Fortsetzung des Brief- und Blog-Romans "PUNK PYGMALION", bisherige Folgen: hier:
Wieder und wieder lese ich die letzten Briefe Ansgars, die er aus jener Hütte schrieb, die er im Bergland hinter Barcelona gemietet hatte. Er drängte Emmi immer heftiger, endlich zu ihm zu kommen. Er hatte sie schon Anfang Juni, als er sie zu Hause bei uns besuchte, mitnehmen wollen gen Süden. Warum sie nicht mit ihm gefahren war, verstand er nicht. Auch mir bleibt es ein Rätsel. Ich sehe Emmis ausdruckslose Augen auf mich gerichtet, während sie sich fast öffentlich von ihm hinter unserer Dorfdisko ficken ließ. Sie gab sich seinem wilden Begehren willig hin und blieb doch selbst ganz ungerührt. Kein Laut verließ ihren Mund, solange ich da stand. Er aber stöhnte laut.
Ich muss mich daran erinnern, wenn ich diese Briefe lese, dass wir 1984 vielleicht schon mal von AIDs gehört hatten, aber die Krankheit noch keineswegs im allgemeinen Bewusstsein als dauernde Bedrohung verankert war. Von heute aus betrachtet erscheinen Ansgars exzessive Sexorgien mit Männern und Frauen in Barcelona, verbunden mit dem immer wieder geäußerten Wunsch Emmi zu besitzen, unverantwortlich. Damals hat sich das wahrscheinlich anders angehört. Vielleicht las sie darin eine faszinierende Befreiung aus der Prüderie und Scheinheiligkeit, die in unserer kleinbürgerlichen Welt alles Sexuelle umstellten.
EMMI!
Warum antwortest du mir nicht? Ich bin tot, längst schon, und du weißt es. Du weißt es, seit wir meine Leiche gemeinsam an Land zogen. Du musst es nicht länger leugnen. Wir haben es versucht, so zu tun, als hätten wir es nicht gesehen. Ich habe es gehofft, geglaubt daran, dass wir zusammen lebendig werden können, dass ich durch den von dir geraubten Kuss weiter atmen werde.
Ich lasse Körperflüssigkeiten fremder Menschen, die mich irgendwo in den Gassen auflesen, in meinen Leib dringen, gierig sauge ich sie auf, um mich wenigstens kriechend bewegen zu können; ich öffne mich hier jeder Versuchung. Ich zeichne mit blutigem Finger die Zeichen an die Wand, damit du mich findest.
Emmi, die Wahrheit über uns ist, dass nur du mich erlösen kannst.
I walked through the city limits
(Someone talked me into it)
Wie ein Zombie bewege ich mich durch diese steinernen Hüllen. Ich kann überall hindurch sehen, wie du weißt. Ich habe gesehen, wie das Blut durch deine Adern pumpt. Ich habe in dein Herz gesehen. Es ist nichts weiter als ein blutiger Klumpen. Auch dein Herz, Emmi, ist nichts weiter als ein Blutklops.
(Had to close my eyes to get close to it)
Ich habe keinen Propheten gefunden, an keiner Ecke, auch das war vergebens. Dennoch bin ich so glücklich wie nie. Die Kämpfe sind zu Ende. NO FUTURE. Es ist nicht länger ein dämlicher Spruch, den wir uns auf die Fahnen schreiben. Ich wehre mich nicht mehr. Nur du fehlst mir. Noch.
Du, Emmi, kannst es mit mir wahr machen. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir haben nichts mehr zu verlieren. Du kommst und wir werden gut sein. Aber bitte, bitte komm endlich.
Erinnere dich an mein Gesicht. Verleugne mich nicht. Schließ die Augen und sieh mich. Komm.
I have no time to waste. NO TIME.
TIME OUT. „Doch alle Lust will Ewigkeit.“
DEIN Ansgar
(Dein!)
In der kommenden Woche werde ich wieder nach Berlin fahren. Alles hatte in Berlin angefangen: Emmi und Ansgar am Kanal im Sommer 1983, Emmi und ich in der Kneipe im Herbst 2010. In Berlin studiert jetzt Ansgars Sohn und Emmi wurde mit ihm gesehen, ließ sich von ihm auf der Straße in St. Ambroise in den Schritt fassen wie eine billige Schlampe. Die junge Frau, die ich im Sekretariat der Kunsthochschule traf, schwärmte beinahe von Lars, beziehungsweise von den Skulpturen, die er nach den Vorlagen seines Vaters in Stein haut. Aber als sie von Emmi sprach, drückten ihre Züge Verachtung aus. Bist du in Berlin, Emmi? Bei dem Sohn deiner großen Liebe, den du dir nach seinem Vorbild geschaffen hast? Welche Erlösung hast du Ansgar verschafft? Was hast du gesehen? Etwas war da am Kanal, das dich anzog und abstieß, dass ihn dich fürchten und wollen ließ, dass ihn an den Rand trieb und mit sich reißen wollte. Was war da? Bin ich dir jetzt auf der Spur? Wirst du mir antworten? Oder hast du dich davon gemacht, längst schon? Ich werde Lars´ Skulpturen in der Galerie anschauen, vielleicht werde ich Ansgars Sohn sogar anrufen und mich mit ihm treffen. Hast du davor Angst, Emmi?
Ich habe Angst.
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