Sonntag, 8. Juli 2012

PADUA und BAONE: Anatomische Ohnmacht und museales Eis


Das Blog dient mir auch als Ergänzung jener unleserlichen Notizhefte, in denen ich schon in früheren Zeiten festgehalten habe, was mir unterwegs (auf Reisen, aber auch daheim) auffiel und durch den Kopf ging, allerlei wirre Sätze und sonderbare Träume, Farb- und Schmutzflecke, Zitate, Lektüreeindrücke und jedenfalls niemals nicht die kleinste Handlung. Blättere ich diese Heftchen durch, kann ich kaum mehr was entziffern, allenfalls gelegentlich ein Datum und einen Namen, einen Ort, ein zusammenhanglos bleibendes Adjektiv oder eine Literaturangabe. Im Blog mache ich aus solcherlei Notizen, wie ich sie immer noch anfertige, kleine Geschichten, die vor allem mir selbst rückblickend erzählen sollen, was ich erlebt und gedacht habe. Dabei ist eben jener Akt, die Fetzen und Splitter einem wie immer dürftigen Plot einzuordnen, zwingend schon Teil der Fiktionalisierung. Denn so war es ja gerade nicht, dass sich dies aus jenem ergab oder mindestens nicht so, dass ich das noch wüsste; alles Re-Konstruieren ist im Grunde Konstruktion. Dennoch (oder deswegen) ist es nicht egal, ob man „wirklich“ dort war, ob man die Srovegni-Kapelle von innen gesehen hat (über die Morel gestern schrieb) oder von der Zunge des Heiligen Toni nur gelesen. Selbstverständlich könnte ich eine burgunderfarbene Zunge mit braunen Poren erfinden, bei deren Anblick sich auf der meinen kleine Speichelblasen gebildet hätten, bis aus dem Bauch heraus ein Blubbern aufgestiegen wäre, ein säuerlicher Geschmack in der Speichelröhre, den zu unterdrücken ich die Fingerknöchel um das steinerne Geländer gekrallt hätte, jedoch letztlich unterlegen geblieben wäre und im hohen Bogen neben den güldenen Schrein des heiligen Unterkiefers meine Kotze geschleudert hätte. Das wäre ja keine Kunst, sondern bloß gemein, diese Geschichte zu erfinden, bei der ich freilich Gefahr liefe, der eine oder die andere Leser:in hätte wahrhaftig die Reliquienkapelle in der Basilika zu Padua besucht und könnte meiner Beschreibung unzutreffende Aussagen über die Raumordnung oder Schreingestaltung nachweisen. Egal, aus dieser Nummer käme ich raus; das schöbe ich dann ganz schlicht auf die beschriebene Übelkeit, unter deren bewusstseinsvernebelnder Wirkung mir eben der eine oder andere Fehler unterlaufen sei.

Was hier aber erzählt wird, wenn der Post unter den Labels „Unterwegs“ oder „Tagebuch“ eingeordnet wird, verzichtet auf solche Erfindungen. Warum? Weil der Sinn der Reisen und überhaupt der Erfahrungen genau darin besteht, sich der Illusion zu berauben, „alles sei im eigenen Kopf schon da“. Zwar entsteht schreibend immer Fiktion, weil die „Wirklichkeit“ gar nicht in Worten und Sätzen zu fassen ist, aber es entsteht etwas Anderes, wenn man den eigenen Körper Erfahrungen aussetzt, statt sich solche herbeizudichten. Hätte ich die Zunge gesehen, so wäre womöglich mein – im wahrsten Sinne des Wortes – eingefleischter Anti-Katholizismus durch irgendein Detail ins Wanken geraten, hätte mich, weil und obwohl ich mir das eben (noch) nicht vorstellen kann, möglicherweise doch eine Ergriffenheit gepackt vor dem Jahrhunderte alten konservierten Organ, die mich daran hinderte, zu spotten und – fiktiv – auf den Wunderglauben zu spucken. Das könnte sein. Aber auch umgekehrt wäre es möglich, dass mein Zorn durch die Zunge und ihrer Anbeter sich noch gesteigert hätte und  der Anblick Alpträume ausgelöst hätte, von deren Umfang und Ausgang ich, ohne die Zunge gesehen zu haben, keinerlei Ahnung haben kann.

