Freitag, 13. Januar 2012

Dritter Advent (1): KÜSS MICH (10. Folge von Frauensachen)

Fortsetzung der Serie:  FRAUENSACHEN. Vier Frauen, Sex und der Tod


Am dritten Advent war Elkes Wut auf Gabi verraucht. Sie fühlte sich schuldig deswegen, weil es ihr schien, als gebe sie mit der Wut den Widerstand gegen Judiths Sterben auf. Auch kam es ihr wie ein Verrat an der Freundin vor, die noch nicht ihren Frieden gemacht hatte.


Elke öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Judith war wach. „Ich freue mich, dass wir heute  mal wieder alle vier zusammen sein werden.“ „Ja, ich auch.“ „Trotz des Streits mit Gabi?“ Elke setzte sich zu Judith auf die Bettkante. „Ich war sehr wütend auf sie. Und plötzlich ist es weg.“ „Sie mag ihn sehr, meinen Mann.“ Judith lächelte. „Vielleicht zu sehr.“ „Was meinst du damit?“ Daran hatte Elke noch nie gedacht. „Es ging mir öfter auf die Nerven, wie sie von ihm schwärmte. Mr. Perfect hat sie ihn genannt. “ „Das ist mir nie aufgefallen. Vielleicht, weil ich ihn immer so langweilig fand.“ Judith knuffte Elke in die Seite. „Das ist gemein. Mir hast du das nie gesagt.“ „Wo denkst du hin? Eisernes Freundinnengesetz: Kein schlechtes Wort über den aktuellen Lover.“ „Er war aber ziemlich lange aktuell.“ „Eben.“ Judith lachte, so laut es eben noch ging. „Was ist mit dem Rosenfreund?“ „Vorbei.“ „Er ruft aber dauernd an.“ „Er ist schwer gekränkt. ´Bisher habe ich immer Schluss gemacht mit den Frauen.´, hat er gesagt. Er ist ein Kind.“ „Du hast ihn sehr lieb.“ Elke lächelte, während sie die Decke glatt strich. „Das stimmt. Ich glaube, ich habe noch nie so ein sanftes Gefühl für einen Mann gehabt.“ „Vielleicht könnt ihr ja beste Freunde werden.“ „Das hoffe ich. Er wird mich brauchen. Noch oft.“ „Ein Ersatz? Für mich?“ Elke zuckte zusammen. „Das war fies.“ „Entschuldige. Ich bin noch nicht drüber weg. Über die Bitterkeit.“ Elke presste Judiths knochigen Körper an sich. „Geh nicht.“, flüsterte sie. „Will ich nicht.“ Judith wischte sich mit dem Handrücken die Nase. „Tut mir leid. Scheiße.“ Elke schaute sie an. „Wir sind noch nicht fertig.“ „Ich sehe schrecklich aus.“ „Das stimmt leider.“ „Hilf mir, mich hübsch zu machen.“  

Das war neu.  Seit sie bei Elke wohnte, hatte Judith auf Make up verzichtet. Sie trug meistens eine Jogginghose und ein Sweatshirt. „Ich will gut aussehen heute Nachmittag. So gut wenigstens, wie es geht.“ „Make up? Kleider?“ Elke holte den Rollstuhl aus der Nische. „Komm.“ Judith ließ sich vorsichtig in den Stuhl gleiten und richtete sich auf.

Elke stellte sich hinter sie und strich ihr durch die kurzen, dunklen Haare. „Wie lockig die sind.“ „Ich habe immer viel Zeit darauf verwendet, sie glatt zu ziehen.“ „Ich finde, es sieht hübsch aus. Ich könnte es ein wenig in Form schneiden, willst du?“ „Oh ja.“ Elke holte ihre Schere und zwei Handtücher. Eines legte sie hinter den Rollstuhl auf den Boden und das kleinere Judith um die Schultern. „Ein bisschen komisch ist das schon, nicht in den Spiegel gucken zu können.“ „Vertraust du mir?“ „Was bleibt mir übrig? So viel kannst du ja nicht mehr verderben.“ „Blöde Kuh. Ich kann das.“ „Fang an.“ Elke stellt sich vor Judith, zupfte an deren Haaren, zog Büschel in die Länge, schnippelte hier und da ein wenig. „Bitte lass es uns auch waschen.“ „Na klar. Du sollst schimmern und duften. Lass mich nur nachschauen, ob es im Bad warm genug ist.“  Judith wartete. Sie mochte den Druck von Elkes schlanken, kräftigen Fingern auf ihrem Kopf. Wenn die Freundin ihr hinterm Ohr entlang strich, fühlte sie wohlig eine Gänsehaut über ihre Arme schaudern. „Ist in Ordnung.“ Elke war zurück und schob den Rollstuhl ins Bad.  „Wir machen es über der Badewanne. Kannst du dich so vorbeugen?“ „Geht schon.“ Das Shampoo roch nach Kirschblüten und Judith fühlte sich eingehüllt in eine Illusion von Frühling.  Elke schlang ihr das Handtuch um das Haar und rubbelte sie zärtlich. Judith streckte den Händen ihren Hals entgegen und schnurrte. „Ich knete dir ein wenig Stylingshampoo hinein und dann föne ich es ganz strubbelig.“

