Samstag, 10. März 2012

WARTEN AUF DEN ERSTEN MORD (Morels Sonntagabende)

 Ein Essay von Morel


Jeden Sonntag um Viertel nach Acht geht der Mord in Serie. Wir schauen im Fernsehen zu, wie Deutschland zum Tatort wird. Schon der Vorspann direkt nach der Krombacher-Bierwerbung, mit Gedanken sind wir noch beim Wetterbericht für den Montag, reißt uns aus unserer sonntäglichen Lethargie. Schon den ganzen Tag freuen wir uns auf den legendären Tatort-Vorspann. Viel zu oft aber ist der Vorspann, mit der legendären Vorspannmusik von Klaus Doldinger und den vor deutschen Gerichten strittigen, uns entsetzt anstarrenden Augen, der Vorspann mit den davon laufenden Füßen, dramatischer als der folgende Serienmord. Die Sonntags-Lethargie holt uns dann schnell wieder ein, bis die Augen zwischen dem ersten und zweiten Mord kurz zufallen. Nur eine winzige Sekunde der Unaufmerksamkeit und schon haben wir den Faden verloren. Zwischen dem zweiten und dritten Bier. Bei Gedanken an den dritten Sohn meiner vierten Frau, der so ähnlich aussieht wie der verdächtige Immobilienmakler im leer geräumten Vorstadthaus. Dann aber können wir den Faden schnell wieder aufnehmen. Denn es gilt das Gesetz der Serie. Es gilt die ewige Wiederkehr des Gleichen. Es gilt die Variation des immer Selben. Und so weiter und so fort. Denn zu viel Dramatik ist am Sonntag auch nicht gut. Zu viel Dramatik stört die Erholsamkeit des Schlafs. Selbst der Sekundenschlaf verliert dann an Qualität. Der Bundesliga-Fußball ist schon dramatisch genug. Die deutsche Angst ist schon dramatisch genug. Die internationale Krise sowieso. Der Reformdruck lastet auf uns. Und wenn wir nicht schnell genug abschalten, diskutieren die prominenten Gäste der Talkshow über die deutsche Angst, die internationale Krise und den lastenden Reformdruck. Aber wenn der Mord in Serie geht, hat die Dramatik Pause. Denn jede Serie ist über alle Klippen hinweg undramatisch. Wie das Leben. Auf jede Folge folgt eine neue. Auf jeden Sonntag folgt ein Montag. Bis einmal kein Montag folgt. Bis einmal eine Folge die letzte ist. Aber das werden wir nicht erleben.

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Aber nicht nur Deutschland, auch der Tatort steckt in der Krise. Steht unter Reformdruck. Muss sich Herausforderungen durch amerikanische Serien stellen. Die Kommissare dürfen nicht immer nur an der Currywurstbude stehen. Sie dürfen nicht immer nur den Vater des toten Kindes verdächtigen. Sich nicht immer nur in die Hauptverdächtige verlieben. Den Hauptverdächtigen nicht immer auf einer Baustelle entwischen lassen. Um ihm dann sinnlos mit der Polizeiwaffe nachzuschießen. Sie müssen einmal etwas Neues ausprobieren. Einmal auf das Land fahren, in die Dörfer, wo die letzten Nebenerwerbslandwirte noch auf das Internet warten. Oder auch einmal eine Kollegin mit Migrationshintergrund in das Team integrieren. Ruhig dürfen sie es auch einmal mit Humor versuchen. Es ist nicht so schlimm, wenn einmal gelacht wird. Das mögen die traditionellen Zuschauer zwar nicht, weil sie sich auf das Gesetz der Serie verlassen möchten. Aber eine kleine Reform ist kein Gesetzesbruch. Und der Reformdruck lastet so schwer auf dem Tatort wie auf Deutschland. Weil die Jugend ruhig auch schon einmal zuschauen soll. Selbst wenn sie lieber die dritte Wiederholung des amerikanischen Kassenschlagers sehen möchte. Wenn die Jugend nicht zuschaut, droht Gefahr. Dann läuft einmal die letzte Tatortfolge. Und zum letzten Mal stehen die Kommissare an der Currywurstbude. Aber das wollen wir nicht erleben.  Davor haben wir Angst. Aus dem Sekundenschlaf, erwacht warten wir auf den ersten Mord der am längsten laufenden Serie Deutschlands.

