Da
ist es passiert. Ich habe das immer befürchtet: Die Mitgliedschaft in so einem
Buchclub wird sich rächen. Seit langem bin ich – ursprünglich über die
Gewerkschaft – Mitglied in der Büchergilde Gutenberg. Immer habe ich es
geschafft, rechtzeitig aus dem bibliophilen Programm
ein Geschenk für Freunde und Bekannte auszuwählen.* Aber diesmal habe ich den
Termin verpasst und prompt wurde mir der Quartalsband zugesandt. Aber: Glück im
Unglück! Es war ein Buch, dass ich zwar
nicht in deutscher Übersetzung, jedoch im englischen Original ohnehin lesen wollte: Vita Sackville
Wests „Family History“, in der deutschen Übersetzung: „Eine Frau von vierzig
Jahren“.
Bei
den unterschiedlichen Lesarten, die diese Titel nahelegen, geht es in der Tat
„ums Ganze“, um das, was diesen Roman Vita Sackville-Wests ausmacht. Die
deutsche Übersetzung scheint, betrachtet man den Plot „im Recht“ zu sein, denn tatsächlich erzählt Vita
Sackville-West hier vom letzten, vom vierzigsten Lebensjahr ihrer Protagonistin
Evelyn Jarrod. Mrs. Jarrod führt ein privilegiertes Leben als Witwe eines
vermögenden Fabrikbesitzer-Erben, mondäne Trend-Setterin der Londoner High
Society und Mutter eines vielversprechenden Eton-Zöglings. Das Leben der ein
wenig eitlen und auf charmante Weise herrschsüchtigen Frau gerät in eine Krise als
sie sich leidenschaftlich in den 15 Jahre jüngeren Labour-Politiker Miles Vane-Merrick
verliebt und eine Affäre mit ihm beginnt. Obwohl Evelyn Jarrods Sohn Dan, der
in Eton mit seinen sozialpolitischen Ideen und seinem Interesse für Philosophie
ein Außenseiter ist, den Liebhaber seiner Mutter als Mentor verehrt, scheitert
die Beziehung des ungleichen Paares. Während Evelyn nur für diese Liebe lebt
und auf alle Aufmerksamkeiten, die Miles seiner politischen Karriere, seinem
Landgut oder seinen Freunden widmet, eifersüchtig ist, kann Miles es nicht
lassen, ihr seine Macht über ihre Gefühle zu demonstrieren.
Evelyn begreift, dass die Beziehung keine Chance hat und verlässt ihn. Ihr
Leben ist von da an inhaltsleer, eine letzte Begegnung der beiden vertieft den
Graben noch, ihre geschwächten Abwehrkräfte versagen und sie stirbt an einer
Lungenentzündung.
Stellt
man die Liebesbeziehung in den Mittelpunkt, so erzählt Sackville-West davon,
wie ein ungleiches Paar zwischen Generationenkonflikt, Standesunterschieden,
politischen Differenzen und einem Mangel an gemeinsamen Interessen und Freunden zerrieben wird. Sie lebt für ihren gesellschaftlichen Ruf in
einem Milieu, das er verachtet. Er verkehrt in Bohéme-Kreisen und unter
Bolschewiken, die ihr exaltiert und roh erscheinen. Während Evelyn in der
Vorkriegszeit (der Roman spielt in den 30er Jahren des vergangenen
Jahrhunderts) aufgewachsen ist und die viktorianischen Moralvorstellungen und
Klassenunterschiede verinnerlicht hat, sieht der jüngere Miles die
Notwendigkeit, die Gesellschaft zu modernisieren, die Geschlechterrollen
aufzubrechen und sich gegen soziale Ungerechtigkeit einzusetzen. Trotzdem lieben
die beiden einander heftig. Sie erleben auf Miles´ Burg Momente innigen Beisammenseins: „Sie gingen durch den ummauerten Garten; die Doppelspitze des Turms
ragte über ihnen in den blauen Himmel, die Bäume waren winterlich kahl und der
Himmel voller Krähen. ´Ich kann mir kaum vorstellen, dass es hier noch schöner
sein könnte, Miles´. Sie, die früher niemals solche Dinge bemerkt und stets
mehr Bequemlichkeit als Schönheit verlangt hatte, war von der Lieblichkeit der
Natur überwältigt. Ihre Empfindungen vertieften sich: sie hörte es sogar gern,
wenn Miles ihr Gedichte vorlas. ´Ich weiß gar nicht, was du aus mir machst,
Miles.´, sagte sie lachend, ´es scheint, als verwandeltest du mich in einen anderen
Menschen.´“
Evelyn
möchte den Mann, den sie liebt, für sich allein haben, denn der Preis, den sie
für diese Liebe zahlt, ist hoch: Während Miles an den Gewohnheiten, Freunden
und Interessen festhält, die er auch vor der Affäre pflegte, muss Evelyn ihre
sichere Stellung in der Gesellschaft aufgeben, den Tadel und die Verachtung
ihrer Schwiegerfamilie für die „gefallene Frau“, die sich einem Jüngeren an den
Hals geworfen hat, ertragen. Man könnte annehmen, dass Vita Sackville-West, die
mit Violet Trefusis durchbrannte und sich
leidenschaftlich in Virginia Woolf verliebte, für die viktorianischen
Moralvorstellungen, denen sich Evelyn so lange beugt und vor deren Bruch sie
sich fürchtet, nur Hohn und Spott übrig hätte. Aber so ist es nicht.