Als sie fertig war, betrachtete Elke ihr Werk zufrieden. „Schon viel besser.“ „Lass mich schauen.“ Judith wollte sich aufrichten, um in den Badezimmerspiegel zu blicken. „Nix da. Du wartest, bis ich fertig bin. Elke öffnete ihren Kosmetikkoffer. „Dass du das noch nie zuvor für mich gemacht hast.“ „Du hast mich nie gefragt. Und ich dachte auch immer, es interessiert dich nicht genug.“ „Deine Arbeit? Ich war immer beeindruckt von den Masken, die du geschaffen hast.“ „Ja, ich weiß. Seit ich für Theater und Film arbeite. Aber früher habt ihr doch alle gedacht, ich verschwende meine paar Talente als Kosmetikerin und Stylistin.“ „Hast du das geglaubt? Dass ich das denke?“ „Hast du nicht?“ „Nein, ich fand es mutig, wie du dich durchgesetzt hast. Einfach das gemacht, was du wolltest.“ „Hast du doch auch.“ „Meine Wünsche passten aber besser zu den Vorstellungen meiner Eltern.“ „Ja, darin warst du schon immer geschickter als ich: Wünsche zu haben, die erfüllbar sind.“ „Einige haben sich nicht erfüllt – und werden es auch nicht mehr.“ Elke strich der Freundin über die Schultern. „Was noch geht, werde ich versuchen.“ „Ich weiß.“ Während des Gesprächs trug Elke eine Grundierung auf Judiths Haut auf, strich mit einem zarten kleinen Pinsel über Augenlider und Brauen, um verschiedene Farbtöne aufzutragen, mit einem kleinen Schwämmchen verwischte sie Rouge auf den Wangen. „Und ein Finish mit dem Kristallpuder. Lippenstift?“ „Entscheide du. Aber vorher habe ich noch einen Wunsch.“ „Ja?“ „Küss mich. Einmal. Richtig.“ Elke schluckte. Dann kniete sie sich zu Judiths Füßen und nahm deren Kopf zwischen die Hände. Judith  schloß die Augen. Wie einen Hauch fühlte sie Elkes Lippen auf den ihren. Sie öffnete den Mund ein wenig und Elkes Zunge tastete sich vor. Es wurde ein langer Kuss und ein schöner. Als sie sich von einander lösten, mussten sie beide lachen. „Das wenigstens habe ich nicht verpasst.“, sagte Judith. „Ich liebe dich.“ „Ich dich auch.“ Elke trug den Lippenstift auf.  „Du siehst gut aus.“ „Lass mich sehen“. Elke holte einen Spiegel aus dem Wandschrank.  Es war ein neues Gesicht, das Judith anschaute: Schmal, durchscheinend, mit übergroßen Augen, aber nicht erbarmungswürdig blass und krank. „Danke.“  „Das Goldpuder heben wir für Weihnachten auf.“ Das war ein Versprechen, verstand Judith. „Ich habe an das grüne Kleid gedacht. Der Stoff ist weich und bequem, trotzdem sieht es schick aus.“ „Und der Schnitt sorgt für die Kurven, die mir fehlen.“ Elke legte ihren Mund für einen Moment in Judiths Haar. „Du wirst schön sein.“

Sie schob Judith zurück ins Wohnzimmer. „Wartest du einen Augenblick, damit ich mich auch zurecht machen kann? Dann helfe ich dir mit dem Kleid.“ In ihrem Schlafzimmer nahm Elke ihr Blackberry aus der Tasche und schickte SMS an Manuela und Gabi: „Macht euch schön. Wir feiern.“ Sie war nicht sicher, ob die Nachricht die beiden noch rechtzeitig erreichen würde. Egal, Gabi war sowieso immer schick. Judith in ihrem Rollstuhl im Wohnzimmer legte den Kopf in den Nacken und räkelte sich. Ich will nicht sterben. Aber wenn es schon sein muss, dann halt so. 

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