Donnerstag, 26. April 2012

NO WAY ("Es war Liebe."), 2005


„Er hat dem Kind in den Mund gepisst.“, sagt Gerald und legt das Foto vor mir auf den Tisch. „Hier.“ Ich muss mich setzen. „Die Fotos“, er legt noch zwei dazu, „hat er selbst gemacht.“ „Wir reden von demselben Mann?“, frage ich. „Da bist du sicher?“ „Da bin ich sicher. Ich hatte ihn hier. Mehrere Jahre.“ Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Mein Gehirn produziert lauter Fragen, die durcheinander stolpern; ich kriege den Mund nicht auf, weil nur Satzanfänge herauskämen, jetzt, ohne Ende: wie, wann, wen, wie oft, weshalb, war er, hat er, wollte er, gab es? Kann er sich nicht geändert, soll ich, woher weißt du, was kann denn? Gerald schaut mich an. Ich brauche keine Fragen stellen. Er gibt mir die Antworten, von denen er weiß, dass sie nicht genügen können.

„Ein Pädophiler. Hochintelligent. Hat hier eine Art inoffizielle Rechtsberatung für Mitgefangene aufgebaut. Sehr charismatisch. So macht er sich auch an die Jungen heran. Geschickt in der Auswahl seiner Opfer. Jungs, die nach Bestätigung suchen. Vaterlose Jungen, manchmal. Jungs, die keinen Halt finden. Zieht sie in eine Beziehung. Bis der Missbrauch beginnt, sind die so verstrickt, dass sie viel zu verlieren haben, wenn sie ihn anzeigen. Er redet von Liebe.“

Er redet von Liebe, denke ich. Zu Bine hat er auch von Liebe geredet. Was es ihm bedeutet, dass sie zu ihm steht. Dieser Neuanfang, den sie ihm ermöglicht. Er wirkt so dankbar, fast demütig, wenn er von Bine spricht. Wie er ihr die Tür aufhält, wie er sich um ihre Drinks kümmert, wie er sie zärtlich am Arm berührt. „Er ist scheu“, hat Bine gesagt, „im Bett, meine ich.“ Im Bett. Sie schlafen nebeneinander, habe ich geschlossen, wie Brüderchen und Schwesterchen. Ich habe das nicht verstanden, wieso Bine sich auf so was einlässt. Aber ihr ist das ganz recht, erstmal, hat sie gesagt, weil es doch klar sei, welche Hemmungen er noch habe, haben müsse, nach so einer langen Zeit ohne Frau, sie wolle das langsam angehen, sie fühle sich sehr geschätzt, auch als Frau anerkannt, selbst wenn dieser Teil der Beziehung, das sagte sie wirklich, „noch ausbaufähig“ sei.

Ich schaue auf die Bilder vor mir. Das mit Sperma voll gespritzte Gesicht eines sommersprossigen Jungen, auch die gegelten Haare sind zugekleistert mit der gelblichen Pampe. In den Augen scheinen ihm Tränen zu stehen. Oder bilde ich mir das ein? Auf einem anderen Foto sitzt der Junge mit heruntergelassener Hose auf einem Sofa, die Hand an seinem erigierten Glied und starrt mit aufgerissenen Augen in die Kamera. Es ist ein schmaler Junge, der fast ein bisschen verhungert wirkt, mit einer trotzigen Unterlippe.

„Er ist nicht der Einzige gewesen.“, sagt Gerald. „Und das sind auch nicht die härtesten Aufnahmen. Ich darf dir die gar nicht zeigen. Das ist dir klar, nicht wahr? Aber als ich dich mit dem in der Stadt gesehen habe...Du hast ja auch Söhne. Ich dachte, du musst das wissen.“

Ja, ich muss das wissen. Ich muss wissen, dass der neue Lebensgefährte meiner Freundin ein pädophiler Wiederholungstäter ist. Ein Mann, der seit zwei Jahrzehnten kleine Jungen missbraucht, Jungen zwischen neun und vierzehn Jahren, wie Gerald mir erklärt, Jungen, zu denen er eine freundschaftliche Beziehung aufbaut, bis sie nur noch ihm vertrauen, die er dann dazu bringt, vor seinen Augen und seiner Kamera zu onanieren, um sie mit diesen Bildern zu erpressen. Danach kann er mit ihnen machen, was er will. Es geilt ihn auf, ihnen in den  Mund zu spritzen, sie voll zu pissen, manchmal auch sie zu schlagen. Zwischendurch ist er zärtlich, geht mit ihnen ins Kino, macht Geschenke. Er spricht von Liebe. Er hat, sagt Gerald, bei jedem Jungen von Liebe gesprochen. Zuletzt war er sieben Jahre im Knast.