Padua, so war mir schon beim ersten Besuch aufgefallen, ist eine Stadt der Radfahrer. 60 000 Studenten, so wurde uns bei der Führung durch die Universität erklärt, studieren hier, aber im Straßenbild sind es beileibe nicht nur Student:innen, die ihre bunten Fahrräder durch die Straßen schieben oder mit gefüllten Körben über die Marktgassen rollen, sondern distinguierte Herren im Anzug ebenso wie schicke Blondinen mit Highheels oder junge Burschen in Muscelshirts. Selbst eine Diakonisse sahen wir auf dem Rad. Im Regen fährt man einfach weiter oder balanciert in einer Hand elegant den Regenschirm, während die andere am Lenker bleibt. Am Montag hatte ich den Eindruck gewonnen, die Stadt sei so ruhig, weil so viele Geschäfte eben montags geschlossen bleiben. Aber diesmal wurde mir klar, dass es vor allem der reduzierte Autoverkehr ist, der mir Padua angenehm macht. Es gibt nur wenige ausgewiesene Fußgängerzonen, doch die Gassen in der Innenstadt sind eng und viele Einheimische scheinen das Fahrrad als Fortbewegungsmittel zu bevorzugen. Am Prato della Valle aber fuhren gleich mehrere Nobelkarossen aus den verschatteten Garagentoren, als wir vorbei schlenderten.

Im „Palazzo del Bo“ nahmen wir an einer Führung teil, bei der uns eine strenge, drahtige kleine Italienerin erklärte, welche Macht in früheren Zeiten die Studenten besaßen. Professor Gerolamo Fabrici d´Aquapendente, der den ältesten Anatomie-Hörsaal der Welt bauen ließ, wurde nach langjähriger Lehrtätigkeit in Padua von den Studenten vertrieben. (Das schnell gesprochene, harte Englisch verhinderte, dass ich die Gründe für seine Absetzung ganz verstand.) Ursprünglich sammelten sich in der mittelalterlichen Stadt Lehrer, die von Studenten aus ganz Europa wegen ihres Rufes ausgesucht wurden.  Die Studenten bezahlten ihre Professoren und lebten mit ihnen. Eine universitäre Struktur, eine Berufung durch eine staatliche Behörde u.ä. gab es nicht. (Ja, diese „guten alten Zeiten“ wären so manchem Ordinarius, dem die weitgehende Abschaffung der studentischen Mitbestimmung in den letzten Jahren nur zu gelegen kam, gar nicht angenehm.) Schwül und drückend war es im engen Anatomiesaal, beinahe schien mir noch ein Leichengeruch in der Luft zu hängen, der eben eine solche Übelkeit verursachte, wie sie weiter oben für eine nicht stattgefundene Begegnung mit der heiligen Zunge, erdacht wurde. Doch konnte ich mich bezwingen und lehnte mich schwer an die Vitrine, in der die Sägen und Meißel nachgebildet ausgestellt waren, mit denen die Körper geöffnet wurden. Die Balustraden des anatomischen Hörsaals, den man sich viel enger vorstellen muss, als er auf Fotos erscheint, reichten exakt bis zur Brusthöhe des damaligen Durchschnittsmenschen. Sollte ein Zuschauer in Ohnmacht fallen, so war vereinbart, dass die anatomische Schau unbeeinträchtigt weitergehen konnte. Eingeklemmt zwischen Geländer und Rückwand blieb der Ohnmächtige aufrecht bis zum Schluss der Vorführung stehen, bis ihn seine Kameraden schließlich hinaustrugen.

Berühmtester Lehrer an der Universität zu Padua war Galileo Galilei. Nachdem die Venezianer Padua erobert hatten, übernahmen sie auch die Verwaltung der Universität und die Berufung der Professoren. Jedoch herrschte offenbar ein liberaler Geist und hatten die kirchlichen Autoritäten nicht die Macht, ihre Positionen durchzusetzen. Das zeigte sich nicht nur daran, dass hier der erste Anatomiehörsaal geschaffen werden konnte, sondern auch an der Freiheit von Forschung und Lehre über die Planeten und ihren Lauf, die Galileo genoss. Erst der versuchte Karrieresprung durch den Wechsel nach Florenz führte dazu, dass seine Arbeit unter kirchliche Zensur fiel und er in den letzten Jahren gezwungen war zu widerrufen.

