Sonntag, 2. September 2012

GIBT ES EIN POKERFACE? (oder: Privilegien-Pussy 2)


Ich habe keines. Mir sieht man stets an, wenn mich was bewegt, wenn auch nicht immer, wie es mich bewegt. Als ich innerlich ein Messer wetzte, hat man mich schon für betrübt gehalten und als ich so traurig war, dass ich die Tränen nur mit Mühe zurückhalten konnte, erschien ich besonders freundlich und zugewandt. Wer ein Pokerface machen will, muss die Reaktionen der anderen manipulieren können, das heißt seine Gesichtszüge und deren Interpretation beherrschen. Das kann ich nicht. Ich weiß wenig über die Wirkung, die meine Grimassen erzeugen können, und ich erkenne mich selbst auf Fotografien oft nur wieder, weil ich wegen Haarfarbe und Kleidung weiß, dass ich das sein muss.

Auf die Frage komme ich, weil sie Gegenstand der Arbeit eines Studenten von Christoph Türcke war, mit dem gerade ein interessantes Interview im Deutschlandfunk geführt wurde, das ich auf meinem Sonntagsspaziergang rund um den Golfplatz gehört habe. Türcke lehrt an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig Philosophie, worunter er offenbar nicht die xte Interpretation der kanonisierten Texte versteht, sondern die Herausforderung und Aufforderung zum Denken über das, „was uns gegenwärtig bedrängt.“ Zum Einstieg ins Studium, so erzählte er im Interview, stelle er den Studierenden die Aufgabe, zu einem Thema zu arbeiten, „über das sie sich schon immer einmal Klarheit verschaffen wollten.“ Dabei können Fragen herauskommen, wie jene nach dem Pokerface, aber auch die spannende nach „der Veränderung von Gegenständen beim Umzug.“  Vielleicht hätte mir ein solches Philosophie-Studium Spaß machen und Erkenntnis bringen können. Wo ich studierte, wurde Ähnliches nicht mal im Ansatz angeboten (Ich habe Philosophie nie belegt, sondern bloß gelegentlich mal eine Veranstaltung, selten mit Gewinn, besucht.) Welche Frage hätte ich Mitte der 80er Jahre klären wollen? Ich kann mich an diese junge Frau nur noch bruchstückhaft erinnern und ich möchte ihr nichts andichten. Doch weiß ich, dass sie sich damals in der Friedensbewegung engagierte, aber mit deren grundsätzlichen Pazifismus nicht übereinstimmte. Die Frage hätte also vielleicht sein können: Wann ist Gewalt gerechtfertigt? Welche Aufgabe würde ich mir heute stellen? Vielleicht diese: Was bleibt?

An der von Türcke diagonostizierten „Aufmerksamkeitsdefizitkultur“ der Gegenwart leide auch ich, denn ich lese Zeitungsartikel nur noch selten zu Ende; von den allermeisten lese ich überhaupt nur die Überschrift. Das ist auch immer öfter bei der tröstlichen Sonntagszeitung für den verletzlichen und verletzten weißen Mann der Fall, die Morel  Woche für Woche zuverlässig ins Haus schleppt. Am heutigen Sonntag hat mein Überflug wieder soviel Un- und Schwachsinn wahrgenommen, dass an eine Revision meiner ignoranten Aufmerksamkeitsverweigerung nicht zu denken ist. Fett wird zum Beispiel auf der Doppelseite 2/3 der schon am letzten Wochenende (siehe den Link oben) behauptete Zusammenhang zwischen RAF und Pussy Riot noch mal behauptet. Ist ja auch wahr: Der patriarchale Paranoiker muss ziemlich was befürchten, wenn die Frauen jetzt nicht mal mehr in der Kirche das Maul halten. Der Zusammenhang zwischen den deutschen Terroristen und den russischen Anarchistinnen bleibt zwar unklar, wird sich aber im wirren Kopf gewisser lesender Herren schon einstellen (Nackte Brüste =  Bombe...  und so...).

