Samstag, 7. Juli 2012

PADUA: Prousts Caritas, Giottos Himmel und der bußfertige Banker


Ein Beitrag von Morel


Giotto: Srovegni-Kapelle
Giotto: Karitas
Swann war schuld. Der elegante Kunstkenner und unglücklich in die legendäre Odette Verliebte hatte eine der Küchenhilfen im Haushalt des Erzählers von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit mit einer von Giottos als allegorische Figuren in der Scrovegni-Kapelle dargestellten Tugenden verglichen. Es war also Swanns Schuld, dass die arme Haushaltshilfe namenlos blieb und als Giottos Caritas in die Literaturgeschichte einging. Wer als Proustleser nach Padua kommt, sucht in der berühmten Kapelle zuerst nach einer Frau, die in der Lesart Prousts Mitleid nicht symbolisiert, sondern allegorisch darstellt, weshalb sie ihre Gaben dem Himmel darbietet wie einen Korkenzieher, den eine Köchin aus der unterirdisch gelegenen Küche nach oben reicht. Wer das überprüfen möchte, muss sich aber zuvor bei den Göttern des Internets anmelden. Das Back Office System der Cappella degli Scrovegni bestätigt dann auch in überirdischer Schnelligkeit, wir mögen uns am Freitag um die Mittagszeit rechtzeitig einfinden, um Giottos Meisterwerk in der Kappelle zu besichtigen. Diese ist ein weiterer Beweis dafür, wie wohlfeil der Spott über die Aussage des Goldman-Sachs-Chefs war, er verrichte nur Gottes Werk. Denn immerhin erkannte Lloyd Blankfein, was auf dem Spiel steht. Wie dem Wucherer Scrovegni, dessen Sohn mit dem Bau der Kapelle seinem Vater das ewige Fegefeuer ersparen wollte, steht Blankfein ein Leben in der Hölle von Gerichtsprozessen und Klatschspalten bevor. An die Stelle von Augustinus Logik des Schreckens (Kurt Flasch) sind die zähen Untersuchungen der Börsenaufsicht getreten, wogegen Dantes Inferno von Murdochs Schlagzeilen abgelöst wurde. Wo aber ist Blankfeins Kapelle? Werden die millionenteuren Werke von Hirst und Koons einige hundert Jahre später immer noch Eindruck machen? Pünktlich finden wir uns in der Biglietteria der Cappela degli Scrovegni ein. Da Gott mit uns allen per Du ist, brauchte ich gar keinen Code vorzuweisen: mein Vorname wurde von einem der Wächter an den Pforten des Kunstparadieses schon genannt, ohne dass ich mein Anliegen auch nur angedeutet hatte. Es folgte der durchaus angenehme Aufenthalt, gemeinsam mit  anderen Kunstpilgern, in einem klimatisierten Vorhimmel, der unseren sonnenmilchigen Schweiß trocknen und unsere irdischen Gerüche neutralisieren sollte, bis wir dem Mikroklima der himmlischen Kunst Giottos standhalten konnten. Auf einem Flatscreen konnten wir einen ersten Blick auf die kommenden Attraktionen werfen. Die über rosige, bäuerliche Backen laufende Tränen der Mütter in Bethlehem ermordeter Kinder sah ich, kurzsichtig wie ich leider bin, nur hier. Aber so ging es uns allen, die wir für eine knappe Viertelstunde die Kappelle endlich betreten durften. Wer alles sehen wollte, müsste die Zeit anhalten. Zu Beginn teilten wir uns unwillkürlich, aber nicht zufällig auf, die einen wendeten sich dem Altar zu, die anderen den Schrecken des Jüngsten Gerichts. Ich suchte panisch nach Prousts Caritas, die aber einfach zu finden war, auf Augenhöhe, hinten links. Doch nicht nur diese Tugend trug menschliche Züge unter ihrer überirdischen Last der Darstellung, alle Tugenden und Laster, alle Figuren Giottos gingen mit ihren charakteristischen Schrullen in diese biblische Bilderserie ein. Die meisten konnten wir wie im Leben kaum erkennen. Auf der Hochzeit zu Kana schlürfte ein phlegmatischer Patriarch seinen Wein. Während Jesus am Kreuz von verzweifelten Engeln umflogen wurde, diskutieren die Notablen unter dem Kreuz noch Prozessdetails oder die letzte Fussballergebnisse. Und am Tag des Jüngsten Gerichts überreichte Scrovegni, der bußfertige Banker, der Gottesmutter ein Modell der Kappelle. Wieder in die sommerliche Schwüle Paduas entlassen, waren wir bereit den Bösewicht zu erlösen. Dank gebührt aber der Stadt Padua. Durch gute Organisation kann jede Besucherin und jeder Besucher wenigsten für eine Viertelstunde, den blauen Himmel über einem Meisterwerk (und dieses selbst) betrachten.

2 Kommentare:

  1. In Combray wird das Haus der Tante Leonie, die ein mehr oder weniger bettlägeriges Leben führt, von der einschüchternden Haushälterin Francoise geführt. Jedes Jahr in den Osterferien wird eine zusätzliche Bedienstete angestellt, um ihr zur Hand zu gehen:

    In dem Jahr, als wir so oft Spargel aßen, war das Küchenmädchen, das sie gemeinhin zu schälen hatte, ein armes kränkliches Geschöpf in bereits fortgeschrittenem Zustand der Schwangerschaft, als wir Ostern ankamen, und alle wunderten sich eher, daß Francoise sie so viele Gänge und Besorgungen machen ließ, denn sie begann allmählich schwerer an der geheimnisvollen Last zu tragen, deren immer schwellendere Form man unter ihren weiten Kitteln erriet. Diese selbst erinnerten an die Houppelanden, die gewisse allegorische Gestalten bei Giotto tragen, deren Photographien mir Swann geschenkt hatte. Er selbst hatte uns darauf aufmerksam gemacht, und wenn er nach dem Ergehen des Küchenmädchens fragte, sagte er jedesmal: "Was macht die Caritas von Giotto?" Angeschwollen durch ihre Schwangerschaft, glich übrigens das bedauernswerte Mädchen tatsächlich bis hin zum Gesicht, den Wangen, die gerade und breit abfielen, ziemlich genau jenen männlich wuchtigen Jungfrauen oder besser Matronen, die in der Arenakapelle die Tugenden personifizieren. Jetzt weiß ich, daß die Tugenden und Laster von Padua ihr noch auf andere Weise glichen. So wie das Bild dieses Mädchens noch durch das hinzugefügte Symbol, das sie wie eine schwere Last einfach vor sich hertrug, erweitert schien, ohne daß sie offenbar seinen Sinn begriff oder ihr Gesicht etwas von seiner Schönheit und geistigen Bedeutung ausdrückte, ebenso scheint die derbe Wirtschafterin, die in der Arenakapelle unter dem Namen der "Caritas" erscheint und deren Reproduktion an der Wand meiner Studierstube in Combray hing, diese Tugend zu verkörpern, ohne etwas davon zu ahnen und ohne daß sich ein Gedanke an Nächstenliebe jemals auf ihrem kraftvollen und gewöhnlichen Antlitz hätte spiegeln können.

    Eric Karpeles: Marcel Proust und die Gemälde aus der Verlorenen Zeit

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  2. Vielen Dank, lieber Bücherblogger, für diese wunderbare Ergänzung, ich schrebe das hier alles mit einem Finger und aus der googlegestützten Erinnerung, herzliche Grüße, Morel

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