Freitag, 24. Februar 2012

DAS LEERE "O" DES HERMENEUTIKERS (Georg Christoph Lichtenberg benachrichtigt, betrachtet und träumt)

Er machte sich immer einen Spaß draus, wenn er es ernst meinte. Dahinter steckte auch Feigheit, denn er wusste , dass man am Ende nicht mit ihm, sondern über ihn lachen würde, hätten man ihn verstanden. Sein Platz blieb hinter Gardine. Aber in seinem Fensterkino sah er genug von der Welt, um nicht an ihre Lesbarkeit zu glauben.

Er gab mit dem „Göttinger Taschen Calender“ ein Magazin vermischten Inhalts heraus: neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse, technische Fortschritte, kulturelle Ereignisse, Buch- und Bildbesprechungen, alles für den interessierten Laien aufbereitet. Einer kurzen Nachricht über eine Walrat-Fabrik ließ er „Einige Betrachtungen über vorstehenden Aufsatz nebst einem Traum“ folgen. Nachricht, Essay, Traum-Erzählung. Die Botschaft, die der Dreiklang vermitteln will, so scheint es zunächst, ist einfach: eine bloß „chemische Analyse“ der Welt geht am eigentlichen Erkenntnisauftrag, das Welt-Buch zu verstehen, vorbei. Der Welt-Geist macht den eifrigen Naturwissenschaftler, der hier träumt, auf seinen Irrtum aufmerksam; dieser erwacht „unbeschreiblich bewegt.“

So weit, so gut: Nicht zerglieder, sondern verstehen. Der Hermeneutiker fühlt sich bestätigt. Gemach. Der Herausgeber des Magazins ist der Göttinger Physik-Professor Georg Christoph Lichtenberg. Wer ganz genau liest, muss feststellen, dass die schöne Offenbarung des Welt-Geistes im Text tatsächlich als Leerstelle, als leeres „O“, markiert ist.

Als ich einen Augenblick nachdachte, wurde es auf einmal helle in meinem Kopf und mit dem Licht stieg unüberwindliche Schamröte auf. O! rief ich lauter und lauter, Ich verstehe, ich verstehe! Unsterbliches Wesen, O vergib mir, ich fasse deinen gütigen Verweis! Dank dem Ewigen, dass ich ihn fassen kann.“

Tatsächlich bleibt vom enthusiastischen Ausdruck des Eindrucks einer Offenbarung, der sich beim ersten Lesen einstellen mag, am Ende nichts übrig.

Die Walrat-Fabrik und ihre Produktpalette führen den Autor zum Nachdenken über die Vergänglichkeit des Leibes, der zurück an die „mütterliche Erde“ fällt.  Die Nutzbarkeit des Walrats ergibt sich aus den Umwandlungen, den Metamorphosen, des Naturstoffes. Ohne eine solche Metamorphose, so denkt sich der Analogist, kommt auch der Forscher nicht auf jene „andere Seite des Vorhangs“, nach der es ihn drängt, wo er den Ursprung allen Seins vermutet. Er stellt sich die gegenläufigen Metamorphosen von Körper und Geist im Bilde eines Elternpaares vor. Der Körper verwandelt sich in anorganische Materie, während der Geist sich nach seiner Umwandlung der Offenbarung öffnet. Der Abstieg in die Flöze der Erdschichten, in den Schoß der Mutter, ist durch die unzulängliche, aber verlässliche Chemie verbürgt, den Aufstieg in höhere Sphären verspricht ein erträumter Gott-Vater, über dessen Zuverlässigkeit noch zu reden sein wird.

In Lichtenbergs Traumerzählung wird durch eine Umkehrung der Größenverhältnisse zwischen Mensch und Erde das naturwissenschaftlich-analytische Verfahren auf den gesamten Erdball ausgedehnt. Der eifrige Naturwissenschaftler will die so praktisch verkleinerte Erde auf ihre endlichen, organischen Bestandteile hin untersuchen. Sein analytisches (zergliederndes) Verfahren zerstört jedoch notwendig den Untersuchungsgegenstand.  In der übersteigerten Anmaßung des Träumers wird so die herrische Tendenz aufgeklärten Denkens sichtbar. Beim zweiten Versuch, den dem Träumenden gnädig ein göttlicher Rauschebart gewährt, will er „die Berge und Flöze untersuchen bis zur Entwicklung des Keims, bloß der Revolutionen wegen.“ Doch der gute Geist bedeutet ihm, dass das Wissen um die Entstehung der Welt dem Menschen vorenthalten bleibt. Die gewonnene Einsicht in die Unzulänglichkeit chemischer Analyse ohne Rücksicht auf die Entwicklungsgeschichte führt den Traumforscher nicht weiter. Statt die Möglichkeit vertiefter Erkenntnis zu eröffnen, wird, was als lohnende Erkenntnis überhaupt erst gelten kann, gänzlich aus der Sphäre menschlich-endlichen Denkens in ein unfassbares Jenseits verschoben.

