Den ersten heftigen Wutausbruch hatte sie, als es ihr nicht gelang das helle Band mit den Goldfäden ins Haar zu flechten. Im polierten Schlafzimmer der Eltern lehnte ein mannshoher Spiegel auf der Kommode. Als das Schleifchen sich nicht binden ließ, schubste sie ihn mit den kleinen Händen zu Boden und trampelte auf den Scherben. Fassungslos sah die Mutter von der Tür aus das kleine Rumpelstilzchen toben. Der Vater wurde des Unglücks gewahr, als sie an der Mutter vorbei hinaus drängte, nicht ohne der noch einmal kräftig vors Schienbein zu treten. Es folgten Rufe des Entsetzens über die sinnfreie Zerstörungstat, Vorwürfe an das unbeherrschte Kind und vor allem die Forderung, sich zu entschuldigen. Das Kind aber schob die Unterlippe vor und stemmte die Hände in die Hüften, sein bisschen Gewicht auf die Fersen legend. Da könnt ihr lange warten. Als der Vater sie greifen wollte, schlug sie nach ihm. Die Mutter trat näher hinzu und streckte die Hände aus. Sie fauchte und hob die Fäuste wie ein Boxer vor das Gesicht. Schließlich packte der Vater sie um die Hüfte und trug sie unter dem Arm gesteckt wie ein Paket in den Keller. Warum hast du das bloß gemacht? Bitte die Mama um Verzeihung. Sie brachte nur ihr Nein heraus. Das Unbegreifliche der Tat, die Schwere des Unrechts, die Unmöglichkeit, sich selbst zu verzeihen, versteiften den Trotz. Nein. Der Vater hatte Tränen in den Augen. Dann musst du hier unten bleiben. Er schloss die Tür hinter sich. Ihr Körper bebte. Eine Welle stieg ihr zu Kopf, eine Woge aus Zorn, Kraft, Trauer und Angst. Mit dem Fuß kickte sie einen Kübel weiße Farbe um, die sich rasch auf dem Kellerboden ausbreitete. Jetzt war schon alles egal. Sie kippte den Farbeimer mit beiden Händen aus und schwenkte ihn herum. Mit den Füßen verteilte sie die Farbe über den Boden, mit den Händen beschmierte sie die Wände. Sie weinte lautlos dabei. Ihr Körper zuckte in wortlosem Entsetzen, bis sie erschöpft eingerollt wie ein Embryo einschlief. So fand sie der Vater und trug sie hinauf in ihr Bettchen. Als sie schluchzend erwachte, hielt er sie fest in den Armen. Es tut mir so leid. Das war kaum zu verstehen.
***
(Die biographische Methode gehört zum professionellen Handwerkszeug. Mit ihrer Hilfe sollen Voreinstellungen und Blockaden reflektiert werden, um die Alltagstheorien offenzulegen, auf deren Basis Fachwissen erworben, organisiert und in deren Gewebe es integriert werden muss. Tatsächlich kann, wie die Hirnforschung zeigt, ein Lerneffekt nur erzielt werden, wenn die Verknüpfung mit dem vorhandenen Konstrukt gelingt. Alles Erlernte, das von diesem abgespalten bleibt, bewirkt keine Verhaltensänderung.)
Was bedeutet es für dich eine Frau zu sein? Wie wirkt sich dein Geschlecht auf deine professionellen Beziehungen zu Klienten und Kollegen aus? Gab und gibt es Konflikte zwischen der Außenwahrnehmung als Frau und deiner Selbstwahrnehmung? --- Eine Frage war: Wieviel Prozent Frau bist du? 100 %, denke ich. Aber das sage ich hier lieber nicht. 80 % Prozent müssen reichen. Alle außer mir haben sich in dieser Runde schon einmal gewünscht, ein anderes Geschlecht zu haben als ihr biologisches. Die meisten wurden schon einmal für das gehalten, was sie nach eigener Einschätzung oder nach Maßgabe ihrer Geburtsurkunde nicht sind. An so etwas kann ich mich nicht erinnern. Das ruft ungläubiges Erstaunen hervor. Doch niemand hat mich je für einen Jungen gehalten. Dabei trug ich als ganz kleines Mädchen die Haare kurz und später wieder nach einem verunglückten Friseurbesuch. Aber in meinem Gedächtnis findet sich kein einziges Gespräch, bei dem ich als Junge angesprochen wurde. Wenn ich die Fotos betrachte, die meine Eltern von mir gemacht haben, sehe ich ein Kind, das nur selten mädchenhaft herausgeputzt wurde; immer aber weist irgendeine Kleinigkeit, ein Schleifchen, eine Herzkette, ein Gürtel auf mein Geschlecht hin. Dass ich ein Mädchen bin, eine Frau werden sollte und als solche erwünscht, geliebt, anerkannt war, stand nie in Frage.
