Ein Beitrag von Morel
Simon Reynolds hätte seine alte Zukunft gerne wieder zurück. Er nennt das in einem der letzten Kapitel seiner lesenswerten Abhandlung Retromania Nostalgie nach der Zukunft. Und an dieser Stelle, nach über 300 Seiten, begegnen die Leserinnen dann so interessanten Figuren, wie einem Blogger der sich für den Erhalt brutal-modernistischer Einkaufszentren aus den 60er Jahren einsetzt. Das geht mir eigentlich auch immer so, ausgebildet in einer frisch errichteten brutal-modernistischen Gesamtschule der 70er Jahre fühle ich mich in dem in den 80er Jahren entstandenen Toskanavillen- und Fachwerkhauskitsch nicht zu Hause. Bitte gebt mir meinen Beton, meine grauen Teppichböden und meine offen liegenden Heizungsrohre wieder. Und wenn es geht, noch einige große Fensterfronten mit Blick auf frisch erschlossenes Bauland. Ganz zu schweigen von Flughäfen, Autobahnraststätten und Gewerbegebieten. Aber in Retromania geht es ja eigentlich nicht um Architektur, sondern um das Wichtigste, um Musik. Und um das Unbehagen am immer noch postmodernen Stand der Dinge. So wie die Architektur war auch die Popmusik einmal: überheblich, arrogant und nur an der Gegenwart interessiert. Hope I die before I get old. Oder als Ausstellungsstück im Museum lande.
Reynolds beginnt seine erschöpfende und ausführliche Reise durch die Zitathölle der zeitgenössischen Musik am Ende des ersten Jahrzehnts des 21. Jahrhunderts, also genau jetzt, mit einem Wutausbruch. Wo verdammt noch mal, fragt sich der mit allen Wassern gewaschene Musikjournalist (Melody Maker, Spin, The Wire, London, New York, Los Angeles), bleibt eigentlich das Neue. Alle gehypten Gruppen der Nullerjahre von den Strokes über Franz Ferdinand bis zum Wunderkind Ariel Pink sind nicht wirklich „originell“, sondern mehr oder weniger bewusst zusammenmontierte Rekonstruktionen früherer Kunststile. Aber wer den Ursprung sucht, das weiß auch Reynolds, begibt sich auf eine leicht abschüssige Spirale, die immer tiefer in die Vergangenheit führt, ohne je ihr Ziel zu erreichen. Vermeintliche Originale, die sich bei genauerem Hinschauen als Kopien von Kopien herausstellen. Und das Original ist dann ein unscheinbarer, alter Mann irgendwo in den amerikanischen Südstaaten, den keiner mehr kennt. Es kann nicht „Originalität“ sein, also die Freiheit von allen Einflüssen, die Reynolds seit geraumer Zeit vermisst. Vielmehr ist es die Illusion einer Zukunft, die verloren gegangen ist. Wie kam es zu diesem Schwund an Zukunft?
Das Sympathische an Retromania: Reynolds legt sich nicht auf eine These fest, sondern sammelt Material, spricht mit Retrofreaks, Plattensammlern und Kuratorinnen. Er erzählt auch wie er plötzlich, nach der Geburt seines ersten Kindes, zum Nostalgiker wurde, der von Varese bis Parmegiani die elektronische Avantgarde des 20. Jahrhunderts entdeckte und ihren raren Schallplatten hinterher jagte. Aber am Ende aller B-Seiten muss jemand den Müll runterbringen. Und daher ist Retromania tatsächlich auch eine Kritik der Gegenwart, nicht nur Musikjournalismus. Der Essay geht in einem dialektischen Dreischritt vor. Auf die journalistische Recherche in der Gegenwart (Now), die stirnrunzelnd als unendliches Museum für alle seit dem 2. Weltkrieg aufgenommene Musik durchwandert wird (vom Flohmarkt über den I-Pod bis zum Kuratorenrock) folgt die Erinnerung an die 70er Jahre (Then), als das Zitat zum ersten Mal seinen großen Auftritt in der Popgeschichte hatte. Die Synthese dann im aufschlussreichsten Kapitel Tomorrow: Welche aktuellen Musikstile von Hauntology bis Hypnagogic unterbrechen den ewigen Kreislauf von Verschleiß und Wiederholung, der aus der einst aufregenden und lebensverändernden Popmusik ein dem kapitalistischen Warenzyklus unterworfenes Modeprodukt gemacht hat? Wieso hat sich die Aufbruchstimmung der 60er Jahre so verflüchtigt, als parallel mit dem Wettlauf zum Mond die Grenzen des Hörbaren auch in der Kunstmusik immer weiter verschoben wurden? Das Ende dann naiv voluntaristisch: "I still believe the future is out there."
