Mittwoch, 7. März 2012

ÜBER DIE STIMMEN (und all die anderen Lügen)

I was not looking for my dreams to interpret my life, but rather for my life to interpret my dreams.
Susan Sontag


Als ich erwache, zittert das Traumbild noch für einen kurzen Moment in der Luft vor mir: ein langer Pfad, der sich im Horizont verläuft, umgeben von einer Bunststiftlandschaft, die meine Handschrift trägt. Ich weiß, dass ich ihn gemalt habe und nicht entlang gehen werde. Meine Träume sind stumm und frieren mich ein. Film stills. Erst wenn ich die Augen öffne, beginnt die Tonspur unsynchron zu laufen, hässliche Worte gegen meine Mittelgebirgsidylle: Harmonisierungstendenz, Operatorenliste, Evaluationsbogen. Das Bild halte ich fest. Gegen die Worte wetze ich mein Gedankenschwert. Ich schiebe die Füße über den Bettrand und stemme die Außenseiten der Fersen in den Boden. Bereitschaftsdienstbarkeit. 6:35 Uhr, 6. März 2012. (Das war gestern.)

Tagebuch-Einträge sind in diesem Blog rar geworden. (Dieses hier ist ausnahmsweise schon der zweite in drei Tagen.) Als ich anonymer schrieb, habe ich mehr unmittelbar aus meinem Alltag beschrieben. Seit mein Pseudonym kaum noch verdeckt, wer hier schreibt, gibt es weniger Einträge in dieser Rubrik. Besteht ein Zusammenhang? Das nehme ich an. Es kann nun eher vorkommen, dass ein Kollege, eine Freundin, ein Nachbar, eine Bekannte mitliest – und sich wiedererkennt. Oder eben nicht wiedererkennt, aber meint, dass er oder sie hier bis zur Kenntlichkeit beschrieben werden soll. Ich habe dieses Problem im Blog vor langer Zeit schon einmal diskutiert, als es um einen Tagebuch-Eintrag ging, in dem meine Söhne erwähnt wurden. Denen war nicht recht, wie ich über eine bestimmte Situation geschrieben hatte. Meine Darstellung enthielt keine direkten Lügen. Aber sie zeigte einen Ausschnitt. Es wäre nicht einmal genug zu sagen, dass der Text meine Sicht zeigte. Er zeigte vielmehr eine Sichtweise, die ich möglichen Leser:innen suggerieren wollte. 

Obwohl viele Texte, die ich hier einstelle, schnell entstehen (nicht alle, sehr viele gehen auf jahrelange Überschreibungen zurück), sind sie doch nicht ohne Kalkül. Während ich sie schreibe, lese ich sie gleichsam im Ohr eines imaginierten Lesers mit. Wie klingt das denn? Ich folge dem Kalkül nicht immer. Manchmal wähle ich mit Absicht Formulierungen, die ich selbst nicht (ganz) verstehe, die aber aus Gründen, die ich nicht immer nennen könnte, dichter (blickdichter) sind oder ein anderes Mal auch lichter (durchlässiger, löchriger). Seit ich nicht mehr anonym blogge, schütze ich meine Privatsphäre auf andere Weise: Indem ich seltener zeitnah aus meinem Alltagsleben berichte (meist nur noch von Reisen) und indem ich mehr noch als zuvor weglasse. Ich lüge nie in der Rubrik Tagebuch. Ich lege Deutungen nahe. Diese Nahelegung kann irreführend sein und dies ist gelegentlich sogar Absicht.