Ich habe auch den Satz nie gehört: „Ein Mädchen tut so etwas nicht...“, nicht einmal nach meinen heftigsten Wutausbrüchen. Dass ich gerne kletterte, fast jeden Tag aufgeschrubbte Knie hatte, Schlachtfelder nachstellte, Hockey und Fußball spielte, war kein Problem. Ich spielte auch mit dem Kaufladen, mit Barbie-Puppen und verkleidete mich als „feine Dame“. Meine Eltern glaubten ohne Zweifel an die Zweigeschlechtlichkeit und setzten sie bruchlos voraus. Sie verbanden damit aber keine kulturellen Verbote und Gebote. Erst im weiteren Familienkreis stieß ich auf Schranken und Ablehnung gegenüber meiner Art, ein Mädchen zu sein. Interesse für Handarbeit, Ordnung und Sauberkeit und ein bisschen mehr Demut waren erwünscht. Ich ließ das so stehen, heulte manchmal ein paar Tränen über die missglückten Häkelarbeiten, die meine Mutter für mich ausbesserte, fühlte mich aber im Elternhaus immer genügend anerkannt, um darüber hinweg zu gehen.
Vielleicht liegt es daran, dass das Mädchen, das ich war und die Frau, die ich wurde, sich so lange wie im Traum durch das Dickicht der Geschlechterschranken bewegte, als ginge sie das nichts an, als könne sie sich ohne Bruch, ohne Verluste das Erbe einer Kultur aneignen, in der Männer hinaus „ins feindliche Leben“ drängen, während Frauen zu Hause sitzen und nähen. So sah sie sich nie. Sie zeichnete eine Rittersfrau, die ihre blonden Locken unter einer schneeweißen Rüstung verbarg, und mit starkem Arm manch dunklen Ritter erschlug. Sie träumte davon, einmal Brüste zu haben, die die gigantischen Körbchengrößen ausfüllen würden (zumindest erschienen sie ihr damals riesig), mit denen im Otto-Katalog vollschlanke Modells Dessous vorführten. Sie stellte sich vor, auf einem Frachtschiff als Matrosin nach Brasilien zu reisen und wünschte sich nach dem Anlegen in einem Ballkleid wie Sissi von Bord zu gehen. Wie immer sie ihre Tagträume ausmalte, nie sah sie sich selbst als etwas anderes als eine Frau.
Es hat sich daran nichts geändert. Ich gebe zu: Es war ein Schock festzustellen, dass ich meinen Cousin niemals beim Weitpinkeln besiegen werden. Ich habe mir dennoch nie gewünscht, einen Penis zu haben. Dass der Mensch zwei ist und ich kein Mann, war mir klar, bevor ich es mir klar machte. Die Entlarvung der Vorstellung von der Zweigeschlechtlichkeit als Konstrukt bleibt bis heute ein von meiner Alltagstheorie abgespaltetes Wissen, das sich nicht integrieren lässt. Der Grund dafür ist schlicht: Ich war gerne ein Mädchen und bin gerne Frau.
Ihr text, Tiebe Melusine, macht mir große Lust, ihm eine eigene Rückschau gegenüberzustellen: Einen Blick zurück zu werfen auf das Mädchen, das nie in Wut ausbrach. Ich war ein Engel. sagen die, die es wissen müssen. Es gibt kaum ein Etikett, das besser haftet, glaub' ich.
AntwortenLöschenAls ich noch studierte, hatte ich mal eine Freundin, die sehr streitlustig war. Eines Nachts in einer Bar kommentierte uns mal ein Fremder, mit dem wir uns lange unterhalten hatten, er sagte zu mir: "Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir ihren Geist in Deinem Körper wünschen."
Ich weiß nicht, warum mir das gerade wieder einfällt.
p.s. (Schade, dass man Flüchtigkeitsfehler hier auf den Gleisen nicht mehr im Nachhinein korrigieren kann ... ; )
LöschenAuch mich hat dieser Text veranlasst über die eigenen Wurzeln der Wut nachzudenken. In kleinen Schritten hinaus zur großen Wut zu gehen und nichts zu finden, als ein kleines ohnmächtiges Wesen, dass die grenzenlose Macht der Wut auf niemanden zu richten weiß, als auf sich selbst.
AntwortenLöschenPhyllis: Sind Sie wütend geworden über diesen Satz? Damals.