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Der geschieht schon bald nach dem Vorspann. Denn wenn zu lange auf den ersten Mord gewartet werden muss, drängelt der Sohn, der den Kassenschlager sehen möchte. Und sei es zum dritten Mal. Ohne Mord wird gnadenlos umgeschaltet in Deutschland. Und dann ist der Tatort in der Krise, die Reform gescheitert. Früher konnten die Zuschauer nicht umschalten. Nur abschalten und wer tut das schon. Früher war die Konkurrenz nicht so gnadenlos. In China war Kulturrevolution. Und hier die Haare länger. Da ging es ruhiger zu im Tatort. Stundenlang fuhr die Kamera durch graue Vorstädte, durch deutsche Wälder, sah den Menschen bei ihren alltäglichen Verrichtungen zu. Beim Blumenverkaufen, beim Würstchenbraten. Folgte dem Mörder auf seinen Wegen. Vielleicht auch dem Opfer, das noch nichts davon ahnte,  dass sein Serienfaden nun bald reißen würde. Vielleicht saß das Opfer minutenlang am Frühstückstisch. So ein Frühstück in den Siebziger Jahren dauerte gut und gerne eine Stunde. Gemütlich aßen die bayerischen Polizisten ihre Semmeln mit Fleischkäse in sogenannten Amtsstuben. In aller Seelenruhe wurde der Dackel geherzt. Kommissar Haferkamp, wenn er keine Frikadelle in seiner Stammkneipe aß, saß die ganze Nacht allein in seiner Wohnung und hörte Jazzplatten. River of no Return, gesungen, eher gehaucht von Marilyn Monroe. Damit war es dann vorbei, als Schimanski gegen das Privatfernsehen antrat. Als Schimanski dem Tutti-Frutti-Fernsehen zeigte was eine Harke ist. Jetzt gab es nur ein rohes Ei am Morgen und kalten Kaffe, jetzt lief die Rockmusik im Radio, Leader of the Pack, weil keine Zeit mehr war zum Frühstücken. Jetzt hielten sich nur noch die Opfer Haustiere, die dann ratlos um die Leiche schleichen mussten, und mit dem verdammten Privatleben war es auch erst einmal vorbei. Die erste große Tatort-Reform, wenn nicht gar eine ausgewachsene Revolution, war geglückt. Die Abschaffung des deutschen Frühstücks um Viertel nach Acht. Die Eliminierung des Privatlebens. Aber auch diese Revolution ging in Serie. Aber auch dieser Parka wurde mal Mode. Die Gebühren zahlenden Schimpfwortzähler gaben endlich einmal Ruhe. So oft konnte Schimanski gar nicht Scheiße sagen, dass es den das Abendland verteidigenden Gebührenzahlern irgendwann nicht zu mühevoll geworden wäre, erzürnte Leserbriefe an die überregionale Tageszeitung zu schicken. In den Briefen an die Herausgeber fand sich dann auch mal wieder ein anderes Thema. Auf der Titelseite der Bildzeitung stand dann auch mal wieder etwas über Heintje oder Nena. Aber mit der gemütlichen Amtsstube war es nun vorbei. Der Mord ließ nun nicht mehr lange auf sich warten. Auch beim Morden war jetzt Tempo gefragt, die Konkurrenz schläft nicht. Die Kulturrevolution war erst mal vorbei, die Friseure freuten sich über neue Kundschaft. Natürlich vermissen wir Haferkamp und seine Frikadellen, wir vermissen das graue Flakhelfer-Deutschland der Siebziger, wir vermissen die stickige Brezel-Luft in den Amtsstuben. Vor allem vermissen wir diese Zwischenräume, in denen nichts passiert. Wo ist das Nichts eigentlich hin? Was ist eigentlich aus den schönen Aufnahmen aus fahrenden D-Zügen geworden? Warum gibt es keine schmuddeligen Treppenhäuser mehr? Nostalgie jedoch ist ein schlechter Ratgeber. Zu langes Frühstücken macht dick und fördert den Sekundenschlaf bei Tempo Einhundertachtzig auf der Autobahn.  Deswegen sagen wir ja zur Tatort-Reform, zur modernen Welt, zum schnellen Mord, zum rohen Ei, zum neuen Gesetz. Und so weiter und so fort. Bis zum allerletzten Mord.


