich bloß zu allgemeinphilosophischen Erwägungen über Gott und die Welt, also direkt hinein in jene Geisteshaltung, die alles bedenkt und nichts erschafft. Erfindung verstehe ich als Schöpfung, als einen Akt der Hervorbringung, nicht als bloßes Gedankenkonstrukt. Der Vorschlag Tom Standages steht gewissermaßen zwischen Methode und Produkt: Die Schrift kann beides sein. Ich lasse das gelten und räume ein, dass meine Wahl auf etwas fällt, was ohne Schrift nicht möglich gewesen wäre und selbstverständlich auch nicht ohne die wissenschaftliche Methode. Dennoch wähle ich einen Gegenstand, der nicht Werkzeug ist, um andere Erfindungen zu befördern, sondern selbst mächtig und umwälzend in menschliche Lebensverhältnisse eingegriffen hat.
Samantha Weinberg hat es schon erwogen: „Change the cast again, and the suggestion will be different. Put women on the chairs, and we might vote for the contraceptive pill (Carl Djerrassi 1960), which, by handing us the responsibility for our own fercility, freed us to run our own lives.“ Dem Gedankengang, der Weinberg dann doch das WWW vorziehen lässt, kann ich nicht folgen. Sie vergleicht die Wahl der Frauen mit der von Blinden (Braille-Schrift), Astronomen (Teleskop) oder Minenarbeitern (Sicherheitslampe). Diese Vergleiche finde ich entlarvend. Denn was die Hälfte der Menschheit, wie Weinberg schreibt, befreit, ein eigenständiges Leben zu führen und darüber hinaus die Fortpflanzung der Art insgesamt fundamental verändert, kann kaum gleichbedeutend sein mit einer Perspektive, die durch spezifische körperliche Einschränkungen oder Berufe bedingt ist. Weinbergs Gleichsetzung der Frauen mit einer Minderheit ist indes kein persönlicher Defekt, sondern weit verbreitet.
Die Pille halte ich für die bedeutendste und folgenreichste Erfindung in der bisherigen Menschheitsgeschichte. Sie ermöglicht Frauen ihrem sexuellen Begehren nachzugeben ohne die Angst vor einer Schwangerschaft. Durch die Pille können Frauen die Wahl des Sexualpartners unabhängig von der Wahl eines potentiellen Kindsvaters treffen. Ohne die Pille, vermute ich, hätte ich mich nicht auf Sex mit jenem Mann eingelassen, der für mich der Erste war. Denn ich liebte ihn nicht und ich wusste das auch. Ich war sehr verliebt und ich begehrte ihn. Aber ich mochte ihn nicht besonders. Ich teilte keine seiner Interessen, über seine Witze konnte ich nicht lachen und seine Freunde gingen mir auf die Nerven. Das war kein Mann, an den ich mich ewig binden wollte. An den Vater der eigenen Kinder ist eine Frau für immer gebunden, davon bin ich überzeugt. Selbst wenn sie diesen nie wieder sieht, wird sie ihn immer in ihren Kinder sehen, die ein Teil von ihr waren und in gewissem Sinne für immer bleiben. Die Pille stellt unser Verhältnis zu einem wesentlichen Teil unserer Selbst, zu unserem Wesen nämlich, auf eine Probe: Sexualität und Fortpflanzungstrieb werden voneinander geschieden. Wir können das eine kultivieren und das andere regulieren. – Und werden selbstverständlich dennoch in der Lust und im Gebären zurückgeworfen auf unsere ursprüngliche Natur. -- Die Spannweite, auch die Anspannung hat sich enorm vergrößert, die Anforderungen an unsere Verantwortlichkeit und unseren guten Willen sind gewachsen, ohne dass unser Begehren nachgelassen hätte. Wir sind in die Pflicht gestellt, mit unserer Lust vernünftig umzugehen – ein Widerspruch in sich, der uns zweifellos immer wieder überfordert.
