Die
erste Platte von den Velvet Underground, die mit dem legendären Bananen-Cover
von Andy Warhol, wurde bekanntlich zunächst sehr wenig gekauft, bevor sie dann
plötzlich beinahe überall zu sehen war. Oft hört man aber, jeder der raren Käufer
der ersten Stunde habe später eine Band gegründet. A la recherche du temps perdu, der berühmte Roman von Marcel
Proust, wird nur selten zu Ende gelesen. Oft hört man aber, wer die letzte
Seite gelesen habe, könne nicht mehr viel mit seinem Leben anfangen, außer
selber ein Buch zu schreiben. Jennifer Egan, eine amerikanische
Schriftstellerin, die für A Visit from
the Goon Squad mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, gehört zu den
Proust-Leserinnen, die das französische Romanwerk bis zur Neige gekostet haben.
Denn erst auf den letzten Seiten kommt es zu dem berühmten Empfang, bei dem der
Erzähler der Hauptperson seines Romans begegnet: der Zeit, die ihre Spuren in
den Gesichtern seines Romanpersonals hinterlassen hat. Und zwar derart, dass
die Gesichter seiner gleichaltrigen Zeitgenossen ihn an deren Eltern erinnern
und er im Antlitz ihrer erwachsen gewordenen Kinder seine Vergangenheit wieder
findet. Die Zeit wird auch in Egans unterhaltsamen und erfolgreichen Roman als
große Zerstörerin porträtiert, als "goon" oder Rowdy, der keinen der
Protagonisten ungeschoren lässt.
A Visit from the Goon Squad - auf Deutsch blass und unscheinbar: Der größere Teil der Welt - spielt im
vom digitalen Wandel der Zeiten revolutionierten Musikgeschäft. Für den
Klappentext und viele Kritiken steht daher Bennie Salazar im Mittelpunkt,
ehemals Bassist einer Punkband in San Francisco, später ein erfolgreicher
Musikmanager. Das ist verständlich, denn die Geschichte Bennies entspricht
einem seit Balzac sehr erfolgreichen Narrativ: das des jungen Mannes, der seine
Illusionen verliert, auf zynische Weise Erfolg hat, scheitert und geläutert
wiederkehrt. Da Egan jedes Kapitel aus einer anderen Perspektive und in einem
anderen literarischen Stil erzählt (der amüsante Zeitungsroman The Imperfectionists ist ähnlich
aufgebaut, stilistisch aber weit weniger ambitioniert), scheint es im Grunde
gar keine tragenden Figuren zu geben. Im ersten Kapitel lernen wir Sasha
kennen, die kleptomanische Assistentin von Bennie auf einem Date mit Alex, der
noch neu in New York ist. Dann folgt ein hektischer Arbeitstag von Bennie. In
Kapitel 3 tauchen wir in die kalifornische Punkszene Anfang der 80er ein und
begegnen Bennie und seinen Freunden bei ihrem ersten Gig. Den Musikproduzenten
Lou, der mit zwei Frauen aus dieser Gruppe anbändelt und Bennies Karriere fördert,
erleben wir in Kapitel 4 noch einige Jahre früher, in den 70ern, mit seinen
Kindern auf Safari in Afrika. Ein Kapitel, aber in der erzählten Zeit viele
Jahre später, liegt er im Sterben und zwei Frauen in ihren 40ern, die wir noch
vor zwei Kapiteln als Punks erlebt haben, besuchen ihn. Es folgen andere
Kapitel, in denen Bennies Frau
Stephanie und ihr psychisch labiler Bruder einem alternden Rockstar
begegnen, PR-Lady La Doll, die
Chefin von Stephanie, das Image eines Kriegsverbrechers aufbessern soll, und
Scottie, der ehemalige Sänger von Bennies Punkband, der angelnd und als
Hausmeister sein Leben fristet, zum Schluß des Buchs ein überraschendes
Comeback erlebt. Aus diesem Blickwinkel erzählt Egans Roman die konventionelle
Geschichte des Erwachsenwerdens auf unkonventionelle Weise. Es gibt aber noch
eine andere Perspektive und zwar die Sashas, die wir ja aus dem ersten Kapitel
kennen.