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Aber mit dem Mord fängt es ja nur an. Der Mord ist nicht entscheidend, es kommt darauf an, was man daraus macht. Es kommt auf die Ermittlung an, auf die Verdächtigen, die grundsätzlich bis um Halbzehn von den häufig ahnungslosen Ermittlern immer völlig grundlos verdächtigten Verdächtigen. Auf die Verwicklungen kommt es an. Die unzähligen verdächtigen Verwandten sind zu vernehmen. Wenn wir den verwickelten Verwandtschaftsbeziehungen nicht folgen können, drohen Lethargie und Sekundenschlaf. Wenn wir den Mörder schon um Viertel nach Neun kennen, fangen wir an zu gähnen. Ist eine Serie erst einmal lang genug, kann den Zuschauer nichts mehr überraschen. Unberechenbar ist nur eine Serie, die noch nicht so lang ist, dass sich Gesetze ausgebildet haben, die belastbare Prognosen ermöglichen. Der Tatort aber ist die längste Serie Deutschlands, da kann man das Publikum kaum mehr überraschen, wenn man nicht Gesetzesbruch begehen will. Selber zum Kriminellen werden will. Daher immer der Ärger um Viertel vor Zehn. Wenn schon wieder der verdächtigste Verdächtige unschuldig war. Schon wieder ein unschuldiges Kind das Tötungsdelikt begangen hat und den Kommissaren Tränen in den Augen stehen. Ärger über die unwahrscheinlichen Auflösungen um Einundzwanzig Uhr Vierundvierzig. Kurz vor der Talkshow über die deutsche Angst vor der ewigen Krise, der in Serie gegangenen Krise. Ärger über die fehlenden Beweise und die losen Enden. Und dann das übermäßige Verständnis für den Täter. Nie ist der Täter einfach böse. Immer hat er ein Motiv. Besonders wenn das Opfer reich und unsympathisch ist, wenn das Opfer in einer Villa sehr lange frühstückt, in ein knuspriges Croissant beisst, wenn das Opfer sich wenig Gedanken um seine Mitmenschen macht, dann kommt plötzlich Verständnis für den Täter auf. Wir würden uns aber schon einmal freuen, wenn der Täter einfach böse wäre und wahllos Menschen umbringen würde. Aber Serienmörder sind keine deutsche Tradition, sondern eine Spezialität der Amerikaner und Schweden. Der Surrealismus ist in Deutschland gescheitert, hier muss immer alles seine Ordnung haben. Der deutsche Kriminalfilm versagt vor dem Serienmord. Eigentlich ein Wettbewerbsnachteil.  In Deutschland kann der Täter meistens auf Verständnis hoffen und das Opfer auf Mitleid. Verständnis und Mitleid bringen uns aber auch nicht weiter in der Krise. Und schon gar nicht in einem Mordfall. Was ist eigentlich aus den kleinen Gaunern geworden, die sich auch einmal etwas gönnen möchten? Was ist aus den sadistischen Frauenschlägern geworden, die genug davon haben, dass es immer etwas zu meckern gibt? Wieso lebt der Mörder immer in seinem neu bezogenen, noch nicht verputzten Eigenheim? Wieso ist die betrogene Ehefrau immer so zurückhaltend und elegant, innerlich aber von Hass und Verachtung erfüllt? Jeden Sonntag erzählt der Tatort uns von unseren Morden, von unseren Tötungsdelikten, von unseren Affekthandlungen – und wir sind doch nur die Zuschauer. Unser Eigenheim ist abbezahlt, unserem Tod möchten wir nicht ins Auge blicken und unsere Affekte sind unter der Kontrolle eines streng getakteten Arbeitsalltags. Nur am Sonntag gönnen wir uns ein oder zwei Biere. Der Tatort ist dann wie eine Kirche, in der wir für nicht begangene Sünden büßen. Eine unermessliche Schuld abtragen. Jeden Sonntag gehen wir in den Tatort wie in einen protestantischen Gottesdienst.