Die Pille wirft uns voraus in ein post-menschliches Zeitalter, in dem Zeugung und Trieb voneinander vollständig geschieden sein könnten. Daher ist diese Erfindung auch für Männer, die von der neuen Wahlmöglichkeit der Frau be –und getroffen sind, von umwälzender Bedeutung. Denn die Kontrolle des Mannes über die Fortpflanzung, auf die alle kulturell-religiös errichtete Sexualmoral zielte, ist endgültig verloren. Wenn die Frau nicht will, kann der Mann so viel verspritzen, wie er will, ohne zu zeugen. Es ist dies eine Kränkung des männlichen Selbstverständnisses, die der Kopernikanischen und Freudschen in Nichts nachsteht.
Aus dieser Perspektive geht es nicht um die Gleichheit der Geschlechter, nicht einmal um Gleichberechtigung und Gleichstellung. Auf dem Grunde der Macht liegt die Herrschaft darüber, wie sich die Art erhält. Sie lag in Wahrheit immer bei den Müttern, aus dieser Angst und dieser Demütigung gehen Vergötterung und Erniedrigung der Frau hervor, die gewaltigen kulturelle Anstrengungen des Mannes, die Sexualität der Frau zu unterdrücken, zu kontrollieren, zu vergewaltigen. Der Selbstbefreiungskampf des Mannes ist von daher immer auch ein Kampf um die Herrschaft über die Frau gewesen: eine lllusion von Freiheit. Die Freiheit, die die Pille eröffnet, betont die sexuelle Differenz und das ursprüngliche Machtgefälle, d.h. sie ist eine Herausforderung an den Mann, seine Freiheit jenseits der Macht über die Frau zu denken und an die Frau, ihre Freiheit nicht in den Kategorien männlicher (Selbst-)Ermächtigung (Kontrolle, Konkurrenz, Ausschluss) zu verwirklichen. Das ist ein weiter Weg. Wir sind feige und bauen weiter auf alte Konventionen und Moralvorstellungen: Ehe, (serielle) Monogamie, Versorgungsansprüche.
Wir sind Menschen. Vielleicht sind wir nicht geschaffen für ein post-menschliches Zeitalter. Ich hoffe, es geht nicht darum, sondern um ein post-patriarchalisches Zeitalter, in das wir wachsen könnten. Nichts wird einfacher. Wir entfernen uns in gewaltigen Schritten von unseren Ursprüngen. Und dabei haust noch immer das Tier in uns und ist nicht tot zu kriegen. Ein Glück!
den ganzen Tag schon überlege ich, was mir nicht gefällt an der doch eigentlich sehr schlüssigen und nachvollziehbaren Wahl der Pille, als größter Erfindung der Menschheit, vorhin ist es mir endlich eingefallen, mir sind diejenigen Erfindungen wichtiger, die Menschenleben retten, das Penicilin z.B., oder all die medizinischen Erfindungen, die Krankheiten verhüten oder heilen, oder wenigstens Schmerzen lindern können. Das soll kein Plädoyer gegen die Pille sein, gegen die Wichtigkeit ihrer Erfindung, ich wollte nur ergänzen, was mir gefehlt hat, bei der Betrachtung der größten Erfindungen der Menschheit.
AntwortenLöschenDas sind zweifellos sehr wichtige Erfindungen, für die ich auch sehr dankbar bin. Sie verlängern Menschenleben. Sie "retten" das Leben einmal, jedoch nicht endgültig, denn wir müssen ja doch sterben. (Ich denke gerade daran, wie die US-amerikanische Rechte den Tod des Atheisten Christopher Hitchens kürzlich als "Rache Gottes" gedeutet hat, so als müssten sie, die Rechtgläubigen, niemals sterben.)
AntwortenLöschenDeshalb denke ich weiterhin, dass medizinischer Fortschritt etwas Wunderbares ist, da er aber (zum Glück, denke ich) den Tod nicht besiegen kann, halte ich die Wirkung der Antibaby-Pille langfristig für bedeutsamer und schwerwiegender. Durchaus, wie immer, nehme ich das auch ambivalent wahr: Es ist immer ein Preis zu bezahlen. Dieser hier ist hoch: Denn er lastet uns die Entscheidung über etwas auf, was vorher als "natürlich" galt. Wir müssen Kinder jetzt wollen, sonst gibt es keine mehr.