Sollte
Egans Buch in die Literaturgeschichte eingehen, dann wird in jedem Lexikon ein
Satz über Kapitel 12 stehen: dem wahrscheinlich ersten Romankapitel, das nur
aus Powerpoint-Charts besteht. Dieses Kapitel 12, das vorletzte des Romans, stört
alle, die das Buch ausschließlich aus der Perspektive Bennies lesen möchten.
Hier zum Beispiel ein Amazon-Rezensent: "Eine sinnlose Folge von
langatmigen und belanglosen Episoden mit langweiligen oder unglaubwürdigen
Personen. Die 70 Seiten Powerpointbilder sind eine Zumutung - habe nach 3
Seiten nur noch durchgeblättert." Also nur ein Gag? Nein, "Great
Rock'n Roll Pauses", die von Sashas Tochter Allison erstellte Präsentation
über ihre Familie und die Obsession ihres autistischen Bruders mit Pausen, den
Breaks, in Rocksongs ist der gedankliche und emotionale Anker dieses Buchs.
Plotmäßig werden hier einige zuvor offen gelassenen Geschichten zu Ende erzählt.
So endete ein Kapitel damit, dass zwei Freunde Sashas in den Hudson springen -
hier erfahren wir erst, welcher der beiden nicht mehr auftauchte. Aber hauptsächlich
tritt Sasha in dieser Präsentation ihrer Tochter als die Gegenfigur zu Bennie
hervor: das Auf und Ab seiner Karriere gegen ihren Rückzug in das Familienleben
und die Leere der Wüste (wir schreiben inzwischen das Jahr 2030 und der
Klimawandel zeigt seine Wirkung), die nostalgische Sehnsucht nach einer
verlorenen Jugend gegen den Versuch die Gegenwart festzuhalten (Sasha kreiert
Kunstwerke aus dem bedeutungslosen Materials ihres Alltags - Einkaufszetteln,
Kalendereinträgen, Notizzetteln), die Überhöhung der eigenen Subjektivität im
Ego- und Starkult des amerikanischen Way-of-life gegen das Verschwinden des
Egos in einem Bild, an dem auch andere mit malen. A Visit from the Goon Squad ist also aus mindestens zwei
Perspektiven lesbar. In der einen folgen wir dem Lauf einer Karriere wie einem
Planeten, der von Satelliten aus seiner Vergangenheit umkreist wird: Bennie und
die Mitglieder seiner ehemaligen Punkband. In der anderen Perspektive gibt es
keine Entwicklung, es werden Fragmente der Gegenwart gesammelt: die Kleptomanie
Sashas, die durch das Stehlen am Leben anderer teilzuhaben versucht, die ihren
Vater nicht wieder, aber schließlich in der Pause, der Unterbrechung und der
Leere eine Art Erlösung findet. Diese Perspektive bricht mit der amerikanischen
Heldengeschichte, sie ist in den vielen Losern und abgebrochenen Karrieren
dieses Buchs unübersehbar präsent. Kapitel 13 ist nach der Katharsis von
"Great Rock'n Roll Pauses" eine ironische Coda: Alex, Sashas Date aus
Kapitel 1, wird von Bennie angeheuert, eine Flüsterkampagne über soziale Medien
zu organisieren, um das Comeback-Konzert von Scottie zu promoten. Er hat
moralische Vorbehalte, aber er braucht das Geld und also bezahlt er einige
seiner unzähligen Freunde in Anführungszeichen, viele Begriffe können
inzwischen nur noch ironisch benutzt werden, für freundliche Artikel über das
Comeback des legendären Punksängers. Am Tag des Konzerts findet sich eine
begeisterte, zu Tränen gerührte Masse von Fans zu Scotties Konzert ein. Der
Erfolg deprimiert Alex? Ist der Enthusiasmus für Scottie echt oder nur ein von
ihm geschaffener Hype, der sogar seine Frau, die intellektuelle Rebecca,
erfasst hat? So wie die erste Platte von Velvet Underground spätestens 1980
jeder Rockfan schon immer besessen hatte, so wird bald jeder Musikfan des 21.
Jahrhunderts beim Comeback von Scottie dabei gewesen sein. Das Break, die
Pause, wird in den Song integriert. Ganz am Ende des Buchs glaubt Alex Sasha in
einer dunklen Seitenstraße wieder zu erkennen. Aber es ist nur irgendein
anderes Mädchen, "young and new to the city", das nach ihren Schlüsseln
sucht. Wie Prousts Erzähler auf seinem letzten Empfang begegnet er der Zukunft
in der Maske der Vergangenheit.