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Dann stehen wir wie jeden Sonntag vor der Kirche, zusammen mit all den anderen Kirchgängern, um über die Predigt zu meckern. Der Kirchgang, die Bußpredigt als willkommener Anlass für schlechte Laune. Oder wir sitzen im Wirtshaus, dem Deutschen Haus, dem Schwarzen Adler oder dem Roten Lamm, und meckern über den Schmorbraten, der grundsätzlich immer zu fett oder zu trocken ist. Das Mittagessen als Vorwand für eine Tirade. Jede Reform eine Entschuldigung für schlechte Laune. Die Tatortreform, die in Serie gegangene Reform der am längsten laufenden Serie Deutschland, sorgt folglich immer, jeden Sonntag aufs Neue für den Unmut des Publikums. Dabei kommt der Tatort doch seinem Publikum entgegen. Beinahe jedes Bundesland hat seinen eigenen Tatort. Selbst das winzige Saarland darf einmal im Jahr eine Folge einer Serie ausstrahlen. Eine Folge pro Jahr, das ist schon fast keine Serie mehr. Ein Jahr an einer Klippe hängen und dann geht es weiter. Ein Jahr kein Mord in Saarbrücken und dann doch wieder ein Toter im Schlamm einer Baustelle. Wir haben die Namen der Kommissare schon fast vergessen, da fahren sie plötzlich in ihrem Auto auf die Baustelle und tun so, als wären sie nie weg gewesen. Vielleicht ermitteln auch im Saarland bald Frauen, wie schon so gut wie überall in Deutschland. In Konstanz, Leipzig, Frankfurt, Kiel, Hannover und Ludwigshafen. Nur in München, Münster und Berlin darf die Frau keine Pistole tragen. Ansonsten beginnt nun auch im Tatort die moderne Zeit: Frauen ohne Kinder und Familie, aber manchmal mit Mann. Männer ohne Frauen gab es schon seit Anbeginn der Zeiten im Tatort. Die Flakhelfer-Generation liebte Hemingway und seine kurzen Sätze. Die Parka-Generation brauchte kein Privatleben und kam unrasiert ins Büro. Jetzt aber kehrt das verdammte Privatleben wieder zurück, in all seinen Verästelungen und mit all seinen Zwängen. Konterrevolution sozusagen, wer unaufhörlich reformiert, landet eben zwangsweise wieder am Ausgangspunkt. Vielleicht mit Familie, vielleicht mit Hobby, am Ende sogar mit beiden. Und dann muss der Kommissar auch mal nach Hause zum Kinderhüten, unter dem missbilligenden Blick des Kollegen. Und wenn das Telefon klingelt, sitzt die verwitwete Kommissarin, an den in die Schweiz abgewanderten Liebhaber denkend, einsam in einem Boot auf dem Bodensee. Kein Fisch weit und breit. Der einsame Wolf wird zum Schäferhund domestiziert. Nicht jede Reform allerdings ist zu Ende gedacht. Bei der Kommissarin wird das Kind zum Störfall, immer im Wege, und nur manchmal ist es ein niedliches Accessoire. Aber das ist nicht das Schlimmste. Das Schlimmste kommt wie in jeder Serie am Schluss. Abfinden können wir uns auch mit all den reformbedingten Verlusten. Kommissar Ehrlicher ermittelt nun nicht mehr gegen unser Wirtschaftssystem. Kommissar Stoever setzt sich auch nicht mehr ans Klavier. Kommissar Brinkmann irrt nicht mehr mit Fliege durch die Bankenmetropole. Aber es gibt immer ein Aber. In jedem Tatort gibt es ein Aber. Alles spricht gegen den so elegant gekleideten wie unerträglich arroganten Galeristen. Aber. Die Kommissarin misstraut dem zu wenig trauernden Ehemann mit guten Gründen und moralischem Furor. Aber andererseits. Der Tatort ist nur eine Serie und nicht die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit der Serie ist, dass hier andere Gesetze gelten. Aber in Wirklichkeit.

