Ich habe keines. Mir sieht man stets an, wenn mich was bewegt, wenn auch nicht
immer, wie es mich bewegt. Als ich innerlich ein Messer wetzte, hat man mich
schon für betrübt gehalten und als ich so traurig war, dass ich die Tränen nur mit
Mühe zurückhalten konnte, erschien ich besonders freundlich und zugewandt. Wer ein Pokerface machen will, muss die Reaktionen der anderen manipulieren
können, das heißt seine Gesichtszüge und deren Interpretation beherrschen. Das kann
ich nicht. Ich weiß wenig über die Wirkung, die meine Grimassen erzeugen können, und ich erkenne mich selbst auf Fotografien oft nur wieder, weil ich wegen Haarfarbe und Kleidung weiß, dass ich
das sein muss.
Auf
die Frage komme ich, weil sie Gegenstand der Arbeit eines Studenten von
Christoph Türcke war, mit dem gerade ein interessantes Interview im Deutschlandfunk geführt wurde, das
ich auf meinem Sonntagsspaziergang rund um den Golfplatz gehört habe. Türcke lehrt
an der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig Philosophie, worunter er
offenbar nicht die xte Interpretation der kanonisierten Texte versteht,
sondern die Herausforderung und Aufforderung zum Denken über das,
„was uns gegenwärtig bedrängt.“ Zum Einstieg ins Studium, so erzählte er im
Interview, stelle er den Studierenden die Aufgabe, zu einem Thema zu arbeiten,
„über das sie sich schon immer einmal Klarheit verschaffen wollten.“ Dabei
können Fragen herauskommen, wie jene nach dem Pokerface, aber auch die
spannende nach „der Veränderung von Gegenständen beim Umzug.“ Vielleicht hätte mir ein solches
Philosophie-Studium Spaß machen und Erkenntnis bringen können. Wo ich studierte, wurde Ähnliches nicht mal im Ansatz angeboten (Ich habe Philosophie nie belegt, sondern bloß gelegentlich mal eine Veranstaltung, selten mit Gewinn, besucht.) Welche Frage hätte ich Mitte
der 80er Jahre klären wollen? Ich kann mich an diese junge Frau nur noch
bruchstückhaft erinnern und ich möchte ihr nichts andichten. Doch weiß ich, dass sie sich damals in der Friedensbewegung engagierte, aber mit deren grundsätzlichen Pazifismus nicht übereinstimmte. Die Frage hätte also vielleicht sein
können: Wann ist Gewalt gerechtfertigt? Welche Aufgabe würde ich mir heute
stellen? Vielleicht diese: Was bleibt?
An
der von Türcke diagonostizierten „Aufmerksamkeitsdefizitkultur“ der Gegenwart
leide auch ich, denn ich lese Zeitungsartikel nur noch selten zu Ende; von den allermeisten lese ich überhaupt nur die Überschrift. Das ist auch immer öfter bei der tröstlichen
Sonntagszeitung für den verletzlichen und verletzten weißen Mann der Fall, die
Morel Woche für Woche zuverlässig ins Haus schleppt. Am heutigen Sonntag hat mein Überflug
wieder soviel Un- und Schwachsinn wahrgenommen, dass an eine Revision meiner
ignoranten Aufmerksamkeitsverweigerung nicht zu denken ist. Fett wird zum
Beispiel auf der Doppelseite 2/3 der schon am letzten Wochenende (siehe den Link oben) behauptete
Zusammenhang zwischen RAF und Pussy Riot noch mal behauptet. Ist ja auch wahr: Der patriarchale Paranoiker muss ziemlich was befürchten, wenn die Frauen jetzt
nicht mal mehr in der Kirche das Maul halten. Der Zusammenhang zwischen den
deutschen Terroristen und den russischen Anarchistinnen bleibt zwar unklar,
wird sich aber im wirren Kopf gewisser lesender Herren schon einstellen (Nackte Brüste = Bombe... und so...).