Lässt sich nicht gerade aus dieser Selbstverständlichkeit des eigenen Frauseins viel machtvoller Rollenzuschreibungen entgegentreten, indem nämlich einfach gelebt wird, wo anderswo noch um Erlaubnis gebeten oder gefordert wird? Eine Frau, die als Kind nie den Satz hören musste "Ein Mädchen tut sowas nicht ...", hat doch sicher nur ein müdes Lächeln für Sätze, die Frauen in Schranken weisen wollen. Warum sich gegen ungeschriebene Gesetze wehren? Mir fällt ein Satz Astrid Lindgrens ein: "Es gibt kein Verbot für alte Weiber, auf Bäume zu klettern."
AntwortenLöschen@Phyllis + Weberin - Diese Frage (an Phyllis) hätte ich auch sofort gestellt! Ich weiß nicht, ob die Aussage dieses Mannes mich wütend hätte machen können mit Anfang zwanzig. Denn die Vorstellung dass Geist und Körper nicht eins sein könnten, wäre mir so unsinnig und dumm vorgekommen, dass ich vielleicht sogar Mitleid mit dem Fragenden gehabt hätte. Erst die Geburt meines ersten Sohnes, bei der vieles schief ging, ließ mich an meinem Körper zweifeln und - so komme ich zu:
AntwortenLöschen@Iris --- hob alle Selbstverständlichkeit auf. Eine Frau zu sein hieß nun: Angst haben vor dem Versagen des eigenen Körpers, Angst haben, nicht zu genügen, hieß: "Rührmichnicht an!"
Die Schranken (der kulturell determinierten Weiblichkeit) nicht anerkennen zu wollen, war aber auch vorher schon ignorant und hochmütig. So wurde das Sprichwort wahr, das meine Großmutter oft im Mund führte: "Hochmut kommt vor dem Fall." Denn die Welt besteht (zum Glück) nicht aus der Kleinfamilie. Und ich hätte sehr wohl verstehen können, was draußen Frauen gelten. Es war auch nicht so, dass meine Eltern geschlechtsneutral erzogen hätten. Nur stellten sie nie in Frage, dass etwas an mir, in mir, aus mir "weiblich" sei.
Die Geschichte des Zornausbruchs, die so tief in mein Gedächtnis eingegraben ist (wenn sie hier auch als "Auto. Logik.Lüge.Libido" und d.h. verfremdet wiedergegeben ist), stellt mir in diesem Zusammenhang zwei Fragen: Warum fiel sie mir ein, als man mich fragte: Wie viel Prozent Frau bist du? Und: Was für ein Zorn ist das, der sich immer wieder auf den Bruch mit der Welt richtet (dass "die Dinge" mir nicht gehorchen), in seinen Folgewirkungen aber durchaus autoaggressiv erscheint (auch das in einer endlosen Wiederholungsschleife)?
Ich bin mir nicht sicher, ob dieser Gedanken hierher passt, aber ich denke gerade, dass Zorn alles eng macht, dass Zorn das Gefühl von aussichtsloser Einengung ist.
AntwortenLöschenFür mich ist der Zorn zerstörerisch wirksam - aber auch Treibstoff. Über die Jahre habe ich gelernt, dass ich kein Mensch bin, der aus einer gemäßigten Haltung heraus arbeiten und leben kann. Da ich leidenschaftlich an (fast) alles, was ich tue, herangehe, werde ich auch öfter zornig. Zwinge ich mich aber zur Beherrschung - oder schlimmer: bin ich schon von vornherein nur "mäßig" - verlohnt es nicht, überhaupt anzufangen.
AntwortenLöschenIch weiß, dass andere anders "ticken"; jede/r ihren eigenen Treibstoff hat. Meiner ist die Leidenschaft, die eben auch Leiden schafft. ;-) (Die Mäßigung ist für eine wie mich Gefängnis. Routinen, Stillstand, Gleichmut - alles, was der Buddhist anstrebt, frisst mich von innen her auf. --Todessehnsucht.)
Liebe Melusine, das Interessante für mich ist, dass ich mich so oft in Deinen wütenden Worten wiederfinde, unsere jeweiligen Anlässe aber ganz andere zu sein scheinen. Vielleicht ähnelt sich alle Wut in ihrem tieferen Grund, dem Du ja auf der Spur bist, so wie ich auch.
AntwortenLöschenIm Laufe Deiner obigen Zornausbruchgeschichte hat sich ja auch der Anlass für die nicht verrauchen wollende Wut geändert vom doofen Haarband bzw. dem Nichtgelingen des Bindens über das Unverständnis der Eltern und das Eingesperrtwerden, die eigene Ohnmacht und am Ende vielleicht sogar Scham über das eigene Verhalten (?). Aber all das ist ja noch nicht tiefer Grund, denn jemand anders hätte in derselben Situation vielleicht ganz anders reagiert. ???
Sieh bitte meine Kommentare nicht als ein Infragestellen, sondern als ein Mitdenken, denn ich bin mir ja selbst auf der Spur und finde hier bei Dir viel Anregung.
