Heute
konnte die Kleinfamilie einen raren Moment der Eintracht erleben bei der
„Entlassungsfeier“ (so wurde die Veranstaltung tatsächlich auf der Großleinwand
im Saal annonciert) des Amazing aus
der Erziehungsanstalt, in der in den letzten acht Jahren versucht wurde, ihn zu
bilden. Die Eintracht ergab sich nicht so sehr aus dem gemeinschaftlichen
Gefühl des Stolzes über den nunmehr amtlichen dokumentierten Bildungserfolg des Sohnes und Bruders (der hatte sich schon vorher eingestellt und war ausgekostet worden: Hier ), als vielmehr aus der
gemeinsamen und vernichtenden Bewertung einiger der Rednerleistungen an diesem
Vormittag. Insgesamt dauerte die Feier dreieinhalb Zeitstunden, die wir –
wie im Nachgespräch einträchtig
festgestellt wurde - mühelos um
die Hälfte hätten kürzen können, wenn man unserer Kleinfamilie die Redebeiträge
vorher zur Redaktion vorgelegt hätte.
Bei
zweien der Redner wäre jedoch eine redaktionelle Überarbeitung eher nicht in
Frage gekommen. Wir hätten dazu raten müssen, diese Beiträge ersatzlos zu
streichen. Nicht zufällig, wie ich meine, wurden diese Beiträge von den beiden
ranghöchsten anwesenden Vertretern des Bildungssystems geliefert. Dem Vertreter
des staatlichen Schulamtes gelang es überzeugend darzustellen, warum an eine
Abschaffung dieser Verwaltungsebene – wie sie zwischenzeitlich in Hessen einmal
diskutiert wurde – nicht zu denken ist: Personen wie diesen Herrn auf minderjährige
Bildungswillige loszulassen, wäre schwer fahrlässig. Es muss eine Möglichkeit
geben, ohne die Staatskasse übermäßig zu belasten, solche Leistungsträger in
Positionen zu hieven, wo der direkte Kontakt mit Schülerinnen und Schülern
nahezu ausgeschlossen ist. Lang und breit erzählte uns dieser breite Herr
davon, wie er 1972 Abitur gemacht habe, dass ihm bei Schülerinnen heute die
sommerlich leichte Bekleidung in der Horizontalen und Vertikalen aufgefallen
sei, warum er sich verschiedene Gedanken über die Symbolik des Kopftuches
bei muslimischen Mädchen mache und dass er prinzipiell die Zeit für gekommen
halte, über vernünftige Kleidung nachzudenken. Sapere aude! Dagegen traktierte
uns der Direktor mit einem wahren Statistikfeuerwerk, dessen
Aussagekraft aber nach seiner eigenen Aussage eher gering sei, man könne,
führte er aus, in vielen Fällen – seiner Meinung nach und so wie er es sehe –
nicht von signifikanten Unterschieden sprechen, dagegen erkenne er in dem Faktum, dass
dieses Mal 51,y Prozent Absolventinnen und 48,x Prozent Absolventen das Abitur
bestanden hätten, eine Trendumkehr, zumindest könne man fast davon sprechen,
denn im Vorjahr noch sei 52,y Prozent jungen Frauen und 47,x Prozent jungen
Männern von ihm an dieser Stelle zum Abitur gratuliert worden. Darüber hinaus informierte er uns
weitschweifig über verwaltungstechnische Abläufe und mediale(?) Irritationen. Das
bringe ich aber nicht mehr ganz zusammen. Am Ende der Rede schaffte er es zu unser
aller Überraschung, den Abiturient:inn:en zu gratulieren. Einträchtig ertrug unsere Kleinfamilie diese Reden, warf sich vielsagende
Blicke und konnte bisweilen ein Kichern nicht unterdrücken, während um
uns herum andächtig geschaut oder gegähnt wurde.
Wir konnten aber auch erleben - um nicht nur zu lästern- , wie jede, auch die beiläufigste Nennung des Namens der
Studienleiterin, die diesen Jahrgang begleitet hat, Beifallsstürme der Schülerinnen und Schüler auslöste,
bis sich am Ende der ganze Jahrgang erhob, um ihr mit einem langen Applaus zu
danken. Sie war zu Tränen gerührt, hielt keine Rede, sondern sagte bloß: „Ich
werde Sie vermissen.“ Das gibt´s auch in diesem bildungsfernen „Bildungssystem“ (oder jenseits
davon). Die Jahrgangsbesten hielten einen bezaubernden und witzigen Rede-Dialog
und am Schluss gab es tatsächlich die Abitur-Zeugnisse für mehr als 180 junge Frauen
und Männer. Los geht´s. (Zum Abi-Ball).
Dreieinhalb Stunden, du Glückliche. Bei mir waren es die beiden letzten Male fünfeinhalb Stunden zu diesem Anlass und ich war - wegen der öffentlichen Verkehrsmittel - gezwungen nach viereinhalb Stunden, die Veranstaltung zu verlassen.
AntwortenLöschenWas wollen die den jungen Menschen damit demonstrieren? Macht wahrscheinlich. Wir haben die Macht euch die Ohren zuzuschwätzen und euch auf euren Stühlen zu halten. Über diese Stühle gãbe es auch einiges zu sagen. Der Großvater hat aus den vergangenen Malen gelernt und hat sich einen Platz am Rand gesucht, den er nach Belieben bei Bedarf verließ.
Das ist kein Trost, dass solch unglaubliche Veranstaltungen offenbar häufiger vorkommen. Es geht sicher genau um das, was du vermutest: Eine Demonstration der Macht - wenn wir euch jetzt noch nicht klein gekriegt haben, dann macht euch klar: Wohin ihr auch kommt, wir sind schon da!
AntwortenLöschenWahr ist aber auch: Erschreckend, wie gut das funktioniert, denn es wäre ja ganz leicht, diese Macht zu brechen. Indem man einfach rausgeht (habe ich wie der Opa zwischendurch gemacht) oder den Redner ausbuht. Geschieht aber nicht. Man sitzt. Ich habe 84 Abi gemacht. Die Feier dauerte eine gute Stunde. Länger hätten wir das Geschwafel auch nicht geduldet. Es gab heftige Kritik an Schule, Schulleitung, hessischer Regierung und Bundesregierung und eine superpeinliche Show-Einlage mit Klampfe und so einem selbst gedichteten "Ein bisschen Frieden"-Gedödel. Dann verabschiedete man sich freundlich von den Eltern, zog in der Altstadt von Kneipe zu Kneipe und ließ es krachen. Uns hätte kein Direktor mit Statistiken voll zu labern gewagt. Da hätte er nämlich ruckzuck vor leeren Reihen gesessen, wenn er Glück gehabt hätte. Ansonsten hätte es ´ne scharfe Reaktion gegeben, Zwischenrufe und Buhs, bis er Schluss gemacht hätte. Es waren andere Zeiten. Ich vertraue trotzdem auf diese Jugend. Ihr Protest ist vielleicht subtiler. Die hören sich das an, machen sich drüber lustig und ziehen ihr Ding durch. Hoffe ich.