Sackville-West beschreibt, wie sehr Evelyn, bevor sie Miles trifft, ihre
Position in der Familie Jarrod und in der Londoner Gesellschaft genossen hat.
Die enge Bindung an die Verwandtschaft hat sie nicht als Gefangenschaft erlebt,
sondern als „eine Selbstverständlichkeit“.
Erst durch die Liebe zu Miles wird ihr die Nähe der Familie unerträglich und
sie verlangt nach individuellem Spielraum: „Sie
verachtete sich selbst, weil sie die Ansichten der Jarrods wichtig nahm, und
doch waren sie so tief in ihrem Inneren verwurzelt, dass sie Rücksicht nehmen
musste. Das machte Miles´ Vorschlag zu heiraten so besonders verlockend.
Sonderbarer Weise wollte sie nicht, dass die alten Jarrods Miles deshalb
tadelten, weil er sie in den Augen der Welt kompromittierte. Und doch wusste sie,
dass sie niemals in eine Heirat einwilligen durfte. Es wäre ihm gegenüber nicht
fair. Das war der Grundsatz, an den sie sich strengstens hielt.“
Evelyns
Tragik liegt nicht darin, dass sie in Miles den „falschen“ Mann
liebt oder darin, dass sie an den falschen Normen wider besseres Wissen
festhält. Evelyn, die Miles intellektuell auch in ihren eigenen Augen
unterlegen ist, begreift vielmehr eher als er, dass keine dauerhafte Beziehung nur auf leidenschaftlichen Gefühlen beruhen kann, die die Liebenden von aller
Gesellschaft isolieren. So wenig er sich der Jarrodschen
bürgerlich-spießigen Moral beugen mag,
so wenig kann sich Evelyn in die intellektuellen Kreise integrieren, in denen
Miles verkehrt. Evelyn empfindet die Sprechweisen und das Benehmen in dieser
Gruppe als grob und ungezogen: „Aber
nicht nur, dass sie Themen wie die Notwendigkeit erleichterter Scheidungen
erörterten – Schweden sei da ein vernünftiges Land -, das konnte Evelyn noch
hinnehmen. Sie wusste, dass die Jugend nicht mehr so unwissend war, wie sie
sein sollte –vielmehr flößte ihr die bedingungslose Offenheit Entsetzen ein,
diese Offenheit über Einkommen, über ihr eigenes und das anderer Leute, diese
Offenheit über ihre Gefühle. Solche Themen waren in der Welt der Jarrods
tabu...Doch hier im Hause der Anquetils gab es keine Zurückhaltung. Alle hatten
ein Verlangen nach Wahrheit; das war noch der mildeste Ausdruck, mit dem man
ihr Verhalten bezeichnen konnte.“ Diesem Verlangen nach „Wahrheit“, das
weiß Evelyn, hält ihre Beziehung zu Miles nicht stand. Denn er will „die
Wahrheit“ über Evelyn, über ihre Begrenztheit, ihre Ängste und ihr Alter
schlicht ausblenden, so lange sie ihn nur in Ruhe seinen Beschäftigungen und
seinen Interessen nachgehen lässt. Miles verlangt im Grunde, dass Evelyn sich
in sein Leben fügt. Obwohl er durchaus erkennen kann, dass sie nicht
hineinpasst, unternimmt er keinerlei Versuch, einen Kompromiss zu finden.
Sackville-West zeigt hier, wie das Streben nach „Wahrheit“, der Anspruch auf
„Ehrlichkeit“, zu Rücksichtslosigkeit wird.