Im Übrigen finde ich die Frage "Wieviel Prozent Frau bist Du?" so absurd, dass ich mich frage, ob sie nicht gerade um der Provokation willen gestellt wurde und da ja auch sehr wirksam war. (Ich hätte auch 100 % gesagt, wäre gleichzeitig entrüstet gewesen und hätte mich darüber an andere Entrüstungsanlässe erinnert.)
Liebe Iris, vielen Dank für Dein Mitdenken, das mir sehr viel bedeutet! Je mehr ich "in mich gehe", desto mehr erkenne ich am Grunde der Wut die Kränkung, dass die Welt sich meinem Willen nicht fügt. Also: die Dinge, Maschinen, das Wetter, mein Körper nicht so agieren oder reagieren, wie ICH will. Das erscheint auf den ersten Blick sehr egozentrisch. Erstaunlich ist aber, dass ein anderer menschlicher Wille (also das andere ICH) mich wohl herausfordert, aber n i c h t in dieser Weise zornig macht. (Dagegen treibt die Willenlosigkeit des Anderen mich zu Zorneshöchstleistungen ;-) ) Es geht daher, so scheint mir, gar nicht um das individuelle "Ich", sondern um den existentiellen menschlichen Zwiespalt: Dass es das Menschsein ausmacht, die Welt nicht zu nehmen, wie sie ist, sondern sie (oder eine neue) erschaffen zu wollen (die Phantasie verwirklichken). Die Ur-Sünde?
AntwortenLöschenDie Frage war in dem Kontext, in dem sie gestellt wurde, wohl als Provokation gedacht, jedoch in anderer Hinsicht, als Du und ich sie wohl empfinden. Dort ging es darum, das Geschlecht selbst vollständig als Konstrukt und also als dekonstruierbar zu erfahren. Während fast alle anderen diese "Erkenntnis" mit eigener Erfahrung verknüpfen konnten, blieb sie mir äußerlich, da ich mein Frausein als phänomenal erlebe, unhintergehbar.
Vielleicht sind unsere Kränkungen verwandt, denn so wie Du erleb(te)st, dass die Welt nicht Deinem Willen gehorcht, habe ich erlebt, dass mein Wille gebrochen wurde und dass ich mich fügte. Demzufolge richtet sich meine Wut immer noch und eigentlich nur gegen Machtansprüche, Fundamentalismus, Manipulation und Vereinnahmung.
LöschenKönnte sein, dass diese beide Arten der Kränkung mit der "Ur-Sünde" zu tun haben.
Die Verwandtschaft besteht wohl. Ein Unterschied, so glaube ich, ist, dass jene Kränkung, die du beschreibst, vermeidbar ist: Der Wille muss nicht gebrochen werden durch anderen menschlichen Willen. Dass sich der Wille aber nicht behaupten kann gegen die dingliche Welt, ist wohl unvermeidbar.
Löschen@Weberin
AntwortenLöschenNein, nicht wütend: ich war überrascht. Der Blickwinkel des Fremden lag mir zu fern, als dass ich mich hätte gemeint fühlen können. Ich erinnere mich aber, dass meine Freundin höllisch gekränkt war - für mich gleich mit.
Es sind andere Dinge, die mich zornig machten und machen: Willentliche Ignoranz und Duckmäuserei. Empathieverweigerung. Menschen, die zu selbstgerecht sind, um ihre Meinungen revidieren zu können.
Sie sehen, ich bin schon fast drin in meinem eigenen Zorntext...
... denn Ihre Einschätzung, dass Zorn eng macht, kann ich nicht ganz bejahen. Vielleicht der, der sich nach innen richtet. Den kenn' ich gut, der macht tatsächlich eng. Und ich arbeite heftig und schnaufend daran, ihn nach außen kehren zu lernen.
@Melusine
"Am Körper zweifeln" - in diesen drei Worten steckt so viel. Inzwischen denke ich, dieser Zweifel war einer der Gründe, weshalb ich Künstlerin wurde und werden musste. Mein Körper und mein Geist trugen früher so widersprüchliche Botschaften in die Welt und brachten so verwirrende Geschichten nach Hause von ihren Ausflügen - ich wäre kläglich gescheitert, wenn ich nicht einen Beruf gewählt hätte, dessen Ausübung Ambivalenzen zulässt. Und Desaster.
Ich lese das durchaus mit Erleichterung, dass Zorn nicht generell eng machend wirkt, und wollte das auch nicht als etwas Objektives verstanden wissen. Meine Erfahrung ist die der Enge, weil ich Zorn vornehmlich in Ohnmacht transformiere, bevor er wirklich ausbricht. Ich wünschte es wäre anders und davon zu lesen, dass es sich anders anfühlen kann, macht mir Mut, dass auch in meinem Körper und Leben Platz ist/sein wird, für einen befreienden und leidenschaftlichen Zorn.