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Im Jahre Neuzehnhunderneunundneunzig war die Tatort-Welt in Deutschland noch in Ordnung. Ein Jahr vor Anbruch des neuen Jahrtausends ermittelten andere Kommissare als heute im ersten Jahr des zweiten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends. Kommissar Bienzle geriet in Wut. Kommissar Stoever verliebte sich in eine Tote. Kommissar Brinkmann ging mal auf die Dippemess. Und Kommissar Ehrlicher begab sich auf den Spuren Karl Mays auf den Kriegspfad. Aber Neunzehnhundertneunundneunzig begann, aufgedeckt erst im Jahr Zweitausendelf, parallel zum Tatort, eine andere Mordserie. Unbemerkt von Millionen Tatortzuschauern. Die aber, wenn sie zugeschaut hätten, schon daran gewohnt gewesen wären, dass zunächst einmal die Verwandten verdächtigt werden. Immer erst das Umfeld befragt werden muss. Weil jeder Mord ein Motiv braucht. Am Tatort bleibt immer nur das Opfer zurück, hartnäckig schweigend, nur Hautzellen und Reifenspuren erzählen von der Tat. Anstatt gegen als Indianer verkleidete Sachsen zu ermitteln,  hätte Kommissar Ehrlicher als verdeckter Ermittler in die sogenannte Zwickauer Zelle eindringen müssen. Aber der verdeckte Ermittler im Jahr Zweitausendelf hieß dann Cenk Batu, Sohn vielleicht eines türkischen Einzelhändlers, mit dem er selten einmal telefonierte. Cenk Batus Einschaltquoten waren schlecht, der Kommissar mit Migrationshintergrund  nicht richtig integriert, durfte nicht ins Polizeirevier, sondern musste verdeckt ermitteln. Keiner stand mit Cenk Batu im Jahr Zweitausendelf an der Currywurstbude. Keiner ging mit ihm mal eine Frikadelle essen. Und es war auch die falsche Zelle, in die Cenk Batu im besten Tatort des letzten Jahrs eindrang, die islamistische Sauerlandzelle verlegt in das Mohammed-Atta-Hamburg, nicht die Zwickauer Terrorzelle. Die in einem anderen Universum agierte, anderen Gesetzen unterworfen war, aber trotzdem an allen Gremien vorbei eine Serie begann, Opfer zurücklassend. Deren Verwandten ahnungslos waren und wie immer am Sonntagabend zunächst einmal verdächtig. Aber jetzt verlaufen sich die Ermittlungen, aber jetzt sind die Akten plötzlich verschwunden, ganz zu schweigen vom Kleinen Adolf. Ganz zu schweigen auch von fahrlässigen Fehlern, vermeintlichen Zufällen und behäbigen Beamten. Und natürlich kann kein Zuschauer einer Serie folgen, ohne zu wissen, wo die Folgen laufen. Auf welchem Sender und in welcher Stadt. Ob es überhaupt eine Folge ist und nicht ein Einzelfall. Wie hätten Millionen deutsche Tatortzuschauer denn ahnen sollen, dass die Zeitungen zehn Jahre lang  eine Mordserie verfolgen, wenn sie über Morde an Imbissbudenbesitzern berichten. Und nicht nur Imbissbudenbesitzer wurden Opfer, auch Schneider und Blumenverkäufer. Im Tatort kamen solche Berufe schon seit Jahrzehnten nicht mehr vor. Anlageberater, Ingenieure, Journalisten, ja, aber ein Blumenverkäufer kann