Samstag, 23. Juni 2012

DIE LAST DER ARBEIT (Auszug aus "EMMI")

Auszug aus dem letzten Kapitel des Brief- und Blogromans ("EMMI") PUNK PYGMALION 
(Teil 1 "ANSGAR" + 2 "LARS" in der unkorrigierten Fassung Hier: )







Die Andere aber sagte nicht: „Ja, ja, genau.“ Die sagte: „Mein Vater sagt aber...“ Oder: „Was ist, wenn...“ Die wollte wissen, wie im Sozialismus die Last der Arbeit verteilt werden, wie die Körper geschont werden könnten und die Zeit gewonnen zu träumen, zu lesen, zu denken. Da stand der Vater auf, zog einen dicken dunkelblauen Band aus dem Regal und las der vor: „Sowie nämlich die Arbeit naturwüchsig verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muss es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will - während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.“ Die roten Backen von der und die glänzenden Augen brachten auch den Vater noch einmal zum Glühen. Was aber, fragte sie sich und fragte sich das auch noch Jahre später, meinten die, wenn sie so leidenschaftlich von Gesellschaft sprachen und auf Veränderungen drangen? Wie sollte die Produktion geregelt werden von Leuten wie dem Vater, der nicht einmal sein eigenes Leben regeln konnte? Wer war sich seiner eigenen Bedürfnisse und der der anderen sicher genug, um den notwendigen Zwang ausüben zu können, die Regelung durchzusetzen?

Zwar wiederholte sie bereitwillig, was die sagten; sie bemalte die Transparente „Pershing No, Petting Yes“; sie sprach mit von der Überwindung des Eigentums an Produktionsmitteln, sie ließ sich von Wasserwerfern vor Kasernen von der Straße fegen und skandierte im Bonner Hofgarten. Dem „rough guy“ später bestätigte sie die Sinnlosigkeit allen Handelns in falschen Verhältnissen. Ob es um die Erschöpfung des Vaters ging, um den ungebrochenen Optimismus der Freundin oder die Verzweiflung des Punks, - sie verstand deren Gerede vor allem als Ausdruck des jeweiligen Charakters, als Versuch zu überhöhen, was doch unumgänglich war, weil sie eben die waren, die sie waren. Doch fühlte sie auch dumpf, wie ihr eigenes Unvermögen, sich in gesellschaftliche Zusammenhänge zu stellen und in anderen Menschen zu erkennen, sie von allen trennte, nicht nur von jenen, die ihr Weltverhältnis in politischen Begriffen ausdrückten, sondern sogar und noch viel mehr von denen, die ihre Schrebergärten pflegten, ihre Autos wuschen oder die Siege ihrer Fußballmannschaften feierten. Sie konnten den anderen spiegeln, wer sie waren oder sein wollten, aber ihr fehlte das Bedürfnis, von denen gekannt zu werden. Unbegreiflich blieb ihr, warum sie daran litt, dass es so war, und sich schuldig fühlte deshalb. Sie musste, seit sie denken konnte, all ihre Energien darauf verwenden, sich einzufügen in das Bestehende, die Rollen zu füllen, die ihr zugeteilt waren, sie verfügte über keinen Überschuss, der eine andere Welt begehrte, die noch nicht war, so lange ihr doch die, in der sie leben musste, so fremd blieb.

(Typoskript S. 185f)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen