(Die Geste des Machens, Vilém Flusser)
„Als
Boris seine Hände um deren Hals legte, davon bin ich überzeugt, wusste er noch
nichts vom Ende. Eine Welt ohne Boris war für mich zu jener Zeit unvorstellbar,
doch ich würde mich schnell an sie gewöhnen und Boris bald schon beinahe
vergessen. Er war viele Jahre für Großvater gefahren, aber als wir das Gut
verließen, zögerte er keinen Moment, sich uns anzuschließen. Er hatte
Großmutter verehrt. Ich glaube, wenn Großmutter, eingehüllt in ihren kostbaren Pelz, auf der Rückbank vor sich hinsummte, fühlte Boris sich erhoben und erhaben. Er hatte sicher auch ihre Tränen um die totgeborenen Kinder
gesehen und, wer weiß, mit ihr gelacht über die törichten Bauern oder die
kichernden Debütantinnen. In der Stadt und ohne Großmutter wirkte er verloren.
Er konnte die Zügel fest in der Hand halten, doch es mangelte ihm an
Fingerspitzengefühl. Bei uns musste er im Haus mithelfen, weil mein Vater sich
keinen Fahrer leisten konnte. Ich weiß nicht, ob und wann er mit diesem Mädchen
aus der Küche anbändelte. Im Schuhschrank hatte ich mich versteckt, als Boris
mit ihr auftauchte. Ich sah die beiden – oder vielmehr seine Hände und ihren
Hals - durchs Schlüsselloch. Sie stritten, so glaubte ich zu verstehen, um einen
Kuss und Geld. ´Du bist dir nichts wert“, schimpfte er. Und sie sagte etwas
wie: ´Mehr als du dir leisten kannst,´ Plötzlich waren seine
Hände an diesem Hals, den ich durch das Loch direkt vor mir sah. Die groben, dunklen Finger und die dicken Adern seines Handrückens zeichneten sich scharf von ihrer zartweißen Haut ab. Sie gab
einen sonderbaren Laut von sich, mehr Erstaunen als Schmerz. Dann verkrampften sich seine Hände. Am 15. August 1890 am Nachmittag, eine ganze Stunde nachdem
man die Leiche gefunden hatte, wurde er abgeführt. Wegen der Spurensicherung
konnte ich mein Versteck erst am späten Abend verlassen. Mein Vater verpasste
mir wegen des versäumten Abendessen mit eigenen Händen eine Abreibung.“
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