noch nicht einmal zum Opfer werden im Tatort. Darauf waren wir nicht vorbereitet. Kommissar Ehrlicher war ja suspendiert. Die Flakhelfergeneration pensioniert. Das deutsche Täterverständnis half hier auch nicht weiter. Und die Kommissare immer über jeden Verdacht erhaben. Aufrechte Demokraten, Flakhelfergeneration hin oder her, immer kritisch gegenüber den Reichen und Mächtigen. Schwieriges Familienleben für unsere Kommissare und Kommissarinnen, das schon. Wohin mit dem ja eigentlich nicht wirklich geliebten Kind, das fragt sich Kommissarin Lindholm oft genug. Das Accessoire-Kind wird hin und her geschleppt durch die Folgen. Aber im Beruf geht alles seinen aufrechten Gang. Kein Buckeln vor Vorgesetzten, Karriere Nebensache, schwierige Kollegen, schon gut, aber doch immer eher auf der Seite der Schwachen. Vorurteile eigentlich nur gegen die überdurchschnittlich Reichen, aber auch gegen die überdurchschnittlich Gebildeten, die angeberischen Künstler-Typen und die übermäßig ehrgeizigen Wissenschaftler. Wenn einer zu sehr vom Durchschnitt abweicht, ist er immer schon mal verdächtig. Da ergibt sich immer ein Anlass zum Ermitteln. Aber ein Mord pro Jahr in einer deutschen Stadt, in einem vermutlich gewalttätigen Milieu wie dem Blumenhandel und der Lebensmittelverarbeitung. Die Abstände waren wie im Saarland einfach zu groß, um die Serie zu erkennen.

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Das Schlimmste aber: wir waren nicht vorbereitet. Der Tatort ist als Schule der Nation vorerst gescheitert: in der Serie hielt man sich an die Gesetze, aber nur in der Serie. Unvorbereitet auf Opfer, die Blumenverkäufer und Schneider waren, keine Eigenheimbauer und Geschäftemacher. Unvorbereitet auf Täter, in die sich ein aufrechter Demokrat nur schwer einfühlen kann. Unvorbereitet und ahnungslos stolpert Deutschland in die nächste Tatort-Krise. Die Reform der Serie zum wiederholten Male, im Grunde in Serie gescheitert. Das Verständnis für den Täter hat uns auf Abwege geführt, das Mitleid für das Opfer kam zu spät. Immer zu spät, wie jeder Tatort, der zwar pünktlich um Viertel nach Acht anfängt, aber dann ist plötzlich Winter, wenn es im Garten noch Sommer ist. Und wenn der erste Schnee fällt, schwitzt die Kommissarin beim Joggen am Rhein. Dann bekämpfen wir im besten Tatort des Jahres Zweitausendelf den Islamismus, während die Akten über die Zwickauer Zelle zehn Jahre lang hin und her geschickt wurden. Der entwendete Brief liegt immer mitten auf dem Tisch, die Mörder leben immer mitten unter uns, aber wir schauen gerade woanders hin. Weil wir nicht wollen, dass es zu Ende geht. Weil wir immer an der Klippe hängen und niemals nach unten schauen. Weil wir uns selbst zuschauen, als bemitleidetes Opfer, als verständlicher Täter. Es ist Winter, aber im Fernsehen blühen Sonntagabend um Viertel nach Acht die Blumen des Bösen.

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