Montag, 20. August 2012

DOCUMENTA 13 (3): Zeiten.Wende - Verweigerung und Einlass


"Die Ausstellung als Objektschau könnte damit tatsächlich obsolet geworden sein und in dem Moment, in dem das Objekt seine Funktion im Rahmen einer Demokratisierungsbewegung von Kultur erfüllt hat, einer wieder stärker auf das Subjekt ausgerichteten (jetzt allerdings weniger elitär bestimmten) Ästhetik weichen. Die Ausstellung an sich ist damit nicht obsolet. Als ein individueller, ritualisierter Erfahrungsraum vermag sie vielleicht das am stärksten mit der zeitgenössischen Gesellschaft verbundene Ritual zu bleiben - in der Traditionslinie des Formats stehend und mit seiner Legitimationsmacht ausgestattet."


Dorothea von Hantelmann


Wir waren nicht skeptisch, aber auch nicht allzu zuversichtlich. „Neutral“, sagte Morel, als ich ihn nach seinen Erwartungen fragte. Mir ging es ähnlich: Die Äußerungen Carolyn Christov-Barkagiev zu Kunst für Hunde hatten mich irritiert (Ich mag keine Hunde und Katzen; sagte ich das nicht schon mal? Ich habe nichts gegen sie. Ich bin da neutral – und möglichst distanziert zu dem ganzen Viehzeug. Selbst Pferde mag ich nicht, gar nicht! Spinnen hingegen sind o.k. Irrationalerweise klettere ich auf Tische, wenn jemand Ratten erwähnt. Außerdem esse ich Fleisch. Nur nebenbei und wegen der Subjektivität, von der her hier ALLES wahrgenommen und gedacht wird.)

Ein Interview mit Chus Martinez im Deutschlandfunk dagegen hatte mich fasziniert. Ich teile ihre Einschätzung, dass wir in einem Epochenumbruch leben, an dessen Ausgang nichts so sein wird, wie es war: Kultur, Wirtschaft, Politik, Gesellschaft. Die alten Muster der Beschreibung, der Kritik, der Analyse, des Urteils greifen nicht mehr, während unsere Wahrnehmung selbst sich verändert. Denn wir haben  eben nicht die Wahl, ob wir vom Anthropozentrismus der monotheistischen Schriftkulturen, vom Patriarchat, von einem linearen Zeit- und Geschichtsverständnis, vom Denken in Dichotomien (Leib und Seele, Mann und Frau, Kapital und Arbeit - zum Beispiel) und vom Begreifen der Welt über produzierte Objekte Abschied nehmen wollen. In unserem Alltag vollzieht sich der Wandel all dieser Weltverhältnisse, über die wir uns so lange definiert haben. Kulturen treten mit uns in Beziehungen,  die wir nicht länger als Unterordnung unter unseren Machtanspruch gestalten können, die sich nie über die Alphabetisierung (die Verschriftlichung des gesprochenen Wortes) verstanden haben, deren Geschichtsverständnis nicht linear war, deren Selbstverständnis keine Leib-/Seele-Dichotomie kennt; wir erleben, wie die Produktion von Objekten an Bedeutung verliert, während ein Wirtschaftssystem, das sich weiterhin über einen daran orientierten Begriff von Arbeit und Wohlstand definiert, von einer Krise in die nächste schlingert. Die Dominanz einer bestimmten Sichtweise auf Welt und einer bestimmten Form der Wahrheitsproduktion ist unwiderruflich an ein Ende gelangt.

Die Macherinnen der documenta 13, so habe ich Chus Martinez in diesem Interview verstanden, haben aus dieser Gegenwartsanalyse den Schluss gezogen, dass es zur Zeit kein Verlangen nach umfassenden Systemerklärungen und theoretischen Grundsatzdebatten gibt, sondern nach Fragen, Experimenten, Erinnerungen, Aufbrüchen,  auch lehrreichen Rückschlägen. Es geht im Grunde darum, den Schatz unserer (untergehenden) Kultur so zu bergen, dass er in dem Neuen, das entsteht, aufgehen kann; darum, ein möglichst vielfältiges, wenngleich nicht beliebiges Repertoire an Möglichkeiten, Haltungen, Einstellungen zu „retten“ (um es einmal unverstellt pathetisch auszudrücken). Der Maßstab, der hierbei vor Beliebigkeit schützt, ist, ob eine Arbeit sich durchlässig machen kann für die Erinnerungen der Anderen, für Wahrnehmungen, die sich nicht länger auf das produzierte (und käufliche) Objekt fokussieren, sondern an den damit möglichen Erfahrungen und Prozessen  orientieren und die Vielfalt an Praxen, die ermöglicht werden. Eine solches „Konzept“ ist in jedem Fall risikoreich. Es kann – wenig grandios – misslingen, eben weil es nicht auf etwas (auf „Positionen“, Künstler-Persönlichkeiten oder Marktgängigkeit bzw. - ablehnung) setzen kann, was schon da ist.