AntwortenLöschen@Phyllis Zu den Zweifeln (am Körper und weiter...) habe ich ein Gespräch (Post von heute Mittag) mitgeschrieben. Eine Antwort ist das nicht. Denn ich habe keine.
AntwortenLöschenLiebe Melusine,
AntwortenLöschenEs ist ja immer interessant - wenn ich denn Zeit bzw. keine Zeit aber Widerstand gegen Effizienz-Logiken habe - hier Nachlesen zu lesen. Die unterschiedliche Reaktion auf die Weiblichkeitsfragen kommt m.E. aus unterschiedlichen Bewegungsrichtungen, die Ähnliches aber nicht das selbe (emotional) wollen:
Die Einengungen von Männlichkeits- und Weiblichkeitsanforderungen dadurch zu unterlaufen, indem man die kulturellen Konstrukte unendlich erweitert und dadurch entmachtet, ohne Zweigeschlechtlichkeit angreifen zu müssen.
Oder:
Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen als kulturelle Muster zu begreifen. Also das als männlich bzw. weiblich zu lesen, was kulturell als solches definiert wird (mit allen Unschärfe-Momenten darin) und insofern Bäume-Klettern oder Fußball-Spielen oder Durchsetzung durch Wut etc. als männlich konnotierte Praxen zu lesen.
Ich bin mit ersterer Variante aufgewachsen, habe mich aber aus für mich guten Gründen später für die zweitere entschieden. Sie scheint mir transparenter, während für mich die erste Grenzen, an die ich gestoßen bin, individualisiert hat und nicht als Ergebnis der Reibung meines Verhaltens mit Geschlechtervorstellungen erkennbar sein lassen hat. Weil, wenn alles weiblich ist, was ich als Mädchen mache, dann können nicht näher definierte Befremdungsgefühle anderer ja nicht daran liegen. Das könnte ich jetzt noch weiter ausführen, ist mir für hier aber zu lang und vielleicht auch zu intim.
Fortsetzung folgt wegen Zeichenzahl-Begrenzung.
Fortsetzung wegen Zeichenzahl-Begrenzung
AntwortenLöschenIch habe für mich ein analytisches Herangehen der Analyse kultureller Muster als hilfreicher erkannt. Was im übrigen in meinem Fall nix dran ändert, mich als Frau zu fühlen und das auch gerne zu sein. Was mich dann wiederum aber auch nicht daran hindert, destruktive weibliche Muster in mir zu erkennen, ebenso wie destruktive männliche Muster. Und gleichzeitig auch Ressourcen aus beiden Clustern, die ich habe oder von denen ich gerne mehr hätte.
Der Vorteil der anderen Herangehensweise liegt in einem Widerstand gegen kulturelle Definitionen, darin der Mehrheit die Macht zu nehmen, zu definieren, ob ich diese oder jene Praxis als weiblich empfinden darf. Allerdings liegt die Gefahr nahe, der Mehrheit/Wissenschaft dafür die Macht zuzusprechen, zu definieren, welcher Körper ein weiblicher oder ein männlicher ist/sein darf. Und vielleicht ist diese Strategie in ihrer Befreiungskraft wirksamer als die Zurückweisung von Zweigeschlechtlichkeit, die, wie auch hier, Leute immer wieder eher als Raub denn als Befreiung empfinden. Vielleicht ist sie, mit anderen Worten, anschlussfähiger, leichter vermittelbar und weniger beängstigend.
Der Nachteil liegt m.E. darin, dass die Macht genau dieser zweigeschlechtlichen und heteronormativen Kultur verkannt werden kann, jedenfalls schwerer benennbar ist, und darin, dass dann noch unverständlicher wird, warum Menschen eben nicht Mann oder Frau sein wollen oder können, wo es doch frei interpretierbar ist. Und dass in meiner Erfahrung die gesellschaftlichen Vorstellungen aus der Idee, was weiblich und männlich sei, nur in den allerseltensten Fällen herausdividierbar ist. Wenn ich frage, ob Fußball oder Ballett männlicher sei, wird nur ein Bruchteil - selbst der auch in dieser Richtung offenen Menschen - mit "egal" oder "Ballett" antworten. Umdefinitionen sind also schwierig. Auch liegt ein Problem darin, dass es dann doch einen Zwang zur eigenen Geschlechtlichkeit gibt oder so was wie einen wahren Kern, demgemäß alle entweder weiblich oder männlich sind, es also eine Form vorgelagerter Identität gibt, die mein Geschlecht bestimmt - körperlich oder mental oder wie auch immer - unabhängig von meinen konkreten Praxen, Vorlieben etc.
Das soll keine Körper-Seele-Unterscheidung stützen, vielmehr die Möglichkeit eröffnen, einen jeden Körper als weiblich, männlich, genderqueer oder noch ganz was anderes zu empfinden, zu erleben, ihn als Teil des eigenen ver- oder entgeschlechtlichten Selbstkonzepts wahrnehmen zu können.
Hm, so viel zu meinen Bemühungen zu fassen, weshalb meine Definitionsentscheidung in Richtung B geht. Fazit ist jedoch, dass alles überhaupt und gar nicht einfach ist und beide Herangehensweisen Stärken und Schwächen haben.
Insofern wünsche ich einen schönen Abend und bin gespannt auf die eine oder andere Antwort :-)
cazou
P.S.: Neben meiner persönlichen Definitionsentscheidung soll die Übung aber gerade auch die Möglichkeit eröffnen, die unterschiedlichsten Selbst- wie Weiblichkeits-Definitionen in den Raum stellen zu können. Sie soll dabei das vermeintlich Selbstverständliche ent-selbst-verständlichen und in einen Auseinandersetzungsprozess damit führen. Was sie nicht soll, ist persönliche Selbst-Definitionen abzuwerten. Was sie schon soll, ist fälschliche Fremddefinitionen entmachten.
AntwortenLöschenMehr- und Minderheitenverhältnisse (dieses Mal so herum, sonst sehr häufig andersherum) können dabei immer das Aussprechen der eigenen Position erschweren. Ein grundsätzliches Problem bei solchen Übungen...
So, jetzt wirklich back to work...
"Das soll keine Körper-Seele-Unterscheidung stützen, vielmehr die Möglichkeit eröffnen, einen jeden Körper als weiblich, männlich, genderqueer oder noch ganz was anderes zu empfinden, zu erleben, ihn als Teil des eigenen ver- oder entgeschlechtlichten Selbstkonzepts wahrnehmen zu können." - Das unterschreibe ich sofort. Nur: Mich selbst kann ich so (als willentlich wählend) nicht wahrnehmen. Weil die Frage, welche "Variante" ich wähle, eben in Wahrheit sich nie gestellt hat. Die Frage, ob ich mich als Frau wahrnehme, ist keine, die ich willentlich entscheiden kann. Ich kann allenfalls so tun als ob. Aber genau das (wozu ich mich in anderen Fragen früher gezwungen habe) möchte ich nicht mehr: Freiheiten voraussetzen, die (für mich) gar nicht bestehen. Ich möchte vielmehr das, was ich - unkonstruiert ? - bin, bejahen (das bedeutet z.B. auch mich nicht mehr genderneutral zu kleiden, was ich früher getan habe). (Als Vergleich: Sicherlich kann man analysieren, warum eine sich wie in wen verliebt. Alles Konstrukte, Imaginationen, sicher. Dennoch empfinde ich die Liebe als etwas Magisches, Urtümliches, das nicht konstruiert und nicht "gewählt" ist. So ähnlich empfinde ich auch mein Frausein. Als etwas Magisches, das nicht in der Addition von Konstrukten aufgeht.---Diese "Illusion", besser: Vision möchte ich erhalten. Verstehst du das? Ich fürchte manchmal, dass die "Aufklärung" über die Geschlechter uns letztlich ganz ernüchtert zurück lässt.)
AntwortenLöschenIch lese gerade wieder die Texte von "Diotima" (siehe den Post über "Liebe und Gehorsam" - und zumindest gegenwärtig kann ich mich darin besser wiederfinden als - zum Beispiel - bei Judith Butler et.al.
Herzliche Grüße
- und ich freue mich darüber, diese Fragen so ehrlich -und auch so kontrovers - "besprechen" zu können. Sie treiben mich ja um, sonst schriebe ich nicht darüber. ( Mein Kopf versteht etwas, was meinem Gefühl völlig fremd bleibt. - Und ich möchte einen Weg finden, beides zu intergrieren.)
Melusine
Ich finde gerade ein Zitat von Vilém Flusser, der besser ausdrücken kann als ich, was ich meine:
AntwortenLöschen"Denn charakteristisch für die Geste des Liebens ist ja gerade, dass man sie nicht wollen kann, das sie in der Aufgabe des Willens mündet. Man muss sich, wie die englische Sprache andeutet, in die Liebe fallen lassen. Die Geste des Liebens ist nicht im Programm einbegriffen, sondern führt aus dem Programm heraus und kann daher nicht selbst programmiert werden. Seltsamerweise aber bedeutet das nciht, dass die Geste häufigere Folge eines Sichgehenlassens als Folge eines Sichdisziplinierens wäre. Denn die Geste des Liebens ist an Beschränkungen, an das, was ´Treue´ genannt wird, gebunden."
