Mittwoch, 11. April 2012

DAS WIEDERGEFUNDENE BREAK. Jennifer Egans "A visit from the goon squad"


Die erste Platte von den Velvet Underground, die mit dem legendären Bananen-Cover von Andy Warhol, wurde bekanntlich zunächst sehr wenig gekauft, bevor sie dann plötzlich beinahe überall zu sehen war. Oft hört man aber, jeder der raren Käufer der ersten Stunde habe später eine Band gegründet. A la recherche du temps perdu, der berühmte Roman von Marcel Proust, wird nur selten zu Ende gelesen. Oft hört man aber, wer die letzte Seite gelesen habe, könne nicht mehr viel mit seinem Leben anfangen, außer selber ein Buch zu schreiben. Jennifer Egan, eine amerikanische Schriftstellerin, die für A Visit from the Goon Squad mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, gehört zu den Proust-Leserinnen, die das französische Romanwerk bis zur Neige gekostet haben. Denn erst auf den letzten Seiten kommt es zu dem berühmten Empfang, bei dem der Erzähler der Hauptperson seines Romans begegnet: der Zeit, die ihre Spuren in den Gesichtern seines Romanpersonals hinterlassen hat. Und zwar derart, dass die Gesichter seiner gleichaltrigen Zeitgenossen ihn an deren Eltern erinnern und er im Antlitz ihrer erwachsen gewordenen Kinder seine Vergangenheit wieder findet. Die Zeit wird auch in Egans unterhaltsamen und erfolgreichen Roman als große Zerstörerin porträtiert, als "goon" oder Rowdy, der keinen der Protagonisten ungeschoren lässt.

A Visit from the Goon Squad - auf Deutsch blass und unscheinbar: Der größere Teil der Welt - spielt im vom digitalen Wandel der Zeiten revolutionierten Musikgeschäft. Für den Klappentext und viele Kritiken steht daher Bennie Salazar im Mittelpunkt, ehemals Bassist einer Punkband in San Francisco, später ein erfolgreicher Musikmanager. Das ist verständlich, denn die Geschichte Bennies entspricht einem seit Balzac sehr erfolgreichen Narrativ: das des jungen Mannes, der seine Illusionen verliert, auf zynische Weise Erfolg hat, scheitert und geläutert wiederkehrt. Da Egan jedes Kapitel aus einer anderen Perspektive und in einem anderen literarischen Stil erzählt (der amüsante Zeitungsroman The Imperfectionists ist ähnlich aufgebaut, stilistisch aber weit weniger ambitioniert), scheint es im Grunde gar keine tragenden Figuren zu geben. Im ersten Kapitel lernen wir Sasha kennen, die kleptomanische Assistentin von Bennie auf einem Date mit Alex, der noch neu in New York ist. Dann folgt ein hektischer Arbeitstag von Bennie. In Kapitel 3 tauchen wir in die kalifornische Punkszene Anfang der 80er ein und begegnen Bennie und seinen Freunden bei ihrem ersten Gig. Den Musikproduzenten Lou, der mit zwei Frauen aus dieser Gruppe anbändelt und Bennies Karriere fördert, erleben wir in Kapitel 4 noch einige Jahre früher, in den 70ern, mit seinen Kindern auf Safari in Afrika. Ein Kapitel, aber in der erzählten Zeit viele Jahre später, liegt er im Sterben und zwei Frauen in ihren 40ern, die wir noch vor zwei Kapiteln als Punks erlebt haben, besuchen ihn. Es folgen andere Kapitel, in denen Bennies  Frau Stephanie und ihr psychisch labiler Bruder einem alternden Rockstar begegnen,  PR-Lady La Doll, die Chefin von Stephanie, das Image eines Kriegsverbrechers aufbessern soll, und Scottie, der ehemalige Sänger von Bennies Punkband, der angelnd und als Hausmeister sein Leben fristet, zum Schluß des Buchs ein überraschendes Comeback erlebt. Aus diesem Blickwinkel erzählt Egans Roman die konventionelle Geschichte des Erwachsenwerdens auf unkonventionelle Weise. Es gibt aber noch eine andere Perspektive und zwar die Sashas, die wir ja aus dem ersten Kapitel kennen.