Im Café Pedrocchi
Noch vor dem Besuch des Palazzo Bo hatten wir uns an anderem geschichtsträchtigen Ort ein überteuertes Eis gegönnt: im Café Pedrocchi, das im Zentrum der 1848er Revolution stand. Das Eis war gut, der Kellner sprach ein entzückendes k.u.k-Deutsch und die Originaleinrichtung im roten Salon war bequem und nicht zu plüschig. Der Eis-Preis umfasste so gesehen den Eintritt in ein lebendiges Museum und erwies sich als gerechtfertigt. Das allerdings scheint eine Erkenntnis zu sein, die sich nicht vielen erschließt, weshalb der so überaus freundliche und elegante Kellner sich den Nachmittag über meist die Beine in den Bauch stand. Im grünen Salon des Café Pedrocchi aber, so hatten es die revolutionären Gründer beschlossen, kann sich niederlassen, wer mag und muss nichts bestellen. Auch dieses großzügige Angebot indessen wurde am Freitag nicht von vielen genutzt.

Das Wochenende bringen wir lesend auf Ca´orologio zu, wo die Ruhe nur sonntags um elf gestört wird, wenn die Glocke der nahen Kirche zur Messe läutet. Kurz, aber nur ganz kurz, haben wir überlegt, ob wir dem Ruf folgen sollen...Der Lavendel duftet, die Schmetterlinge flattern, der sanfte Wind hebt leise die Vorhänge unter den Arkaden, wo ich sitze, lese und schreibe. Sie dürfen uns beneiden.

(Zum Trost: Heute früh habe ich meine Mückenstiche gezählt: Zur Zeit sind es 23. Fragen Sie nicht nach Morels!)

3 Kommentare:

  1. Gefällt mir, wie Du immer wieder an diversen blinden Gläubigkeiten kratzt (Auf keinen Fall solltest Du das an den Mückenstichen tun! ;-))
    Ich gönne und beneide, (bin minimalst getröstet) und genieße Deine Reisebeschreibungen.
    Liebe Grüße!

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  2. Leichter geschrieben als getan - nicht zu kratzen, meine ich ;-). Es ist überwältigend, alles: die Hitze, die Mücken, die Kunst und das dolce vita...
    (Gedrückt habe ich mich vor der "blinden Gläubigkeit", wieder mal, oder mich drücken lassen von den Sittenwächtern; ich bin da anfällig und verletzlich an der Stelle - und daher auch schnell ungerecht. Man kann ja hier gar nicht anders, als diese ungeheure Produktivität auch zu bewundern, die der Glaube, der katholische Glaube, erzeugt oder zumindest ermöglicht hat. Morel und ich sprachen heute am Abend noch über unsere Eindrücke von Giottos Ausmalung der Scrovegni-Kapelle - da ist es so präsent: Die Unterwerfung unter die - scheinbar? - göttliche Macht, ihren allumfassenden, unbegreiflichen Willen und zugleich der Widerstand dagegen, der sich schon im Auftrag zeigt, aber auch in jener Vielfalt der Haltungen und Positionen, die in den Figuren gezeigt werden, in ihrer Trauer, ihrer Gleichgültigkeit, ihrer Lust, ihrem Werben, ihrer Angst, ihrer Langeweile..., der Glaube und die Heuchelei...Und dann - es geht doch nicht in diesem Gegensatz auf; es geht über ihn hinaus: das strahlende Blau des bestirnten Himmels...- Ich kann das jetzt nicht hinreichend in Worte fassen, nur andeuten...) Dir auch liebe Grüße!

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  3. Goethe über seinen Besuch im Anatomie-Theater 1786:

    "Das Universitätsgebäude hat mich mit aller seiner Würde erschreckt. Es ist mir lieb, daß ich darin nichts zu lernen hatte. Eine solche Schulenge denkt man sich nicht, ob man gleich als Studiosus deutscher Akademien auf den Hörbänken auch manches leiden müssen. Besonders ist das anatomische Theater ein Muster, wie man Schüler zusammenpressen soll. In einem spitzen, hohen Trichter sind die Zuhörer übereinander geschichtet. Sie sehen steil herunter auf den engen Boden, wo der Tisch steht, auf den kein Licht fällt, deshalb der Lehrer bei Lampenschein demonstrieren muß..."

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