Der „verklärte Alte, dessen Ansehen mich mit etwas viel Höherem als Respekt“ erfüllt und der dem Forscher „Andacht und Vertrauen“ einflößt, dieser „Überirdische“, ist in Wahrheit ein Verführer und Betrüger. Er ist es, der den träumenden Wissenschaftler dazu verleitet, die Erde zu zerstören. Am Ende reicht er ihm einen Beutel statt eines neuen Probestückes, in dem der Träumer ein Buch findet. Auf das Titelblatt sind die ironischen Worte geschrieben: „Dieses prüfe, mein Sohn, aber chemisch, und sage mir, was du gefunden hast.“ Der Träumende ist nicht blöd und erkennt die pädagogische Absicht. Die Einsicht nutzt ihm indessen nichts. Denn der Göttliche hat ein Buch hinterlassen, dessen Schrift nicht zu lesen ist. Der Naivität des Träumers, der sich von Irrtum zu Irrtum vorantastet, stellt Lichtenberg die überlegene Ironie des Geistes gegenüber, der sich über sein „Geschöpf“ amüsiert.

In diesem Widerspruch zwischen warmherziger Erscheinung des Geistes und seinem abweisenden Verhalten wird er als Projektion des Träumers selbst erkennbar. Schon in den einleitenden Worten hatte Lichtenberg aufmerksame Leser:innen darauf hingewiesen: Er wolle einen „ganz ärgerlichen Traum erzählen, ...den ich hatte.“ Im „Traum“ selbst ist eine weitere Spur gelegt: „Es war mir“, schreibt er über den Saal, den der Geist dem Träumer zur Verfügung stellt, „als wäre ich öfter da gewesen, und ich fand, was ich nötig hatte, so leicht als hätte ich es selbst vorher hingelegt.“

Der Träumer, der sich mit einem Kind vergleicht und der ihm väterlich erscheinende Geist stellen zwei Seiten des menschlichen „Willens zum Wissen“ vor: naives Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten sowie ironische Skepsis und Einsicht in die endliche Beschränkung menschlichen Verstandes. Die Rückschläge des „Traumes“ ziehen den zweifelnden Fragen am Erkenntnisstand in den „Betrachtungen“ eine Grenze und werfen sie auf ihre „Schüchternheit“ zurück. Vorsicht und Vorbehalt werden angemahnt für den Umgang des Verstandes mit dem Unverständlichen, die Suche nach dem Ursprung der Welt und die Festlegung ihres Sinns. Der Rückschlag unmöglicher Anmaßungen rechtfertigt schließlich die möglichen Umgangsweisen mit der Welt. Als solche erscheinen Unterteilen und Ordnen, Berechnen und Messen, Benennen und Deuten.

„Nachricht“, „Betrachtungen“ und „Traum“ lassen sich in der Textfolge als eine Klimax des Verstehens lesen: vom analytischen zum hermeneutischen Verstehen. Dieser Höhenflug der Sinn-Entfaltung wird aber zurückgewiesen. Das „O“ der Offenbarung entblößt diese Leere und verhüllt sie zugleich. Das Buch, das die Welt nur noch bedeutet, ist unleserlich. Der Text kommt daher mit der Offenbarung des leeren „O“ nicht zum Ende: „und darüber erwachte ich.“ Dem wachen Autor ist der Traum „ärgerlich“. Die Entgleisung in enthusiastische „O“s verfällt der Kritik „bloßer Werktags-Prose“. 


Der Schrecken der Leere, die offenbar wurde, wird den Leser:innen des „Göttinger Taschen Calenders“ vom gütigen Autor Lichtenberg nur verdeckt zugemutet. Er suggeriert ihnen noch Sinn, wo er ihnen die unüberwindliche Kluft zwischen Sprache und Welt enthüllt. 

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