- Die Idee könnte sein, das Frausein als eine Geste zu begreifen - die an Beschränkungen gebunden ist. Denn es besteht eben eine Differenz zwischen dem "Frausein" und dem "Frau spielen", also zwischen Gender und Travestie; diese Differenz muss eben nicht moralisch gedeutet werden und sie ist nicht an das biologische Geschlecht gebunden. ---Aber das ist ein unausgereifter Gedanke. Was mir am Begriff der Geste gefällt, ist, dass er den Determinismus überschreitet, ohne - wie der des Konstruktes - alles der Berechenbarkeit (die Statik der Konstruktion) zu unterwerfen. Das Moment der Magie im Schau-Spiel.
Oh, ich glaube, da haben wir uns missverstanden, bzw. wir haben einen unterschiedlichen Begriff von Konstruktion. Ich meine, wenn ich von Konstruiertheit von Geschlecht spreche, in etwa das, was Maihofer in Anschluss an Butler als Existenzweise beschreibt (hast Du sie gelesen? "Geschlecht als Existenzweise", ich glaube 1995). Oder auch was Bourdieu mit Habitus fasst. Also dass Konstruktionen höchst wirkmächtig sind und mittels Subjektivierung in Persönlichkeiten gerinnen. Andersherum: Das Persönlichkeiten eine Mischung aus unterschiedlichsten gesellschaftlichen Einflüssen, Erfahrungen, Diskursen, materiellen Bedingungen etc. plus wohl ein Stück Individualität sind. Dass also die Gesellschaft nicht einfach aus dem Subjekt zu nehmen ist. In diesem Sinne glaube ich an nur sehr geringe individuelle Entscheidungsspielräume, deren Größe auch nach den unterschiedlichsten Faktoren variiert. An diese glaube ich dann allerdings schon.
AntwortenLöschenIn diesem Sinne gibt es für mich keinen Widerspruch dazwischen, etwas wirklich zu sein und es dennoch als (materialisiertes) Konstrukt - also als Ergebnis eines fortwährenden Konstruktionsprozesses zu begreifen.
Freiheiten entstehen für mich - neben vielen anderen Aspekten - darin, den Konstruktionsanforderungen die Macht zu nehmen. Das heißt nicht, das nicht mehr sein zu dürfen, als was ich mich fühle und empfinde. Es heißt schon, Unterschiedliches auch auszuprobieren, eine Freude am Experimentieren zu entwickeln, und ich glaube, es kann hilfreich sein, (immer mal wieder?) eine Weile Gegennormen zu leben, eher kollektiv als individualisiert, um überhaupt eine Erfahrungsbasis dafür zu haben, was mir gut tut und was alles ich sein kann, könnte, oder werden möchte.
Es heißt für mich keinesfalls, ich möchte fast sagen: keinstenfalls ;-), die Dinge nicht mehr tun zu dürfen, die mir Freude, Genuss etc. verleihen, die Kleidung nicht mehr tragen zu dürfen, in der ich mich wohl fühle, die Personen nicht mehr lieben zu dürfen usw., bzw. mich dafür schuldig zu führen. Ich glaube, das ist das "beliebteste" Missverständnis rund um die Idee der Konstruktion, weil sie nicht einfach zu verstehen ist und weil es eben darum geht, vermeintliche Gewissheiten dem Schleier des Selbstverständlichen zu entziehen, was Angst und Bedrohtheitsgefühle oder Selbstüberforderung auslösen kann, wo dann schnell der größtmögliche Verlust/Raub unterstellt wird.
Schon wieder die Sache mit der begrenzten Zeichenzahl... Also Fortsetzung folgt... ;-)
Und hier die Fortsetzung:
LöschenWas genau meinst Du mit der Geste und worin siehst Du den Vorteil des Begriffes vor dem des Konstrukts? Mir kommt - ich denke genau andersherum wie Dir - Geste viel voluntaristischer vor als Konstrukt. Ein Konstrukt ist ein Bauwerk, da kann ich nicht von jetzt auf gleich einfach ein neues Hinzaubern, wie bei der Geste, ein Abriss ist immer auch mit einem Verlust verbunden, ein Anbau erhält das Alte, ergänzt es aber, ein Teilabriss kann alles ins Wanken bringen, aber gleichzeitig neue Möglichkeiten schaffen, auf das Grundstück passt gar nicht jede denkbare Wunschform, dafür muss u.U. am gesamten Umfeld etwas geändert werden, desto gewachsener das Bauwerk ist, desto schwieriger werden Veränderungen etc. Noch bevorzuge ich den Begriff des Konstrukts.