Doch
die Liebesgeschichte der „Frau von vierzig Jahren ist auch eine „Family
history“ und deshalb werden die spießigen Jarrods so wenig wie Evelyn als Karikaturen
gezeigt. Denn Sackville-West ist, so unkonventiell ihre Ehe mit dem gleichfalls
bisexuellen Diplomaten Harold Nicolson war, eine durchaus konservativen Werten
verpflichtete Autorin. Es gibt leidenschaftliche Liebe und es gibt die Familien,
die über Generationen hinweg Sinnzusammenhänge stiften, die über den
Individualismus der Moderne hinausweisen. Auch Miles, der Sozialreformer, der
zum Entsetzen seines adeligen Vaters für die Labour-Partei kandidiert, ist in
diese Zusammenhänge eingebunden. Die ererbte Burg in Kent, auf der er lebt und
das Land, das er als Gutsherr bewirtschaftet, verschaffen ihm jene tiefe
Verwurzelung, die es ihm erst ermöglicht, frei zu denken und Neues in Angriff
zu nehmen. In Sackville-Wests Roman werden die entwurzelten Erben, die nur noch
die Formen der Vergangenheit wahren, der schärfsten Kritik unterzogen. Viola
Anquetil, eine ältere Freundin Miles, mit der auch Evelyn sich vorsichtig
anfreundet, erläutert, so darf man annehmen, Sackville-Wests eigene Sicht auf
das moderne England: „´Nun, ich meine,
dass Miles eine Rückkehr zum Urtyp ist. Der Engländer von Stand und Erziehung
war nicht immer das vorsichtige, gehemmte Geschöpf, das er heute ist. Es hat
eine Zeit gegeben, in der er sich weder seiner Gefühle noch seiner Kultur
geschämt hat. Er war damals in gewisser Hinsicht roher und ungeschliffener –
weniger ein Gentleman nach moderner Sichtweise, aber eher einer im wahren Sinn,
wie ich ihn sehe.“ Miles Stärke und Erneuerungswille, so erschließt es sich
den beiden Frauen im Gespräch miteinander, gehen nicht, wie er es sich vielleicht
einbilden mag, aus seinem
selbstbewussten Ego, seinem Intellekt und seinen vernünftigen Überlegungen
hervor, sondern beruhen auf seiner Bindung an die Traditionen, denen er sich
verpflichtet fühlt. Evelyn wird im Gespräch mit Viola klar, dass Leidenschaft
und Liebe nicht genügen, um Miles an sie zu binden. Sie wird aus seinem Leben
verschwinden müssen, nicht weil er sie nicht oder nicht genug liebt, sondern
weil sie, die ältere Frau, mit der er keine eigenen Kinder mehr haben wird, diese
Traditionen nicht gemeinsam mit ihm wird weiterführen können. Auch Evelyns Schwiegervater, der alte Jarrod, weiß, dass die Zwischengeneration, seine
jüngeren Söhne, nicht geeignet ist, sein Vermächtnis fort- und in eine neue
Zeit zu überführen. Der Aufstiegswille, der seinen Selfmademan-Erfolg möglich
machte, ist bei ihnen zu einer bloß formalen Anpassung an die Oberschicht
verkommen. Er setzt deshalb auf den Eigensinn des Enkels, den er aber nicht
versteht in seinem Widerwillen gegen die Vergnügungen des Adels und mit seinen
sozialreformerischen Ideen. Evelyn, die niemanden, nicht einmal Miles, so
selbstlos liebt wie ihren Sohn, muss für Dan die Brücke zu den Traditionen
sein, von denen her er das Erbe seines Großvaters modernisieren kann. Der Verzicht
auf Miles, den sie leistet, ist daher zwingend. Die Frauen, alle Frauen in
diesem Roman, wissen das, was die Männer, die sich an ihre Egos klammern, nur
ahnen: Der Individualismus kann die Bedingungen für seine Entfaltung selbst
nicht schaffen.
Vita
Sackville-West erzählt „Family History“ aus der personalen Perspektive vieler
verschiedener Figuren, sowohl der Männer wie auch der Frauen. Die „allwissende“
Erzählerin selbst tritt dagegen nicht hervor, sondern vielmehr zurück. Was sie
wissen muss, wird vielfach gerade nicht erzählt.