Ist das zulässig? Ich lasse Missverständnisse nicht nur zu, sondern führe sie herbei. Aber sie betreffen Bewusstseinsbereiche, Gefühle und Gegenstände, die für mich selbst miss-verständlich und also im Wortsinne ver-rückt sind. Insofern spiegelt die Darstellungsform eine Wahrheit wieder, der sich gerade nicht durch die Wiedergabe von mehr „Fakten“ zu nähern wäre. Allerdings hat dieses Verfahren seine Grenzen. Manches Mal muss gnadenlos gelogen werden, um wahre Sätze zu schreiben. Unter „Auto.Logik.Lüge.Libido“ sammele ich Texte, die autobiographische Authentizität gleichzeitig behaupten und verwerfen. Die Jahreszahlen stimmen. Die Chronologie ist durcheinander gewürfelt. Die Orte sind reale. Die Personen sind Destillate oder Synthesen, das Geschehen ist gerafft, gedehnt, kombiniert, vereinfacht, verdreht. Ich glaube dennoch, dass eine Leserin beim Lesen dieser Texte mehr über mich erfahren kann als durch die Lektüre der Tagebucheinträge. Am nächsten jedoch kommt dem, was in meiner krypto-phantastischen Parallelwelt vorgeht, die jede meiner Regung in der sogenannten realen begleitet, wer  Fabelwesen, Wildermuths Elbin, Wir oder Hörigkeit liest. Das ist, was ich schreiben muss. 
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„Hörst du Stimmen?“, fragte mich vor einiger Zeit eine. In vielen Zusammenhängen hätte diese Frage wie eine Provokation gewirkt oder wie ein Psychotest oder als Unterstellung. Diese Frau sah mich direkt an, als sie mich das fragte. Ich sah in ihren Augen nichts als Neugier. „Ja.“, habe ich geantwortet. Leise. Man traut sich nicht, das laut auszusprechen. Dass die Stimmen immer da sind. Der komische Kauz auf meiner Schulter. Das Geraune im linken Ohr. Der Baß aus dem Bauch. Und all die anderen. Der Gesang und die Donnerschläge. Ich mache die Augen auf und gucke, was los ist. Manche schreiben Klänge auf. Ich muss gegen die Geräusche anschreiben und in die Bilder, die vor mir erscheinen, reingehen. Der Tonfilm kam für mich zu früh.

Identität als Konstrukt zu begreifen, ist in der post-dekonstrukturalistischen Ära, in der wir leben, nicht nur ein alter Hut, sondern in vielen Fällen zur billigen Ausrede Verantwortungsscheuer geworden. Es wird weiterhin notwendig identifiziert, vor Gericht und im richtigen Leben. Geisterfahren und Unfallflucht sind Verbrechen. Wer das ICH abschaffen will, muss die Gefängnisse schließen und die Anstalten ausbauen. Wir wollen alle immer wissen, mit wem wir es zu tun haben, obwohl wir gebildeten Schichten uns gut-freudianisch bewusst zu sein vorgeben, nicht mal Herrin im eigenen Haus zu sein. Ich kenne mich nicht. Aber ich mache mich kenntlich. Ich ist Nicht-ich. Es sind immer die am meisten besessen von Identitäten, die sie am heftigsten verleugnen. Die scheuen Gesichter der Hochstapler, wenn sie im Blitzlichtgewitter abgeführt werden, üben eine seltsame, traurige Faszination aus. Mit seinem ganzen Körper hat er den Anderen gegeben und sich hin. „There´s nothing behind it.“ Eben darum aber geht es: Den Widerhall dieser Geschichten, die aus einer Leere kommen, die keiner wahrhaben will.

(Und zum Schluss noch ein Satz, der sich - ausgeschrieben in schönster Schreibschrift - aus diesem Nichts ins plötzlich aufpoppende Bild einer süffisanten Brünetten mit Pagenkopf drängt, die die rot gemalten Lippen zu einer Sprechblase spitzt: Ich hatte vergessen, wie sehr ich Hal Hartley vermisse.)


3 Kommentare:

  1. Das ist ein Artikel, der mich trifft, einer, der mir viel Stoff zum Nachdenken gibt. Allein dieser Satz: "Ich kenne mich nicht. Aber ich mache mich kenntlich."
    Ich denke viel nach über Identität. Vor Monaten hatte ich anlässlich einer Diskussion einmal begonnen, darüber zu schreiben, aber es dann wieder liegen lassen, ich glaube letztendlich auch nicht, dass ich diesem Phänomen auf die Spur kommen kann, indem ich Fakten sammle. Vielleicht ist Ihr Satz bereits Definition genug. Definition von Grenzen und dem, was außerhalb der Grenzen liegt. Definition von Widersprüchen.

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  2. Liebe Weberin, es ist ein schwieriges Thema, das mich immer wieder beschäftigt. Die uralte Frage: Wer bin ich? (Aber nicht die doofe Fortsetzung: Und wenn ja, wie viele?) Die Sehnsucht EINS zu sein, als solche erkannt zu werden und im anderen EINE oder EINEN zu erkennen, läuft vielleicht immer ins Leere und ist doch Motor für so viel Schönes und Grausames, was wir einander antun.
    Im beruflichen Zusammenhang beschäftige ich mich momentan auch damit - und erreiche immer wieder meine Grenzen. Die Macht, die sich das ICH nimmt, ist gleichermaßen illusionär wie real; die Wirklichkeit dieser Macht entsteht aus der Wirkmächtigkeit der Illusion. Darauf kann man nicht verzichten, aber auch nicht auf das Wissen, dass "eigentlich" nichts dahinter steckt.
    Ach, ich bin immer noch, immer wieder ganz am Anfang mit meinen Überlegungen.
    Herzliche Grüße
    Melusine

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  3. Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.

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