Zur Liebe und zum Vergessen: Ich glaube, all diese Konstrukte werden darüber so wirkmächtig, dass wir den Konstruktionsprozess vergessen, um überhaupt handlungsfähig zu sein. Ich denke, dass Liebe gleichermaßen allmächtig und mitreißend sein kann und dennoch erst so funktionieren kann, weil ich in dieser Gesellschaft die bin, die ich in dieser Gesellschaft und mit all meinen persönlichen Erfahrungen geworden bin. Und doch enthält für mich das Verlieben immer auch Momente der bewussten Entscheidung, aber das kann persönlich und nach Situation auch sehr variieren.
Darüber hinaus denke ich, können Freiheit und Sich-Fallen-Lassen Widersprüche sein, weil sich-fallen-lassen häufig das Vergessen anderer Möglichkeiten und Problematiken voraussetzt. Andersherum kann es eine große Freiheit sein, sich fallen lassen zu können. Noch so ein Widerspruch.
Sei lieb zum Abend gegrüßt. Auch ich schätze unsere Austausche, auch wenn mir häufig mal die Zeit dafür fehlt. Bis bald :-)
Liebe Cazou,
AntwortenLöschenja, Maihofer habe ich gelesen. Ich verstehe auch - gerade über die Lektüre von Bourdieu, die für mich sehr wichtig war -, dass Konstrukte gerade dadurch wirken, dass sie sich in uns einschreiben bis hinein in unsere Körpersprache. Ich ziehe auch gar nicht in Zweifel, dass alles, was wir sind, Ausdruck tiefgreifender, langwährender und wirkmächtiger historischer und sozialer Prozesse ist (also das, was gern im Begriff der "Natur" gefasst wird, eine Fiktion ist).
Mich stört (der Ausdruck ist im Grunde zu stark) etwas anderes an dem Begriff, nämlich die Konnotation mit "Bauteilen", also auch mit der Idee der "Dekonstruktion" (die natürlich politisch sehr wichtig ist), der Zerlegung in Einzelteile. Mich erinnert das an meine Auseinandersetzung mit Hogarth, der eben an seiner "Analysis (in der ersten deutschen Übersetzung sehr schön: Zergliederung) der Schönheit" scheiterte, weil die Schönheit, wie er erkannte, sich nicht aus Einzelteilen, sondern aus der Bewegung (movement) ergibt. So ähnlich ist mein Gedankengang hier.
Dein Einwand gegen den Begriff "Geste" leuchtet mir ein. Es ist schwierig, den Gedankengang Flussers hier in Kürze wiederzugeben. Es geht ihm mit der "Geste" um einen Ausdruck "für den es keine zufriedenstellende Kausalerklärung gibt". Genau darauf käme es mir auch an: Die Idee, dass einige unserer Ausdrucksformen für uns bedeutend sind, ohne dass sie nach dem Prinzip von Ursache und Wirkung erklärt werden können (oder - in einer anderen Terminologie - als Konstrukte dekonstruiert). Geschlecht wäre dann eine Ausdrucksform, also etwas das Nichts ist, wenn wir es nicht mit Bedeutung aufladen. Dabei wäre es - wenn ich Flusser recht verstehe - nicht so, dass die Geste unserem Willen beliebig unterworfen ist. Aber sie drückt unsere "Gestimmtheit" aus.
Was diesem Ansatz auf den ersten Blick fehlt (- und vielleicht auch dir?), ist das Potential, ihn für eine politische Kritik an bestehenden Verhältnissen fruchtbar zu machen, weil er nicht soziologisch begründet zu sein scheint. Flusser versucht dies einzuholen, indem er "volle" und "leere" Gesten beschreibt. "Volle" sind solche, die nicht erschöpft sind, "leere" solche, die zur Erstarrung führen. Es geht Flusser um Freiheit: die Befreiung aus dem Zwang zu "leeren Gesten", das "Masken wenden" - d.h. auch um ein emanzipatorisches Projekt, jedoch jenseits, wenn du so willst, des aufklärerischen Diskurses, der auf Analyse setzt (und an den Butler et.al. anschließen, denke ich), sondern sich sozusagen "tanzend" der Zwänge entledigt. Tatsächlich ist die Geste bei Flusser (da trifft deine Kritik des Voluntarismus) Ausdruck einer Freiheit. Jedoch glaubt er, dass wir uns erst wirklich befreien können, wenn wir uns der Technik der Geste bewusst werden - in der Bewegung.
Das ist alles noch sehr ins Ungenaue formuliert. ---Ich freue mich auf das nächste Treffen, das gemeinsame Denken, Ringen, Vorwärts- und Zurücktasten...
Gute Nacht
Melusine