Bezeichnend und wunderbar ist beispielsweise die Szene, in der Miles und Evelyn
sich in einander verlieben. Die Leserin erlebt es nicht mit, sondern wird
Zeugin des Geschehens aus der nur halbbewussten Wahrnehmung der jungen Ruth
Jarrod heraus, die an diesem Abend zum Ball gekommen ist, um die von ihr
angebetete Evelyn mit Miles bekannt zu machen, in den sie ein wenig verschossen
ist. Das junge Mädchen ist erotisch dabei mindestens so sehr von der Eleganz
und Schönheit der älteren Frau angezogen wie von der des jungen Mannes, für den
sie schwärmt. Ruth sieht Evelyn mit Miles tanzen: „Ruth tanzte weiter und wartete auf die nächste Drehung, mit der sie den
dunklen und den blonden Kopf, die so gut zueinander passten, noch einmal
genauer sehen konnte. Eine verwirrende Zärtlichkeit überwältigte sie, als sie
diese beiden so unerwartet zusammen sah, die beiden, die sie bisher nur einzeln
wahrgenommen hatte: Evelyn, die sie offen liebte, und Miles. Miles, von dem sie
wusste, das sie ihn jeden Augenblick ebenso lieben könnte, so wie eine
Explosion ausgelöst wird, wenn die vorbereitete Sprengung entzündet wird.“
Was wirklich geschehen ist, wird Ruth erst wenig später klar, als sie dem Paar
auf der Treppe begegnet: „Die beiden
lächelten ihr flüchtig zu, blieben aber nicht stehen. Ruth kehrte wie benommen
in den Ballsaal zurück und hatte das Gefühl, als sei etwas geschehen, das die
Lichter getrübt hatte. Als Vane-Merricks Tanz kam, ließ sie ihn aus.“ Ruth
Jarrod wird später versuchen, sich
an Evelyn für diese Schmach zu rächen. Die Beziehungen zwischen den Frauen in
diesem Roman sind keineswegs konfliktfrei. Es geht auch hier, „unterhalb“ der
Ebene von Öffentlichkeit und Politik um Macht, Eitelkeit und Besitz. Doch der
Preis, den die Frauen für das moderne Streben nach Individualität zahlen, ist
ungleich höher als derjenige der Männer. Denn sie sind als Garantinnen der familiären Genealogie das Fundament, von
dem das individualistische Streben ausgeht. Liebe bleibt für die meisten von
ihnen die einzige Ausdrucksform ihrer Individualität. Weil Liebe aber zugleich
das ist, was die familiären Bindungen schaffen soll, muss eine individuelle
leidenschaftliche Liebe tragisch scheitern. Miles, so zeichnet sich ab, wird
vielleicht sein Glück in einer leidenschaftslosen, aber freundschaftlichen
Beziehung zu Viola Anquetils Tochter Lesley finden. Doch ganz zum Schluss darf
die Liebe noch einen kleinen Triumph über die „Familiengeschichte“ feiern.
Viola kommt, um die sterbende Evelyn zu pflegen: „Du weißt ja, wie die Jarrods sind: Familie, Familie, Familie! Die
persönlichen Gefühle scheinen bei ihnen überhaupt kein Gewicht zu haben.“
Sie setzt sich gegen die Familie durch und lässt Miles kommen, um von der
Sterbenden Abschied zu nehmen: „Er war
einfach eins geworden mit ihr in dem dunklen Raum, ohne eine andere körperliche
Berührung als die ihrer Hand, die in der seinen lag.“
„Eine
Frau von vierzig Jahren“/“Family history“ ist ein Roman, der die Familie nicht
denunziert, aber dafür plädiert, sie aus einer Partnerschaft von Mann und Frau
zu entwickeln, in der nicht die Frau das „Fundament“ der Familie ist. Dass eine
solche Familienbindung, in der Eifersucht und wechselseitige Besitzansprüche
zurückstehen müssen, aber individuelles Begehren Raum hat, nicht schmerzfrei
zu leben ist, hat Vita Sackville-West aus eigener Erfahrung gewusst. Ihr Sohn
Nigel hat der schwierigen Ehe seiner Eltern in „Portrait of a marriage“ ein
Denkmal gesetzt.
* Für mich selbst kaufe ich inzwischen ja nur noch als
gedrucktes Buch, was als E-Book nicht zu haben ist. Englischsprachige Titel sind indes fast
immer als Kindle-Version herunterzuladen.
Vita Sackville-West: Eine Frau von vierzig Jahren, Edition Ebersbach € 24,90 (günstiger: antiquarisch als Taschenbuch
Nigel Nicholson: Portrait of a marriage (antiquarisch)
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