Sollte Egans Buch in die Literaturgeschichte eingehen, dann wird in jedem Lexikon ein Satz über Kapitel 12 stehen: dem wahrscheinlich ersten Romankapitel, das nur aus Powerpoint-Charts besteht. Dieses Kapitel 12, das vorletzte des Romans, stört alle, die das Buch ausschließlich aus der Perspektive Bennies lesen möchten. Hier zum Beispiel ein Amazon-Rezensent: "Eine sinnlose Folge von langatmigen und belanglosen Episoden mit langweiligen oder unglaubwürdigen Personen. Die 70 Seiten Powerpointbilder sind eine Zumutung - habe nach 3 Seiten nur noch durchgeblättert." Also nur ein Gag? Nein, "Great Rock'n Roll Pauses", die von Sashas Tochter Allison erstellte Präsentation über ihre Familie und die Obsession ihres autistischen Bruders mit Pausen, den Breaks, in Rocksongs ist der gedankliche und emotionale Anker dieses Buchs. Plotmäßig werden hier einige zuvor offen gelassenen Geschichten zu Ende erzählt. So endete ein Kapitel damit, dass zwei Freunde Sashas in den Hudson springen - hier erfahren wir erst, welcher der beiden nicht mehr auftauchte. Aber hauptsächlich tritt Sasha in dieser Präsentation ihrer Tochter als die Gegenfigur zu Bennie hervor: das Auf und Ab seiner Karriere gegen ihren Rückzug in das Familienleben und die Leere der Wüste (wir schreiben inzwischen das Jahr 2030 und der Klimawandel zeigt seine Wirkung), die nostalgische Sehnsucht nach einer verlorenen Jugend gegen den Versuch die Gegenwart festzuhalten (Sasha kreiert Kunstwerke aus dem bedeutungslosen Materials ihres Alltags - Einkaufszetteln, Kalendereinträgen, Notizzetteln), die Überhöhung der eigenen Subjektivität im Ego- und Starkult des amerikanischen Way-of-life gegen das Verschwinden des Egos in einem Bild, an dem auch andere mit malen. A Visit from the Goon Squad ist also aus mindestens zwei Perspektiven lesbar. In der einen folgen wir dem Lauf einer Karriere wie einem Planeten, der von Satelliten aus seiner Vergangenheit umkreist wird: Bennie und die Mitglieder seiner ehemaligen Punkband. In der anderen Perspektive gibt es keine Entwicklung, es werden Fragmente der Gegenwart gesammelt: die Kleptomanie Sashas, die durch das Stehlen am Leben anderer teilzuhaben versucht, die ihren Vater nicht wieder, aber schließlich in der Pause, der Unterbrechung und der Leere eine Art Erlösung findet. Diese Perspektive bricht mit der amerikanischen Heldengeschichte, sie ist in den vielen Losern und abgebrochenen Karrieren dieses Buchs unübersehbar präsent. Kapitel 13 ist nach der Katharsis von "Great Rock'n Roll Pauses" eine ironische Coda: Alex, Sashas Date aus Kapitel 1, wird von Bennie angeheuert, eine Flüsterkampagne über soziale Medien zu organisieren, um das Comeback-Konzert von Scottie zu promoten. Er hat moralische Vorbehalte, aber er braucht das Geld und also bezahlt er einige seiner unzähligen Freunde in Anführungszeichen, viele Begriffe können inzwischen nur noch ironisch benutzt werden, für freundliche Artikel über das Comeback des legendären Punksängers. Am Tag des Konzerts findet sich eine begeisterte, zu Tränen gerührte Masse von Fans zu Scotties Konzert ein. Der Erfolg deprimiert Alex? Ist der Enthusiasmus für Scottie echt oder nur ein von ihm geschaffener Hype, der sogar seine Frau, die intellektuelle Rebecca, erfasst hat? So wie die erste Platte von Velvet Underground spätestens 1980 jeder Rockfan schon immer besessen hatte, so wird bald jeder Musikfan des 21. Jahrhunderts beim Comeback von Scottie dabei gewesen sein. Das Break, die Pause, wird in den Song integriert. Ganz am Ende des Buchs glaubt Alex Sasha in einer dunklen Seitenstraße wieder zu erkennen. Aber es ist nur irgendein anderes Mädchen, "young and new to the city", das nach ihren Schlüsseln sucht. Wie Prousts Erzähler auf seinem letzten Empfang begegnet er der Zukunft in der Maske der Vergangenheit.

