Mensch: ein Lebewesen, das klopft, schlechte Musik macht und seinen Hund bellen lässt. Manchmal gibt er auch Ruhe, aber dann ist er tot.
Kurt Tucholsky
Heute
Nacht habe ich von meinem Großvater geträumt. Das hat Gründe. (Über die ich
hier nichts sagen werde). Im Traum war er tot. Mein Großvater ist tot. Nicht
einmal sein Grab gibt es mehr. Ich bin in den 30 Jahren, die der Stein auf dem
Kirchhof gestanden hat, vielleicht 20 Mal dort gewesen. Ich habe mich an ihn zu
erinnern versucht, wenn ich da gestanden bin, aber im Grunde habe ich mich
woanders immer besser an ihn erinnern können als dort.
Gestern
sagte jemand in einer Gesprächsrunde, der Mensch könne sich eben mit dem Tod
nicht abfinden. Eine andere wies
das scharf zurück: „Der Tod geht uns nichts an.“, stellte sie mit Epikur fest.
Das rief die Gläubigen auf den Plan, die ihrer Gewissheit Ausdruck verliehen,
nach dem Tod beginne das ewige Leben in Himmel oder Hölle. Wieder andere lächelten
nachsichtig über solche Vorstellungen: „Mit dem Tod ist alles vorbei.“
Ich
hörte zu. Warum hat der Tod mich
niemals fasziniert? Weil er immer schon da war? Die Leute sterben. Sie liegen
aufgebahrt in den Wohnzimmern in prächtig ausstaffierten Särgen. Ihre Nägel färben
sich lila, wenn sie tot sind. Das Gesicht wird gepudert, die Wangen manchmal
mit Rouge gefärbt: „Damit e net so blass aussehe tut.“ Zur Beerdigung gibt es
Reiheweck und es wird viel über Verstorbene und Krankheiten geredet. Der Tod
hat mir keine Angst gemacht, als ich ein Kind war und später auch nicht. Es
haben immer nur die anderen gefragt oder darüber gesprochen, was danach kommt.
Mir selbst habe ich die Frage nie gestellt. Der Himmel und die Hölle waren
Abziehbildchen: süße Engelchen und böse Teufelchen tummeln sich zwischen weißen
Vorhängen oder lodernden Fegefeuern. Langweilig.
Als
er tot vor mir auf dem Bett lag, war mein Großvater fort. Er war nicht da. Der
Tote war nicht er. Dieses Gefühl war unmittelbar, stark und unbezweifelbar. Der
da lag, war mein Großvater nicht mehr. Das tat weh und tröstete zugleich. Der
Tod ist da. Wenn der Tod da ist, sind wir fort. Mir hat das genügt. „Der Mensch
kann sich nicht mit dem Tod abfinden.“ Ich war schon abgefunden mit dem Toten
und dem Tod, bevor ich Fragen stellte. Das war gut so, empfinde ich. Das bleibt
mir: das Einverständnis mit dem Tod. Die Trauer mindert das nicht. Aber es
fehlt ihr die Sehnsucht, von der so viele schreiben. Die Sucht nach dem Tod,
der Sog ins Nichts, der absolute Weltschmerz, die Lust am Untergang – das sind
Gefühle, die mich allenfalls in der Pubertät kurz gestreift, aber niemals
wirklich erreicht haben. Was auch bleibt, ist aber die Wunde, die der Verlust
schlägt, die Traurigkeit darüber, wie sich nichts festhalten lässt, wie auch
die Erinnerungen verblassen und am Ende nur übrig bleibt, was man sich wieder
und wieder erzählt. Und die Fotografien.
Als
der Großvater meiner Söhne, mein Schwiegervater, starb, legte ich großen Wert
darauf, dass sie den Toten noch einmal sahen, bevor er beerdigt wurde. Im Leben
meiner Kinder ist der Tod und sind die Toten nicht so präsent, wie es in meiner
Kinderzeit war. Auch sie sollten erleben, dass der Mensch, den sie geliebt
hatten, fort war, um trauern zu können, statt sich nach dem Tod zu sehnen oder
vor ihm zu fürchten.
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