Jennifer
Egan gehört zu der neuen, inzwischen etablierten Generation von amerikanischen
Autorinnen und Autoren, die sich im schon oft todgesagten Roman kritisch mit
einer als zersplittert erfahrenen Gegenwart auseinandersetzen. Das endet oft im
mehr oder weniger ironischen Recycling zu Recht vergangener Erzählkonventionen.
Im Gegensatz zu einem Erzlangweiler wie Franzen, der leider in allen Ernst
daran zu leiden scheint, dass er nicht mehr Tolstoi sein kann, zeichnet sie
sich durch Humor, Neugierde und Wagemut aus: eine Mischung, die A Visit from the Goon Squad als
Kaleidoskop unseres Lebens zwar nicht makellos, aber unwiderstehlich macht.
Jennifer Egan: A visit from the goon squad, Knopf, 2010; € 18,95 (englisch, gebunden)
Jennifer Egan: A visit from the goon squad, Constable & Robinson 2011, € 5,90 (engl., brosch.)
Jennifer Egan: Der größere Teil der Welt, Schöffling 2012, € 22,90 (deutsch)
Jennifer Egan: A visit from the goon squad, Kindle edition, € 4,32 (englisch)
Beim Lesen dieser Rezension habe ich mich sofort entschlossen, das Buch auf meinen Kindle zu laden. Das muss ich lesen. Punk, Erinnerungsfetzen, Lebenslügen, Perspektivwechsel, Verschwinden - und KEIN Recyling vergangener Erzählkonventionen (der Anti-Franzen!). YEAH!
AntwortenLöschen(Vielleicht kann ich auch was klauen für PUNK PYGMALION, wo allerdings viel recylt wird, Briefroman und so, - aber jedenfalls n i c h t gelitten wird daran, dass man nicht mehr Bettina von Arnim sein kann oder sonst wer.).
klingt alles ziemlich spannend, besonders aber deine kommentar darüber heute weder proust noch tolstoi sein zu können. das macht hoffnung darauf, dass die sprache und der stile in 2012 sich anders lesen und anfühlen als in 1912. aber eigentlich hab ich dies in der kunst aucgh nicht anders erwartet. vll ist es dann auch nur stringent man liest die "neuzeitlichen" dann auch auf dem kindle...
AntwortenLöschennur leider bin ich eine altmodische leserin, ich hab immer angst vor datenklau oder totalverlust durch unsachgemäße benutzung.
Witzig, dass mir gerade gestern eine Freundin ein Loblied auf dieses Buch gesungen hat.
AntwortenLöschenNun, der gute Bersarin kostete ebenfalls – in jenen wunderbaren Jahren – Proust zur Neige aus. Er verspürte aber hinterher keine Lust, Literatur zu betreiben. Trotzdem war das für mein philosophisches Denken ausgesprochen anregend, insbesondere, wenn man Philosophie und Literatur nicht strikt als Gattungen voneinander trennt, sondern im essayistisch-ästhetischen Denken die Übergänge offen hält. Ein Beispiel für solches Verfahren wäre wohl Kierkegaard.
AntwortenLöschenDanke aber für die gute Buchempfehlung: das wird gelesen. Insbesondere, wenn es darum geht, die Form des Romanes nicht im 19. Jhd stehen zu lassen, scheinen mir solche Bücher bedeutsam. Hinzuzufügen vielleicht noch: Mark Z. Danielewsi, Only Revolution. Ich habe das Buch noch nicht gelesen, aber die Kritik dieses Buches erschien mir vielversprechend. Mal sehen, ob das Versprechen gehalten wird.
Jennifer Egan ist keine Avantgardistin, die Joyce zu übertreffen versucht, das Buch ist unterhaltsam und teilweise komisch, es ließe sich auch am Strand lesen, jedes Kapitel als eine kleine, böse funkelnde Kurzgeschichte. Am Schluss packt es dich aber auf eine Weise, die ich anzudeuten versucht habe - von Franzen unterscheidet sie sich auch inhaltlich, zum Beispiel in der Darstellung von Familien, das hat hier wenig Schicksalshaftes. Morel
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