Einer der Vorgänger Reynolds war Friedrich Nietzsche, der mit seiner Bevorzugung Rossinis gegenüber Wagner die erste Apologie des Leichten und Populären geschrieben hat (wenn auch ironischer Weise dann im 20. Jahrhundert Wagner zum Popphänomen wird). Wie Reynolds hasste Nietzsche die postmoderne Beliebigkeit der "verwöhnten Müßiggänger im Garten des Wissens". Mit ähnlicher Verachtung wie Reynolds sortiert er die Historisten in Monumentalische (die Bewunderer der großen Heldentaten, die wie ich Box-Sets von Dylan und Beatles ihr eigen nennen), die Antiquare (nicht nur das Box-Set, sondern jede Pressung und jeden Bootleg des Meisters oder der Meisterin gilt es zu besitzen) und schließlich die Kritischen, welche die Vergangenheit zerbrechen um etwas Neues anzufangen. Reynolds sehnt sich nun sympathischer Weise nach diesem Bruch, den er zum ersten Mal in seinem Leben in der experimentierfreudigen Musik der Jahre nach dem Ausbruch von Punk erlebte. Diese Zeit konnte man aber auch ganz anders erleben. Nehmen wir diese Sätze, geschrieben 1985: "Die Geschichte von Second Order Hipness ist die Geschichte von Bohemia im Zeitalter maximaler Permissivität. Es ist die Geschichte der ersten Bohemia-Generation, die sich auf eine zweite Ebene begeben musste, um weiter zu kommen...Was damals das Kontinuum des Weiter und Weiter...in der Luft zersäbelte war die Einführung von Historizität als Waffe in den Hipster-Kosmos, und zwar als Waffe unserer Generation gegen die vorangegangene." Für Diedrich Diederichsen, Autor dieser im Kiwi-Taschenbuch Sexbeat erschienen Sätze, bestand der Bruch gerade also im historischen Bewußtsein sekundär zu sein, das offensiv ausgestellt werden muss, um den ewigen Kreislauf von Hype und Revival zu unterbrechen. Die politischen Hoffnungen auf diesen Zitat-Pop sind schnell enttäuscht worden (schon Sexbeat war im Grunde Ausdruck dieser Enttäuschung), aber Diederichsen, inzwischen Professor, ist bei seiner Skepsis gegenüber dem Poperlebnis erster Ordnung, dem Bruch, geblieben. In Reaktion auf die Diskussion um Retromania schreibt er in der Süddeutschen Zeitung vom 30. November 2011 von einem Fortschritt, der aus Popmusik Kunst mache: "Kunst hat eine Vergangenheit: Geschichte und Traditionen. Das Populäre spielte dagegen immer in der produktiven Illusion einer reinen Gegenwart." Die Schmerzen Reynolds über das Ausbleiben des Neuen sind also Phantomschmerzen, der Historisten-Pop der Gegenwart eine Notwendigkeit, auch wenn "Erweiterung historischer Erfahrung und Regression" schwer zu unterscheiden seien.
Der Unterschied zwischen Reynolds und Diederichsen ist letztendlich auch der zwischen einem Produktionsstandort für Popmusik und einem Land, in dem diese Musik als Exportgut überwiegend rezipiert und dann im Sinne eines produktiven Missverständnis weiterverarbeitet wurde. Hier war Popmusik eben nur selten neu, sondern meistens schon einige Wochen oder Monate alt. Aber das Neue wird ja nicht nur in der Popmusik vermisst. Und einiges spricht für Reynolds Vermutung, dass die durch die Digitalisierung noch einmal beschleunigte Musealisierung und Archivierung der Kultur die Aufkunft des Neuen eher behindere als interessantes Material bereit zu stellen. Vielleicht: Aber wer sich von einem Museum oder einer Bibliothek davon abhalten lässt etwas Neues zu schaffen, wäre dazu wohl eh nicht in der Lage gewesen.
Simon Reynolds: Retromania. Pop Culture´s Addiction to its Own Past, Faber & Faber, € 12,95
Simon Reynolds: Retromania. Pop Culture´s Addiction to its Own Past, Faber & Faber, € 12,95
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