Wir waren nicht skeptisch, aber auch nicht allzu zuversichtlich. Wir hatten Glück. Aber erst einmal standen wir an. Am Samstag entschieden wir, unseren Rundgang im Kasseler Hauptbahnhof zu beginnen. Vor dem Offenen Kanal hatte sich eine lange Schlange gebildet, in die wir uns reihten. Was uns bevorstand, ahnten wir nicht; aber es wurde ein großartiger Einstieg in diese documenta. Janet Cardiff und George Bures Miller, zwei Kanadier, die in Berlin leben, haben einen Video-Walk durch den Hauptbahnhof entwickelt. Die Besucherin erhält einen ipod, auf dessen Display der Gang durch den Bahnhof zu sehen ist, den sie, geleitet von Cardiffs Stimme, antritt. Die (A-)Synchronität des eigenen Gehens zum filmisch dargestellten, die zugleich fiktive, dokumentarische und reale Raumwahrnehmung, die Überblendung der realen Geräusche mit jenen im Film, der in der Hand liegt, erzeugt einen eigentümlichen Wandel der Gefühle und Wahrnehmungsweisen: von der wohltuenden Anleitung zur einschränkenden Direktion,  von der Sicherheit zur Unsicherheit, von der Gegenwart in die Vergangenheit, von der Wirklichkeit in den Traum. Cardiff/Miller führt die Besucherin zu einem Denkmal, das Schulkinder für die aus Kassel in die Lager deportierten Juden errichtet haben und bis hin zu jenem Gleis, von dem aus die Züge „wahrscheinlich“ fuhren. Geräusche überblenden sich: Die tatsächlich abfahrenden Züge, das Rattern der Räder aus den Kopfhörern, die einfühlsame Stimme der Sprecherin, die ihres ausgewanderten Großvaters gedenkt, die Ansagen aus den Bahnhofslautsprechern. Es gibt keine Aufmerksamkeit, die „angemessen“ wäre. Es gibt die Möglichkeit, innezuhalten. Für eine Weile. Es geht  weiter, dann: Zurück. Es gibt Momente der Erschöpfung. Der Sprecherin, der Vor-Gängerin. Sie fordert auf, sich im Warteraum zu setzen. Ein Raum, um zu warten. Später geht es wieder durch die Halle. Dort oben kommen wir noch hinauf, bestimmt. Als wir in der Halle Schlange standen, sahen wir Menschen mit ipods in einem schmalen Gang über den Säulen des Bahnhofeingangs stehen. „Die Leute werden dich von da unten sehen.“, sagt die Sprecherin nun zu mir. Die Schlange ist immer noch da, länger geworden. Nein, nicht die Schlange. Eine andere Schlange. In der ich nicht mehr bin. Denn ich bin jetzt hier, im Gang. Kann von oben herabschauen. Erwischt. Wir werden erwischt. Angehalten. „Was haben Sie hier zu suchen?“, wird bestimmend aus den Kopfhörern gefragt. Ich zucke. Die Sprecherin zögert, erklärt sich. Wir müssen diesen Gang verlassen, einen Hinterausgang hinaus; dann doch nicht:  Wir gehen, wie wir kamen. Aber anders. Mit einem anderen Schritt. Achtsamer. Behutsamer. Behüteter, auch. Wir sahen vorher noch Tänzer im Bahnhofsvorraum auf unserem Display. Ein Liebespaar. Manche warten ewig. Ich gebe den ipod ab, bekomme meinen Personalausweis zurück. Da bin ich wieder. Immer noch. Ich habe etwas erfahren. Darüber muss ich nachdenken. Der Morel tritt von hinten an mich heran: „Das hat sich gelohnt.“ Ich strahle.

