Dienstag, 22. Mai 2012

Abermals "so Tage": Das Talent der Talentfreien


Sie hatte schon öfter „so Tage“ (nicht dass sie „ihre Tage“ hätte, das fühlt sich anders an, quälender und austreibender). So Tage sind Tage, an denen sie merkt, wie verkehrt sie lebt und was sie alles falsch macht, wie überflüssig ist, was sie tut und kann, und wie wenig davon auch nur für sie von Wert ist und erst recht für keinen anderen. Dann werden die Lider über den Augen schwer, die sich nicht schließen lassen, aber schließen müssten, weil es nichts zu sehen gibt, was sich lohnt, dann schnürt sich der Hals zu und erstickt ihren Widerstand gegen die Trübsal, so dass sie keucht, als sei sie so alt, wie sie sich fühlt. Das sind „so Tage“, an denen sie in den Augen der anderen forscht, ob die es auch merken, dass da niemand ist, der hier wohnt hinter dieser Stirn, nur ein gut gemachter Fake: Mutter, Pädagogin, Kunsthistorikerin, Doktor Sowieso, Frau, Geliebte, tut nur so, zero, zero, da ist nix und kommt nix und wird nix, nur Maskeraden. Sei offen und ehrlich, ist eine doofe Aufforderung an jemanden, hinter dessen Fassade gar nichts versteckt ist.  Das sind so Tage. Sie will sich hinlegen. Wenn sie die Hände über der Brust faltet, kann sie sich vorstellen, in einem Sarg zu liegen. Wenn der Deckel zugeklappt würde, käme der Frieden.

Das ist kindisch. Und widerlich. Schäbiges Selbstmitleid wird gnadenlos bestraft. Jetzt wird sie sich aufraffen und Hassobjekte suchen. Es ist gar nicht schwer, fündig zu werden. Die SPD-Troika, zum Beispiel, grinst ihr von einem Foto entgegen. Steinmeier, der Murat Kurnaz in Guantanomo darben ließ, Steinbrück, der sich um die milliardenschwere Rettung der Banken verdient gemacht und sich den Sozialstaat erspart hat und Sigmar Gabriel, der ehemalige Pop-Beauftragte, der die SPD-Frauen als Radikalfeministinnen beschimpft. Bei den Grünen tummeln sich Schwachmaten genug, die jeden von denen frei- und bereitwillig zum Kanzler wählen würden. (Ah, sie fühlt sich schon viel besser!) Das Angebot ist groß: Die Linken lassen sich von einem alten Herrn mit unattraktiver Figur tyrannisieren, dessen Sexyness für eine gutaussehende Frau, die jünger ist als sie, sich ihr nicht erschließt. Auch das kotzt sie aus ästhetischen und anderen Gründen an. Die Erinnerung an seine ehemalige Tusse, die heilige Hausfrau, liefert gleich noch einen Extra-Energieschub. Wen hätten wir denn noch? Gerwald Claus-Brunner, Pirat im Berliner Abgeordnetenhaus gibt sexistische Kackscheiße von sich und fühlt sich anderntags gemobbt. (Sie ist schon fast wieder auf der Höhe.)

Ich habe nicht viele Talente. In der Oberstufe belegte ich Chemie und Englisch als Leistungskurse. Ich kann vieles ganz gut und nichts richtig. Aber ich habe das Talent, mich ganz schnell aufladen zu können, mit Wut und Energie. Ich brauche dazu nicht mal richtig große Anlässe. Es ist immer was im Angebot und ich greife zu. Damit ich über „so Tage“ komme. Frau kann sich ja nicht immer und stundenlang in die Badewanne legen. (Das ist auch nicht gut für die Haut.)

2 Kommentare:

  1. Liebe Melusine,
    zum gestrigen Beitrag hätte ich fast kommentiert, wie froh ich bin, dass Du Dich traust zu schreiben (Zitat), weil ich wachse an dem, was ich in anderen Blogs und vor allem auch in Deinem lesen kann. Gemäß dem Zitat, das ANH einem seiner Briefe vorangestellt hat:
    "Nur das Schwierige ist anregend;
    nur der Widerstand, der uns herausfordert,
    kann unser Erkenntnisvermögen
    geschmeidig krümmen, es wecken
    und in Gang halten.
    José Lezama Lima"
    Ich kann sowohl das Glück nachempfinden, das es für Dich bedeuten muss, dass Du Dich zu schreiben traust, als auch die zyklisch wiederkehrenden Zweifel an Deinem Talent. (Ohne mich mit Dir vergleichen zu wollen. Oder überhaupt in irgendeiner Weise zu messen oder zu werten.)
    Du brauchst ja weder Bestätigung noch Trost, auf die zyklische Wiederkehr der Freude, auch der am eigenen Vermögen und über die wütende Energie hinaus, ist ja ebenso Verlass.
    Mir ist das hier viel wert.
    Herzliche Grüße, Iris

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