Montag, 16. Juli 2012

SCHAU MICH (NICHT) AN - Der Blickwechsel der Kulturen


Wiederaufnahme einer Serie zu Hans Beltings: "Florenz und Bagdad. Eine Geschichte des westöstlichen Blickes"


„Was Kulturen mit Bildern...machen und wie sie Welt in Bilder fassen, führt zum Zentrum ihrer Denkweise.“                                                                                   (Hans Belting)


Angeregt durch eine Auseinandersetzung mit Markus A. Hediger über das Bilderverbot im Dekalog habe ich im September 2010 mit einer Re-Lektüre von Hans Beltings faszinierendem Buch „Florenz und Bagdad. Eine Geschichte des westöstlichen Blicks begonnen, die ich durch Beiträge in diesem Blog begleitete. Weil andere Schreibaufgaben mir dazwischen kamen (vor allem die zunächst auf Michael Perkampus „Veranda“ erschienene Serie „Augen-Blicke“, die ich inzwischen zu einem längeren Essay zusammengefasst habe), brach ich diese Serie zum "Blickwechsel der Kulturen" ab. Die Begegnung mit der geballten Ladung abendländischer Kunst in Italien, im vergangenen Sommer bereits im Rom und in diesem Sommer in Venetien, in Kombination mit der Lektüre verschiedener philosophischer, kunsttheoretischer und belletristischer Texte, die erneut an der eurozentristischen Ausrichtung meines Denkens und Wahrnehmens kratzen, ist das Bedürfnis entstanden, die Auseinandersetzung mit Beltings Studie wieder aufzunehmen und die hierzu im Blog erschienenen Texte zu überarbeiten und fortzusetzen.

Bilderverbot und Weltanschauung
Folgt man  Belting, geht es beim Verbot der Bilder in den monotheistischen Religionen vor allem um eine Weltanschauung, also die Art und Weise, wie man „die Welt sieht“ und mithin auch um eine Erkenntnistheorie. Dient es dazu, die Welt zu verstehen, wenn man sich „ein Bild“ von ihr macht (die „westliche“ Sichtweise) oder verhindert das Bild geradezu die Einsicht in das Wesen der Dinge (die „östliche“ Sichtweise)? Der Umgang mit dem Bild wäre dann, auch jenseits eines religiös begründeten Verbotes, entscheidend  für das Selbstverständnis des Menschen in der Welt. Belting organsiert seine Kulturbeschreibung des Blickes als Blickwechsel, als eine wechselseitige „in Augenscheinnahme“ der Bedeutung von Begriffen und Sehweisen wie „Perspektive“, „Licht“, „Bild“, „Schauspiel“ aus abendländischer (Florenz) und orientalischer (Bagdad) Sicht. Dabei gelingt es ihm, einen kolonialisierenden Blick zu vermeiden. Vielmehr geht Belting von einer gemeinsamen Geschichte beider Kulturen aus, vor deren Hintergrund sich die Differenzen erst ausbilden, die jedoch nicht zu Denkbarrieren werden sollten. 


Das Verbot der Bilder und die Schrift-Religionen
Das Verbot der Bilder verbietet mit Bedacht eine bestimmte Weise die Welt zu verstehen, eine Weltanschauung nämlich, in der ein monotheistischer, körperloser Gott gar nicht denkbar ist. Um also diese abstrakte Gottesvorstellung (und die mit ihr verbundene Dominanz der Schrift) überhaupt erst zu ermöglichen, muss das Gebot erlassen werden:

„Du sollst dir kein Schnitzbild machen noch irgendeine Abbildung, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem was unten auf der Erde, noch von dem, was unter der Erde ist.“

Man kann diese Bilderverbot (und das ist vielfach vorgeschlagen worden) bloß metaphorisch zu verstehen. Als Verbot mithin, sich eine konkrete Vorstellung vom Wesen Gottes zu machen. Diese Lesart ist diejenige, die heute in der christlichen Theologie verbreitete ist: kein Götzenbild, keine Idole, keine Anbetung „falscher“ Symbole und Werte. So verstanden dient das Bilderverbot  manch progressivem Pfarrer in der Sonntagspredigt beispielsweise dazu wider den Götzen Geld zu wettern. Aus der Sicht der Kunst und der Kunstwissenschaft jedoch führt ein solches Verständnis des Bilderverbotes an dessen Kern vorbei.  Es geht vielmehr konkret um das Verbot Gegenstände zu schaffen, die Natur ab- und nachbilden, also um ein Bildungsverbot. 

„Man sieht nur mit dem Herzen gut.“ Wirklich?
Wie sehr mir dieser Poesiealbumsspruch aus dem „Kleinen Prinzen“ auf die Nerven geht, habe ich bereits mehrfach betont. Das Herz sieht gar nichts. Es pumpt Blut durch die Adern, eine wichtige Aufgabe. Wenn einen jemand in bestimmter Weise ansieht, könnte es sein, dass das Herz schneller schlägt. Oder dass es bei einem Anblick aussetzt, auch das ist möglich. Das Gesehene kann das Herz und seine Funktion angreifen. Aber das Herz sieht nichts. Weder gut noch schlecht. (Ich weiß wohl, dass dies metaphorisch gemeint ist. Auch das gefällt mir jedoch nicht. Es unterstellt, dass unsere Gefühle an sich „gut“ sind.) Das Herz also sieht nicht, aber vielleicht das Hirn, statt des Auges. Womit sehen wir? Wo und wie bildet sich das Bild? Von den Antworten auf diese Fragen hängt viel ab, wie Hans Belting in seiner Studie zu zeigen vermag: ganze Seh- und Bildkulturen, Weltanschauungen und Erkenntnistheorien.

Die Macht der Perspektive
Der westlich geprägte Mensch denkt – beinahe zwangsläufig und in seiner Selbstwahrnehmung daher „natürlich“ - , alles sei „eine Frage der Perspektive“, des Durch-Schauens also. Die Perpektive, das Durch-Schauen macht die Bilder-Welt durchsichtig hin auf die Welt, die sie abbildet. Zwar erklärte die perspektivische Theorie der Renaissance ihren Blick mit der Funktionsweise des Auges. Doch zugleich wählte sie diesen Blick als Symbol der Selbstdeutung, indem sie der visuellen Wahrnehmung das Privileg der Welterkenntnis einräumte. Belting schreibt: „Die Kritik beschuldigt die Perspektive, an unserer ´Augensucht´ schuld zu sein und außerdem mit falschen Prämissen gearbeitet zu haben. Doch wir kommen von diesem Erbe der frühen Neuzeit trotz aller Anstrengungen nicht los, sondern bleiben an Sehkonventionen gebunden, die in der ganzen Welt als westliches Patent gelten. Das Zeitalter der Globalisierung steigert noch die Macht der Perspektive, in der sich einmal die koloniale Medienherrschaft ausgedrückt hat.“

Gewollte Täuschung
Es stimmt: Alle Prämissen der Perspektive sind falsch: Es gibt den Blickpunkt nicht, denn wir sind nicht ein-, sondern zweiäugig (Erst die Photokamera wird dieses „perspektivische Subjekt“ technisch durch das Objektiv exakt darstellen). Auch der Fluchtpunkt auf der anderen Seite ist eine reine Fiktion, gezaubert ins Unendliche. Der Raum dazwischen ist ein Raum, der in der Wirklichkeit gar nicht vorkommt, der geometrisch gerade gezogene ungekrümmte Raum. Das Bild, das in diesen Raum gestellt, den perspektivischen Raum „vor unseren Augen“ abbildet,  fixiert täuschend den Raum auf der Fläche. Es ist also alles falsch. Und erscheint unserem Auge doch richtig: Weil der „Bildschirm“, den die Perspektive aufstellt, wie Belting formuliert „eine Metapher für die Anwesenheit des Betrachters ist, der dadurch als Funktion des Bildes überhaupt erst konstruiert wird.“

Aus-Blick: Wir sind „im Bilde“!
Der durchschauende Blick braucht etwas, um hindurch zu schauen. Das Fenster wird eine naheliegende Metapher, um das Prinzip der Perspektive zu beschreiben. Augenpunkt und Fluchtpunkt, die sich beide in der Natur nicht finden lassen, liegen sich im perspektivischen Bild gegenüber. Der konstruierte Blick mit seiner endlichen Reichweite orientiert sich an einem unendlichen fernen Punkt, auf den die Fluchtlinien zulaufen. Eine Polarität zwischen HIER und DORT entsteht.  Romanshyn hat ein wunderbares Bild  hierfür gefunden. Er nennt den Fluchtpunkt eine Abschussrampe, auf der das Subjekt zum Astronauten wird.  „Im Blick nimmt sich der Betrachter das Recht, die Welt gleichsam von einer extremen Position aus zu beobachten. Er kann mit seinem Körper nicht dort sein, wohin sein Blick zielt.“ Weder auf der Retina, noch im Gehirn gibt es eine Fläche, die der des perspektivischen Gemäldes entspricht.  Wir setzen uns durchschauend ins Bild, indem wir den beweglichen Blick stilllegen: Fixieren. Das Bild, das die westliche Kultur prägt, ist eine faszinierende Täuschung des Blickes, durch die  Welt im Bild gebannt wird. Dafür, diese Täuschung zu wollen, gibt es gute Gründe. Denn: Die Perspektive setzt das betrachtende Subjekt ins Bild. Sie ist der persönliche Blick des Individuums in die Welt: seine eigene Perspektive. Sie gibt dem Einzelnen Recht (gegen die "Über-Sicht" – um den Preis der „Täuschung“. Falsch wäre es jedoch nun im Umkehrschluss anzunehmen, das der Über-Blick die Wirklichkeit „in Wahrheit“ sieht.)

Gegen-Blick: Die Perspektive ist der Verrat
Orhan Pamuk, den Hans Belting zitiert, begreift die Übernahme der perspektivischen Malweise durch die Hofmaler in Istanbul als Verrat an der eigenen Kultur. Der Blick, der sich anmaßt, die Welt zu „durchschauen“ ist aber auch der endgültige Verrat am Bilderverbot des allmächtigen Gottes. Dieser Verrat hatte sich schon lange abgezeichnet. Indem sich die christliche Tradition mit der gräko-romanischen  Bildkultur verband, setzte sie auf ein – wenn auch immer wieder umstrittenes Vorrecht – des Sehens. Der „Kult der Bilder“ ist zwangsläufig auch ein Bilderkult.Brisant“, schreibt Belting, „wurde es, als sich die Bilder mit dem Blick verbündeten, denn damit erkannten sie das Recht des persönlichen Blickes gegen die Macht des offiziellen Blicks von Staat und Kirche an. Die perspektivischen Bilder bilden Blicke ab und lehren damit den Betrachter, die Welt als Bild zu verstehen oder zum eigenen Bild zu machen.“

Im perspektivischen Bildkonzept der Renaisssance richtet sich das Bild erstmals am (fiktiven) Augenpunkt eines einzelnen Betrachters aus und rückt damit dessen individuelle Sichtweise als Bild gestaltende in den Blick. Dass aus der mathematischen Konstruktion, die der Westen aus den arabischen Schriften Alhazens zur Geometrie übernahm, ein Bild werden konnte (was eben im Orient nicht geschehen war und nicht hätte geschehen können), lag jedoch daran, dass die Auffassungen von der Funktionsweise des Auges und der Wirkung des Lichts in Ost und West sich schon längst unterschiedlich entwickelt hatten. Diese Vorstellungen bilden, wie Hans Belting schreibt, „das Weltverhältnis zweier Kulturen und ihre Mentalität“ ab.  Die Konsequenzen dieser unterschiedlichen Welt-Sicht zeigen sich bis heute in Missverständnissen und Konflikten zwischen beiden Kulturen.

Bild und Spiegel-Bild
In der Antike gehen die Philosophen in der Nachfolge Aristoteles´ davon aus, dass die Abbilder der Dinge sich im Auge als Bilder niederschlagen. Das Licht selbst wird als Körper verstanden. Ins Auge gelangen also Körper, die die Objekte aussenden. Die Bilder, die im Auge entstehen, sind insofern selbst „körperlich“, d.h. gegenständlich. So entsteht auch der Schrecken vor dem Spiegel, der sich beispielhaft in der Erzählung vom Narziss zeigt: Für die antiken Betrachter war unentschieden, ob das Bild im Spiegel ein bloßer Trug oder selbst ein (fremder) Körper sei. (Bedenkt man diese kulturelle Bedingtheit der furchtsamen Sucht nach der Spiegelung des Selbst, so relativiert sich – vielleicht – auch zum Beispiel Lacans Spiegelstadium zu nur einer Möglichkeit der Selbstidentifikation des Menschen. Es sind eben diese Konsequenzen – die Angst vor der Relativierung -, die einer Begegnung der Kulturen bewusst und unbewusst im Wege stehen.)

Die Präsenz des Lichtes 
Die Augen selbst sind in der antiken Seh-Weise Träger des Lichts; sie empfangen es nicht nur, sondern senden es aus. Das Abbild, das die Künstler von der Welt entwerfen, ist somit aus antiker Sicht „wirklich“, weil es selbst körperlich ist und nicht bloß Verkörperung einer Idee. Die Augen, mit denen die Welt betrachtet werden, sind nicht in unüberbrückbarer Distanz zum Betrachteten, sondern berühren dieses mit ihrer Strahlung gleichsam und erschaffen es mit. (Es ist die westliche Kultur daher auch eine, die sich vor dem „bösen Blick“ fürchten muss: „...wenn Blicke töten könnten...“ Es ist kein Zufall, dass meine persische Freundin diese Vorstellung von der Macht des Auges zum Lachen findet.) Die Präsenz der Körper führt in der Antike zu einer Bilderwelt, während die Präsenz des Lichts in der arabischen Kultur zur Entbildlichung der Welt führt. Reflexion (Wiederspiegelung) und Refraktion (Lichtbrechung) sind zwar optische Tatsachen, aber sie stehen auch symbolisch für verschiedene Weltbilder.“, hält Hans Belting fest.


Die bilderlose Schönheit des Orients
Alhazen, der bedeutende arabische Mathematiker, der dem Westen die Grundlagen der perspektivischen Bildfindung lieferte, war selbst also geprägt von einer Kultur, die sich grundsätzlich von der antiken Welt-Sicht und deren Bildfixierung unterschied. Erst dies ermöglichte ihm offenbar, die optischen Phänomene aus einer „mathematischen Perspektive“ zu untersuchen und auf diese Weise die Grundlagen für eine perspektivische Bildgestaltung zu schaffen. Zwar hat auch in Alhazens Theorie das Licht eine physische Existenz, viel interessanter sind ihm jedoch die „Verkehrswege“ des Lichts in ihrem geometrischen Verlauf. Das Licht selbst ist kein Körper, sondern nutzt die Luft als medialen Körper der Übertragung. Logisch entsteht aus dieser Fixierung auf das Licht ein „Weltbild“ ohne Bilder, da das Licht seiner Natur nach bildlos ist. Das Licht wird sichtbar an den Körpern, aber es ist kein Gegenstand und daher auch nicht „abbildbar“. Aus dieser Seh-Weise entsteht eine Hierarchie der Körperwelt, denn sichtbar werden die Körper nur, wenn sie opak sind und das Licht „ablenken“. Die „himmlischen“ Körper hingegen sind transparent und lassen das Licht in seiner Reinheit „ungebrochen.“ Ins Auge fällt einzig das Licht, alle anderen Eigenschaften, die den Körpern zugeschrieben werden, „bilden“  sich nach dieser Theorie erst im Gehirn: Größe, Dichte, Transparenz, Zahl, Farben, Entfernung, Bewegung. Sie beschreiben nicht das Sein der Dinge, sondern lediglich deren Wirkung in der Wahrnehmung. Optische Gesetze gelten nur in der „sichtbaren“, d.h. der äußeren Welt.  Erst durch die Imagination „in uns“ kommt jedoch das Bild zustande.

In der arabischen Kultur liegt mithin die Schönheit des Sichtbaren nicht in der Gestalt der gegenständlichen „Natur“, sondern in der Abstraktheit der physikalischen Gesetze, denen das Licht folgt. Im Auge erzeugt das Licht Effekte, die das Gehirn zu trügerischen „Momentaufnahmen“ bündelt. Das „Bild“ ist ein Ergebnis der psychologischen Verfasstheit des Menschen, kein Erkenntnismedium. Daher kann in der arabischen Kultur das Bild niemals den Text dominieren. Die sichtbare Welt ist nicht „für unsere Augen da“, sondern muss – wie ein Text – gelesen werden. „Da das Bild in der arabischen Kultur als etwas rein Mentales verstanden wurde, konnte es in physischen Bildwerken nicht analog abgebildet werden.“ (Hans Belting)

Licht und Augenlust
Arabische Kunst bemüht sich folgerichtig um die Abbildung nicht von Gegenständen, sondern der mathematischen Codes, die das Licht beschreiben. Ornament und Schrift verbinden sich zu komplexen Formen, die diesen Regeln folgen. Das fehlerhafte und täuschende „bildende“ Sehen hingegen sollte durch die Geometrie von Sinnlichkeit und Augenlust gereinigt werden. Die geschlossene islamische Architektur verzichtet auf eine repräsentative Fassade, die im Auge des Betrachters den Status des Besitzers widerspiegeln könnte. Stattdessen geht es darum, in den Innenräumen ein „kosmisches Schauspiel“ aufzuführen, dass die transzendentale Schönheit des Lichts und seiner Gesetze darstellt. Den Blick in die Kuppeln der Alhambra (ach, noch nie war ich dort, um es mit „eigenen Augen zu schauen“) verstellt die herrlichen Muster, die das Himmelsgewölbe vorstellen. Die Schönheit trifft das Auge wie das einfallende Licht, das wechselhaft, doch nach immer den gleichen Gesetzen, die kosmische Bewegung symbolisiert. „Spanische Mathematiker können heute nachweisen, dass der gesamte Dekor der Alhambra, ob auf dem Boden oder an den Wänden, originelle Lösungen für mathematische Probleme verbirgt.“ Die Reinheit der Offenbarung zeigt sich, überträgt man diese Sehweise ins Religiöse, in der Reinheit des Lichts, mit der eben das gegenständliche Bild „bricht“. Der bildende Blick ist aus dieser Sicht ein verführerischer, der dazu anlockt, mit dem leblosen Abbild in Blickwechsel zu treten. Darin liegt das Täuschende und das Verbotene der Abbildung des Lebendigen. Das islamische Bilderverbot gilt dem Versuch, das vom Schöpfer geschenkte Leben an das tote Bild „abzutreten“. Denn die Welt wird für uns nach dieser Philosophie nicht sichtbar als gegenständliche (das ist pure Illusion), sondern durch die Strahlengeometrie, deren symbolische Darstellung das Ornament übernimmt. Erst in dieser Kultur, meint Hans Belting, habe der „leere Raum“ gedacht werden können, der die Voraussetzung für die Berechenbarkeit des optischen Prozesses und schließlich auch der perspektivischen Darstellungsweise ist.

Proportion und Perspektive: Glaube und Individualität
Die Bilder-Welt des Westens nimmt mithin auf ihrem Weg zum perspektivischen Bild, das den individuellen Betrachter installiert, einen notwendigen Umweg über die bilderlose Welt des Orients, wo jene mathematischen Voraussetzungen geschaffen werden können, die diesen Blick entwerfen. Wenn gesagt wird, dass von da an im Westen alles eine Frage der (individuellen) Perspektive ist, so gilt für den Orient bis dahin, dass alles eine Frage der (überindividuellen) Proportion ist.

Das Bild aus der Dunkelkammer: Keplers wiedererfundene Camera obscura
In der Renaissance meinte man, den Blick des Auges selbst im perspektivischen Bild abzubilden. Kepler, indem er die Camera obscura, mit der schon Alhazen seine lichttheoretischen  Thesen zu prüfen suchte, nachbaute, entzog dieser Vorstellung die Grundlage. Das Bild auf der Netzhaut des Auges gleicht keinesfalls dem auf der Leinwand. Es wurde deutlich: das perspektivische Bild bildet sich nicht im Auge, sondern im Hirn. Alhazen hatte Recht gehabt. Doch er bezog – wie Belting gezeigt hat – diese Erkenntnis nicht auf eine Bildvorstellung, sondern auf seine Lichtheorie. Bild und Wahrnehmung trennen sich auch im Westen nach Kepler erneut. Das Auge - so sieht man es jetzt - ist eine „natürliche“ Camera obscura. Es sieht noch kein Bild. Doch bildet es den geschlossenen Raum (die Kammer), der die Voraussetzung des Bildes ist.

Hans Belting schreibt in "Florenz und Bagdad" : „Der Bilderapparat der globalen Moderne, den alle Welt seit der Methode von Kodak (1888) benutzt, hatte in der „Dunkelkammer“, deren Name im Fotolabor erhalten blieb, einen direkten Vorläufer. Er führte das Bildprinzip der Perspektive mit anderen Techniken fort. Und noch im Rückblick beweist er, dass es in der westlichen Kultur immer um das Bildermachen gegangen ist, seit sie die arabische Sehtheorie, mit ihrer Mathematik, in eine Konstruktionshilfe für Bilder verwandelte.“

Die Schau des Apparats
Eine technische Vorstellung vom Sehen entwickelt sich, die unabhängig wird vom privilegierten Augenpunkt des menschlichen Betrachters: die Schau des Apparats.  Die Bilder entstehen jetzt ohne Beteiligung des Subjekts. Das ist freigesetzt - der Euphemismus, mit dem in der Gegenwart die Arbeitslosigkeit umschrieben wird. Das freigesetze Subjekt, dem die Apparate jetzt die Abbilder liefern, die es zuvor sich selbst zu schaffen glaubte, kann seine Bildungskraft anderswo einsetzen: Ein-Bildungskraft.

Erzählraum und Roman - Vorausschau?
Die Freisetzung der Ein-Bildungskraft jenseits der Metaphysik (in deren Dienst sie die Religionen Jahrhunderte lang stellten) setzt die „Zähmung des Auges“ voraus. Eine Zähmung, die sich ihrerseits aber nicht erneut in den Dienst der „Hüter der Sittlichkeit“ stellen darf. Und so gelangte ich damals zu den Augen-Blicken und dem Versuch, eine Form der „Zähmung des Auges“ zu finden, die nicht den Sittenwächtern in die Hände arbeitet. Doch diesen „Seitenweg“ möchte ich nun verlassen, um Beltings Gedankengang wieder aufzunehmen, genau an jener Knickstelle, wo das perspektivische Bild den vorperspektivischen „Erzählraum“ durchbricht. Denn hier, an diesem Punkt, entwickelt sich aus dem anderen Sehen der Welt auch eine andere Form von ihr zu „erzählen“.

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