27. Dezember 2011 15:47
Wenn das doch so wäre, wenn es doch nur gewollte Kinder gäbe, und diese auch immer weiter gewollt wären!
AntwortenLöschenSie haben sicher Recht mit Ihren Einwänden, trotzdem geht es hier einmal, um die Entscheidung, ob Leben entstehen kann und bei den medizinischen Errungenschaften, auf die ich mich beziehe, darum, wie Leben länger lebenswert sein kann, wie letztendlich sogar der Tod humaner gestorben werden kann, wenn ich an die ganze Palliativmedizin denke.
Es wäre schön, einerseits, wenn alle Kinder gewollte Kinder wären. Ob aber genügend Kinder so ganz gewollt sein könnten, um "die Art" zu erhalten? Ich weiß das nicht. Wären wir Tiere, so stellte sich die Frage nach unserem Willen nicht. Und gerade darin liegt die (Über-)Forderung durch die "Pille": dass wir wollen müssen, was "Natur" war. Das halte ich für einen sehr tiefen Einschnitt in unsere Lebensbedingungen.
AntwortenLöschenAber es stimmt natürlich, dass die Verlängerungen unseres Lebens durch medizinischen Fortschritt ebenso gewaltig in unsere Lebensweise hineinwirkt. -- Zur Vorstellung eines "lebenswerten Lebens": Ich komme jetzt in das Alter, wo Krankheit und Tod öfter und näher heran rücken im Freundes- und Bekanntenkreis, vor allem auch in der Elterngeneration. Es ist so schwer zu sagen, was "lebenswert " ist - und es ist auch bei jedem anders. Manches Mal möchte man auf Knien der so oft gescholtenen Apparate-Medizin danken, weil sie Leben erhält und ein anderes Mal verflucht man sie aus genau demselben Grund. Die Schmerztherapie hat große Fortschritte gemacht, wofür jede/r dankbar sein kann. Dennoch: Für mich ist das eine problematische Formulierung, wie "der Tod humaner gestorben werden kann", denn zumindest mir fiele es ganz schwer, das gültig zu beschreiben. Der Film "Halt auf freier Strecke" zeigt ein solches Sterben, vielleicht, aber er zeigt auch sehr genau, dass man nichts, gar nichts verallgemeinern kann.
Ich hatte diesen ersten Satz eher dahingehend gemeint, dass die Tatsache, dass es Empfängnisverhütung gibt, noch lange nicht genügt, um verantwortungsvoll mit Kinderwünschen, Verhütung und ähnlichem umzugehen und dass es zu viele Kinder gibt, bei denen die Eltern erst nach der Geburt merken, dass sie nicht wirklich gewollt sind. Aber das zugegebenermaßen ein neues Thema, das den Rahmen hier sprengt.
AntwortenLöschenWas ist das für ein Film, werde ich gleich mal googeln. Für mich persönlich sind Schmerzen der größte Horror, den ich mit dem Tod verbinde, auch mit dem Leben. Und zwar chronische Schmerzen, Schmerzen, die Lebensfreude und Lebensqualität schlicht unmöglich machen, aber das ist subjektiv, sicher.
Da sind wir uns ganz einig: Die Antibaby-Pille ist nur die Forderung nach einem verantwortungsvollen Umgang mit dem Kinderkriegen. Das ist ja genau das Problem: Wir haben die Mittel, aber wir werden ihnen nicht gerecht. Was früher Schicksal war, wird nun Schuld.---
AntwortenLöschenDas verstehe ich gut, die Angst vor den chronischen Schmerzen. Ich selbst bin nicht sehr tapfer. Aber ich habe gesehen, wie unterschiedlich Menschen damit umgehen.
Über den Film habe ich hier im Blog geschrieben:
"Halt auf freier Strecke" von Andreas Dresen
Er hat auf mich sehr tröstlich gewirkt, obwohl oder weil er nichts beschönigt.