Tatsächlich
leide ich aber keineswegs an meinem Aufmerksamkeitsdefizit und meiner mangelnden
Bereitschaft zu Konzentration und Kontemplation. Ich genieße es vielmehr, nicht
auf die Sonntagsausgabe der „Zeitung für Deutschland“ angewiesen zu sein,
sondern eine Vielfalt von Informations- und Unterhaltungsmöglichkeiten im Netz zur
Verfügung zu haben. Am Morgen aber habe ich Yoga praktiziert, meditiert und zwei Stunden am Stück in Hilary Mantels Historienroman weitergelesen. Ich bin durchaus bereit und in der Lage, mich zu versenken, aber
ich halte diese Fähigkeit nicht für eine der Zerstreuung überlegene
Kulturtechnik. Schließlich kenne ich viele gleichaltrige Menschen,
die sich in ihr kleines Wissens- und Interessengebiet ganz arg verbohrt haben und
verzweifelt um die ausbleibende Anerkennung für ihre Tiefenschürfung im
Mikrobereich ringen.
Eine
Weile habe ich mit dem BenHuRum telefoniert, u.a. um seine Antworten auf die
nächsten drei Fragen an Bücherleser:innen (19-21) zu erhalten. Der BenHuRum sitzt zur
Zeit mitten im Umzugschaos und hatte etwas Mühe, den Fragen seine volle
Aufmerksamkeit zu schenken, weil er gleichzeitig auch noch eine gründliche
Rasur vornehmen wollte. So läuft das eben heutzutage: Multitasking, wo man
hinguckt und -hört. (Die Fragen und Antworten gibt´s morgen.) Im
Rückblick auf die bisherigen Antworten ist mir aufgefallen, dass Morel und BenHuRum ganz überwiegend die
Werke männlicher Autoren angegeben haben, während sich bei mir das Verhältnis
zwischen männlichen und weiblichen Autor:inn:en etwa 50:50 verteilt. Ich bin
mir ziemlich sicher, dass das kein Zufall ist. Die meisten meiner männlichen
Freunde und Bekannten würden keinen höheren Frauenanteil erreichen. Aber
beinahe alle würden auf Nachfrage behaupten, ihre Auswahl sei
geschlechtsneutral erfolgt. Es ist das ein sehr interessantes Phänomen, das ich
auch an mir selbst beobachten kann - und kritisieren muss: Die Privilegierung
der eigenen Gruppe wird nicht wahrgenommen, weil sie ganz selbstverständlich als
Norm gesetzt wird. Ich habe zum Beispiel in meinem documenta-Text zur Arbeit von William Kendridge zunächst die farbigen
Schauspieler:innen als farbig markiert, den weißen Darsteller (Kendridge
selbst) aber schlicht als „einen Mann“
bezeichnet. Das ist mir hinterher aufgefallen und hat mich beschämt. Man könnte
jetzt vorschlagen, auf beide Markierungen komplett zu verzichten, also weder
die Farbigen als Farbige, noch den Weißen als Weißen zu bezeichnen. Das wäre
nach meiner Auffassung aber falsch: Denn Kendridges Arbeit bezieht sich
auf eine Gesellschaft, die sich mit den Folgen der Apartheid auseinandersetzen
muss. Daher ist die Differenz wichtig. Rassismus kann nicht dadurch bekämpft
werden, dass man ihn verleugnet. Ähnliches gilt für die Geschlechterdifferenz.
Der Spruch: „Wir sind doch alle Menschen.“ ist einer, der immer nur von denen
vorgebracht wird und auch vorgebracht werden kann, die ihr eigene Gruppe als
menschliche Norm setzen und die die Macht haben, diese Definition
durchzusetzen. Julia Lemmle hat die Argumentationsstruktur, die diesem Denken
zugrunde liegt, sehr gut dargestellt: „Weiße Universalperspektive und Deutungshoheit“. Lemmle
zeigt die Muster am Beispiel von FDP-Anhänger Dieter Hallervorden, was leider die Gefahr
birgt, dass einige linke, männliche, heterosexuelle „Universaldenker“ sich in diesen Mustern nicht
wieder erkennen (wollen).
Es
ist wahrscheinlich, dass jede/r von „uns“ Privilegierten (weiß, Mittelschicht,
heterosexuell) solche Setzungen immer wieder unterlaufen. Kinderbücher, Spiele, Filme, Fernsehserien, Werbung, klassische Romane und Philosophie
machen uns weis, „unsere“ Perspektive sei universal. Entscheidend ist daher die
Reaktion auf die Kritik daran, zu der „wir“ fähig sind: Uns durchlässig machen
für die Erfahrungen aller anderen, in dem wir uns selbst als „die Anderen“
wahrnehmen lernen, die wir sind.
Ich
habe kein Pokerface: Undurchlässig
und (pseudo-)neutral. Man kann auch aufhören, immer gewinnen zu wollen. Nicht nur beim Poker.
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