„Sehr angepasst. Hat sich an alle Regeln gehalten.  Gefangenenrechte, das war sein großes Thema. Auch zu mir hat er Kontakt gesucht. Sehr höflich, sehr zugewandt, sehr genau meine Anliegen aufgreifend: mehr Bildungs- und Kulturangebote für Gefangene, verbesserte Kontaktmöglichkeiten, offene Wohngruppen. Über seine Delikte haben wir nie gesprochen. Das ist ein Gesetz hier: Man fragt nicht nach den Gründen, warum einer hier ist. Nur wenn einer von selbst reden will. Bis die Psychologin mir sagte: Schau dir seine Akte, bevor du dich mit ihm einlässt.“

Ich will Einwendungen machen. Hat nicht jeder eine zweite Chance verdient? Sagt das nicht gerade Gerald immer? Muss das nicht auch für diejenigen gelten, deren Taten wir besonders abstoßend finden? Ich hatte doch auch Mitleid mit dem Fliesenleger, der seine Stiefmutter erstach. Warum fühle ich einen Eisklumpen an meiner Herzspitze, so kalt, dass ich den hier töten könnte, wenn ich dran denke, wie er seine Hand auf Bines Schenkel legt? Er hat es Bine gesagt, dass er im Knast war. Hat er Bine gesagt, weswegen er drin war? Ich weiß es nicht. Man fragt eben nicht nach, wenn der andere nicht von sich aus redet. Man will ihn nicht in die Enge treiben, der hat doch schon genug durchgemacht, was man sich nicht vorstellen kann. Man ist doch liberal und will auf keinen Fall wirken wie die Idioten, die jeden brandmarken, der mal im Knast war. Er engagiert sich sehr gegen staatliche Repression. Er hat einen Vortrag gehalten im Autonomen Zentrum gegen die Methoden des Überwachungsstaats. Da waren wir sehr einverstanden. Guter Redner, übrigens.

„Mehrere Gutachter haben ihn untersucht. Sie sind alle zu demselben Ergebnis gekommen. Er hat keinerlei Schuldbewusstsein. Seiner Ansicht nach haben die Jungen ihn verführt mit ihren Blicken und Gesten, die er, um das zu dokumentieren, fotografierte. Er gilt als hochgradig gefährlich. Die meisten Gutachter halten ihn für nicht therapierbar. Die Frage stellt sich aber nicht, weil er eine Therapie ablehnt. Es war Liebe, ist sein Standardspruch. Er hat seine volle Zeit abgesessen. Da konnten wir nichts mehr tun.“

Wir. Gerald sagt „wir“ und meint damit den Justizapparat, die Strafvollzugsbehörde und die Polizei. So habe ich Gerald noch nicht reden hören. Gerald ist Pfarrer in der Justizvollzugsanstalt, in der ich Alphabetisierungskurse gebe. Gerald nimmt sonst die Perspektive der Gefangenen ein. Er bemüht sich, Kontakte nach „draußen“ zu organisieren; er veranstaltet Fußballturniere und Rockkonzerte; Gerald ist der typische „Gutmensch“, gegen dessen Verständnis für Straftäter die Rechte polemisiert. Aber Gerald sagt „wir“,: Wir müssen ihn scharf überwachen, wir müssen ihn in seiner Wohnung aufsuchen, unregelmäßig, damit er begreift, dass er beobachtet wird, wir müssen ihm klar machen, dass er sich an die Auflage halten muss: Kein Kontakt zu Kindern und Jugendlichen.

Er gibt Nachhilfe, denke ich. Bine hat mir erzählt, dass er Nachhilfe gibt. „Er braucht das so sehr“, hat sie gesagt, „auch wenn es kaum Geld bringt. Der Kontakt zu den jungen Menschen, eine Aufgabe, das Gefühl gemocht und anerkannt zu werden, du kannst dir nicht vorstellen, wie viel das in seiner Situation ausmacht.“ Das ist das Muster, denke ich. So hat er es immer gemacht. „Er gibt Nachhilfe“, sage ich zu Gerald. Gerald schaut mich an. „Bist du sicher?“ „Ja. Die Freundin, mit der er zusammen ist, hat es mir erzählt.“ „Ok.“, Gerald greift zum Hörer. „Das müssen wir melden.“ Mein Magen zieht sich zusammen. „Kann ich...?“ Ich schaue Gerald flehend an. „Was?“ Er hält einen Moment mit dem Tippen der Nummern inne. „...sie vorher anrufen?“ „Deine Freundin? Erst danach. Das ist unsere Chance, ihn zu kriegen. Wenn er sich über die Auflagen hinweg gesetzt hat, fährt er wieder ein. Und lange.“

Gerald nimmt mir die Entscheidung ab. Er tippt die Nummern und ich falle ihm nicht in den Arm. Der Apparat läuft an. Man wird observieren, Gespräche führen, verhören. Es wird rauskommen. Nicht alle werden für den lügen. Aus dem Auto, noch auf dem Parkplatz, rufe ich Bine an, um es ihr zu sagen. „Es war Liebe.“, schreit sie. „Verstehst du das nicht? Es war Liebe.“ Er wird für viele Jahre ins Gefängnis gehen. „Ich liebe ihn“, heult Bine. „Ich hasse dich.“

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen