"Es sind Gesten, die weder die Absicht haben, die Natur zu vermenschlichen (Kultur zu schaffen), noch den Menschen zu naturalisieren (die Natur für den Menschen zu retten), sondern das Grenzgebiet zwischen Mensch und Welt, die ´Haut´ zu betonen und zu erweitern."
(Vilém Flusser: Die Geste des Rasierens)
„Als
Großmutter sich umbrachte, war das für Großvaters wachsende weltweite
Fangemeinde der endgültige Beweis, wie sehr die Produktivität dieses großen
Mannes unter den schwierigen häuslichen Verhältnissen und dem Unverständnis
seiner Familie für sein Genie gelitten hatte. Wir beerdigten Großmutter am 10.
August 1887 auf dem kleinen Familienfriedhof neben dem Gut. Großvater hatte das
Haus, unmittelbar nachdem er Großmutters noch zuckende Leiche gefunden hatte,
verlassen und war in die Stadt abgereist, um den Weg frei zu machen für
die Säuberungs- und Renovierungsarbeiten, die notwendig wurden, weil Großmutter
sich in einer letzten heroischen, aber schmutzigen Geste mit Großvaters
Rasiermesser die Kehle aufgeschlitzt hatte. Am Gitter, das den Friedhof, der
auf einer Anhöhe liegt, umschließt, wurde mein Vater von Reportern angehalten.
„Das Monster...“, stieß er hervor. Auf der Fotographie, die später in der
Kreiszeitung abgedruckt wurde, sieht man, wie meine Mutter vergeblich versucht,
meinen Vater am Ärmel zurückzuhalten, der für den Fotografen eine gruselige
Grimasse schneidet. Ich stehe halb verdeckt hinter ihr. Meine Augen kann ich
unter der Schirmmütze nicht erkennen. Ich habe Großvater erst auf dem Totenbett aufgebahrt wiedergesehen. Sein Bart war sorgfältig gestutzt wie eh und je. Auf seinen Wangen und Lippen aber schimmerte das kosmetische Rot, das man ihm aufgetragen hatte.“
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