Jennifer Egan gehört zu der neuen, inzwischen etablierten Generation von amerikanischen Autorinnen und Autoren, die sich im schon oft todgesagten Roman kritisch mit einer als zersplittert erfahrenen Gegenwart auseinandersetzen. Das endet oft im mehr oder weniger ironischen Recycling zu Recht vergangener Erzählkonventionen. Im Gegensatz zu einem Erzlangweiler wie Franzen, der leider in allen Ernst daran zu leiden scheint, dass er nicht mehr Tolstoi sein kann, zeichnet sie sich durch Humor, Neugierde und Wagemut aus: eine Mischung, die A Visit from the Goon Squad als Kaleidoskop unseres Lebens zwar nicht makellos, aber unwiderstehlich macht.

Jennifer Egan: A visit from the goon squad, Knopf, 2010; € 18,95 (englisch, gebunden)

5 Kommentare:

  1. Beim Lesen dieser Rezension habe ich mich sofort entschlossen, das Buch auf meinen Kindle zu laden. Das muss ich lesen. Punk, Erinnerungsfetzen, Lebenslügen, Perspektivwechsel, Verschwinden - und KEIN Recyling vergangener Erzählkonventionen (der Anti-Franzen!). YEAH!

    (Vielleicht kann ich auch was klauen für PUNK PYGMALION, wo allerdings viel recylt wird, Briefroman und so, - aber jedenfalls n i c h t gelitten wird daran, dass man nicht mehr Bettina von Arnim sein kann oder sonst wer.).

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  2. klingt alles ziemlich spannend, besonders aber deine kommentar darüber heute weder proust noch tolstoi sein zu können. das macht hoffnung darauf, dass die sprache und der stile in 2012 sich anders lesen und anfühlen als in 1912. aber eigentlich hab ich dies in der kunst aucgh nicht anders erwartet. vll ist es dann auch nur stringent man liest die "neuzeitlichen" dann auch auf dem kindle...

    nur leider bin ich eine altmodische leserin, ich hab immer angst vor datenklau oder totalverlust durch unsachgemäße benutzung.

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  3. Witzig, dass mir gerade gestern eine Freundin ein Loblied auf dieses Buch gesungen hat.

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  4. Nun, der gute Bersarin kostete ebenfalls – in jenen wunderbaren Jahren – Proust zur Neige aus. Er verspürte aber hinterher keine Lust, Literatur zu betreiben. Trotzdem war das für mein philosophisches Denken ausgesprochen anregend, insbesondere, wenn man Philosophie und Literatur nicht strikt als Gattungen voneinander trennt, sondern im essayistisch-ästhetischen Denken die Übergänge offen hält. Ein Beispiel für solches Verfahren wäre wohl Kierkegaard.

    Danke aber für die gute Buchempfehlung: das wird gelesen. Insbesondere, wenn es darum geht, die Form des Romanes nicht im 19. Jhd stehen zu lassen, scheinen mir solche Bücher bedeutsam. Hinzuzufügen vielleicht noch: Mark Z. Danielewsi, Only Revolution. Ich habe das Buch noch nicht gelesen, aber die Kritik dieses Buches erschien mir vielversprechend. Mal sehen, ob das Versprechen gehalten wird.

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  5. Jennifer Egan ist keine Avantgardistin, die Joyce zu übertreffen versucht, das Buch ist unterhaltsam und teilweise komisch, es ließe sich auch am Strand lesen, jedes Kapitel als eine kleine, böse funkelnde Kurzgeschichte. Am Schluss packt es dich aber auf eine Weise, die ich anzudeuten versucht habe - von Franzen unterscheidet sie sich auch inhaltlich, zum Beispiel in der Darstellung von Familien, das hat hier wenig Schicksalshaftes. Morel

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