Der Samstag war ein Wartetag, ein Tag zum Schlange stehen. Das hätte uns ärgerlich machen können. Aber wir hatten eben Glück. Denn das, worauf wir warteten, in einer nächsten langen Schlange im Nordflügel des Hauptbahnhofes, hätten wir auf keinen Fall verpassen wollen: William Kentridges „The Refusal of Time“. William Kentridge ist einer der wenigen schon „renommierten“ Künstler, die zur diesjährigen documenta eingeladen wurden. Wie schon bei anderen Projekten arbeitet er auch in „A refusal of time“ mit Animationsfilmen. Siebenfach werden sie an die Wand der Lagerhalle geworfen, in deren Mitte eine Maschine rotiert, aus jenen Zylindermegafonen, Rädern und mechanischen Gerätschaften, die man von Kentridge  kennt. Riesige Metronome geben auf den Leinwänden den Takt vor, verschiedenen Takt. Im Raum sitzend, stehend, kann man nicht alle zugleich sehen, aber man hört alle, es taktet sich, das Herz taktet sich ein, kann die Takte nicht halten, denn das Herz kann zwar nicht taktlos sein, aber auch nicht verschiedenen Takten gehorchen. So geht das los. Die Zeit rennt. Ein weißer Mann steigt über einen Sessel. Steigt und Steigt. Wieder und wieder: Eilt der sich über den immmerselben Sessel.  Ein farbiges Paar, frühstückend, tanzend. Der Mann muss gehen. Die Uhr ruft. Was ruft die Uhr? Im Takt, außer Takt. Weiter. Schneller. Alle. Alles. Perforierte Lochstreifen lassen künstlichen Regen rinnen. Alles zerfließt. Wagenteile, Megafone, Kannen, Menschen wollen; was wollen Menschen? Alles fließt. Weiter. Weg. Eine Bombe bauen. Ein Mann setzt eine Brille auf. Sichtend. Die Welt schauen, die wegläuft. Keine Zeit. Jemand will seinem Schicksal entfliehen. Keiner entkommt. Lachen und tanzen. Das ist unfassbar. Ich habe fast nichts gesehen, denn ich saß da und was dort zu sehen war, habe ich nicht mitgekriegt. Die Zeit ist mir weggerannt. Ich war mitten in der Zeit. Die Zeit war ich. Ich will mich nicht nach der Zeit richten. Aber wonach dann? „Man müsste das mehrmals sehen. Viele Male. Immer wieder.“ „Nur dafür hat es sich gelohnt herzukommen.“ Kentridges Arbeit ist eindringlich und verstörend, durchdringend und nachhaltig. Was Zeit ist? Ich weiß es nicht, auch nicht, als ich wieder hinaustrete in das gleißende Sonnenlicht des zweitwärmsten Tages des Jahres. Aber ich weiß, was sie mit mir machen kann.

So begann unser Rundgang über die documenta 13, mit diesen beiden Erfahrungen multimedialer Kunst, die die Zuschauerin nicht zur Ruhe kommen lassen und ihr dennoch Konzentration und Aufmerksamkeit abverlangen, die ihr (auch körperliche) Erfahrungen zumuten. Beiden Arbeiten gemeinsam ist, dass der Künstler/die Künstlerin nicht unsichtbar bleibt. William Kentridge ist der Mann, der über den Sessel klettert und die Welt sichtet. Janet Cardiff zeigt sich nicht nur mit ihrer Stimme, sondern auf dem Display auch einmal unten am Gleis, worauf sie die Betrachterin hinweist: „Das da unten im weißen Mantel bin ich.“ Für beide Arbeiten ist das nicht ohne Belang.  Weil zwischen Autorschaft und Publikum  nicht mehr das Werk als Objekt vermittelt, müssen neue Beziehungsformen entwickelt werden. Dabei wird nicht an  die Tradition des Selbstportraits angeknüpft, der das "Ich" zum Objekt wird. Der Künstler/die Künstlerin ist weder Gegenstand des Kunstwerkes noch Schöpfer/in, sondern Mitwirkende/r im Prozess der Gestaltung von Erfahrungsräumen. Vielleicht ist das eine Erklärung dafür, dass in Kassel diesmal auffällig häufig Künstler-Paare oder -Gruppen eingeladen wurden.

Ein Tag (mit Anreise) ist kurz. Nicht einmal im Hauptbahnhof haben wir an diesem Samstag alle Arbeiten sehen können. Einige ließen uns kalt. Nicht immer glücken multimediale Inszenierungen. Manches blieb uns unverständlich. Ich schreibe zum Glück keine Kritik der Ausstellung, sondern erzähle von meinen Erfahrungen. Mit wunden Füßen stolperten wir am Spätnachmittag noch ein wenig durch die Karlsaue. Überall lagerten Gruppen. „Schön, wie viele junge Leute immer noch zur documenta kommen.“ Wasserpfeifen kreisten. Vor Giuseppe Penones „Idee di pietra“, dem Flussstein im Baum versammelten sich die Leihrradfahrer. Bunte Hütten lugten unter den Bäumen hervor.

(e.a.richter weiß, was dort zu sehen und zu erfahren lohnt: hier in den Kommentaren.)


Morgen (- eher Mittwoch?) mehr.

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