Tatsächlich leide ich aber keineswegs an meinem Aufmerksamkeitsdefizit und meiner mangelnden Bereitschaft zu Konzentration und Kontemplation. Ich genieße es vielmehr, nicht auf die Sonntagsausgabe der „Zeitung für Deutschland“ angewiesen zu sein, sondern eine Vielfalt von Informations- und Unterhaltungsmöglichkeiten im Netz zur Verfügung zu haben. Am Morgen aber habe ich Yoga praktiziert, meditiert und zwei Stunden am Stück in Hilary Mantels Historienroman weitergelesen. Ich bin durchaus bereit und in der Lage, mich zu versenken, aber ich halte diese Fähigkeit nicht für eine der Zerstreuung überlegene Kulturtechnik. Schließlich kenne ich viele gleichaltrige Menschen, die sich in ihr kleines Wissens- und Interessengebiet ganz arg verbohrt haben und verzweifelt um die ausbleibende Anerkennung für ihre Tiefenschürfung im Mikrobereich ringen.

Eine Weile habe ich mit dem BenHuRum telefoniert, u.a. um seine Antworten auf die nächsten drei Fragen an Bücherleser:innen (19-21) zu erhalten. Der BenHuRum sitzt zur Zeit mitten im Umzugschaos und hatte etwas Mühe, den Fragen seine volle Aufmerksamkeit zu schenken, weil er gleichzeitig auch noch eine gründliche Rasur vornehmen wollte. So läuft das eben heutzutage: Multitasking, wo man hinguckt und -hört. (Die Fragen und Antworten gibt´s morgen.) Im Rückblick  auf die bisherigen Antworten ist mir aufgefallen, dass Morel und BenHuRum ganz überwiegend die Werke männlicher Autoren angegeben haben, während sich bei mir das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Autor:inn:en etwa 50:50 verteilt. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das kein Zufall ist. Die meisten meiner männlichen Freunde und Bekannten würden keinen höheren Frauenanteil erreichen. Aber beinahe alle würden auf Nachfrage behaupten, ihre Auswahl sei geschlechtsneutral erfolgt. Es ist das ein sehr interessantes Phänomen, das ich auch an mir selbst beobachten kann - und kritisieren muss: Die Privilegierung der eigenen Gruppe wird nicht wahrgenommen, weil sie ganz selbstverständlich als Norm gesetzt wird. Ich habe zum Beispiel in meinem documenta-Text zur Arbeit von William Kendridge zunächst die farbigen Schauspieler:innen als farbig markiert, den weißen Darsteller (Kendridge selbst) aber schlicht als „einen Mann“ bezeichnet. Das ist mir hinterher aufgefallen und hat mich beschämt. Man könnte jetzt vorschlagen, auf beide Markierungen komplett zu verzichten, also weder die Farbigen als Farbige, noch den Weißen als Weißen zu bezeichnen. Das wäre nach meiner Auffassung aber falsch: Denn Kendridges Arbeit bezieht sich auf eine Gesellschaft, die sich mit den Folgen der Apartheid auseinandersetzen muss. Daher ist die Differenz wichtig. Rassismus kann nicht dadurch bekämpft werden, dass man ihn verleugnet. Ähnliches gilt für die Geschlechterdifferenz. Der Spruch: „Wir sind doch alle Menschen.“ ist einer, der immer nur von denen vorgebracht wird und auch vorgebracht werden kann, die ihr eigene Gruppe als menschliche Norm setzen und die die Macht haben, diese Definition durchzusetzen. Julia Lemmle hat die Argumentationsstruktur, die diesem Denken zugrunde liegt, sehr gut dargestellt: „Weiße Universalperspektive und Deutungshoheit“. Lemmle zeigt die Muster am Beispiel von FDP-Anhänger Dieter Hallervorden, was leider die Gefahr birgt, dass einige linke, männliche, heterosexuelle „Universaldenker“ sich in diesen Mustern nicht wieder erkennen (wollen).

Es ist wahrscheinlich, dass jede/r von „uns“ Privilegierten (weiß, Mittelschicht, heterosexuell) solche Setzungen immer wieder unterlaufen. Kinderbücher, Spiele, Filme, Fernsehserien, Werbung, klassische Romane und Philosophie machen uns weis, „unsere“ Perspektive sei universal. Entscheidend ist daher die Reaktion auf die Kritik daran, zu der „wir“ fähig sind: Uns durchlässig machen für die Erfahrungen aller anderen, in dem wir uns selbst als „die Anderen“ wahrnehmen lernen, die wir sind.

Ich habe kein Pokerface: Undurchlässig und (pseudo-)neutral. Man kann auch aufhören, immer gewinnen zu wollen. Nicht nur beim Poker.

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