Ein Beitrag von Morel
Als
die ersten Geschichten von Jhumpa Lahiri im New
Yorker zu erscheinen begannen, las ich sie gerne im Zug. Sie beginnen immer
wie ein Bericht, ein Zeitungsartikel, eine Prosa ohne Überschwänglichkeit und
Expressivität. So zum Beispiel in der Geschichte "Unaccustomed earth"
(Ungewohnte Erde): "After her mother's death, Ruma's father retired from
the pharmaceutical company where he had worked for many decades and began
travelling in Europe, a continent he'd never seen." Expressiver wird die
Sprache auch auf den nächsten Stationen nicht. Wie Alice Munroe ist Jhumpa
Lahiri eine Autorin die in wenigen Seiten große Strecken zurücklegt. Das
gelingt nur, wenn man zwischen den Sätzen und Absätzen Platz lässt, Leerräume
des Unerklärten, aber nicht unbedingt Rätselhaften. Wir nähern uns einer
Autorin wie Jhumpa Lahiri nicht, indem wir nach Bedeutung fragen, sondern indem
wir uns auf die Details verlassen, die von ihrem Erzählfluss davon getragen
werden, manchmal nur kurz aufblitzen. Am Ende der Geschichte von Ruma, ihrem
Vater und ihrem Sohn Aksha taucht eine Postkarte wieder auf, die verloren
gegangen schien. Diese Postkarte ist ein Gefühlsspeicher: sie ersetzt die
Emotionen, die in all den oberflächlichen Versuchen zu Gesprächen mit ihren
Vater unter der Oberfläche blieben. Dabei zeigt sie nur irgendein tausendmal
fotografiertes Weltwunder. Das ist das Besondere an Jhumpa Lahiri: sie schreibt
eine unauffällige, vertraut klingende Prosa, die erschüttert. Es ist zu warnen:
Leser, die ihre Bücher im Zug lesen, verpassen ihre Zielstation. Sie kommen
weiter, als sie dachten.
*
Erst
nachdem ich mehrere Geschichten von Lahiri gelesen hatte, begann ich sie
als Autorin des "immigrant
experience" (New Statesman) wahrzunehmen und erklärte mir die Faszination
durch diese Autorin, damit, über meinen Vater selbst Anteil an dieser Erfahrung
zu haben. Immer bewegen sich ihre indischstämmigen Amerikanerinnen und
Amerikaner zwischen den Welten. Sie kommen aus den bürgerlichen Schichten
Indiens und tragen einen inneren Auftrag zum Erfolg im gelobten Amerika mit
sich. Die Sprache ist gelernt, kein Mittel des Ausdruck, sondern der Anpassung.
Schon bald gab es Kritiker_innen und Leser_innen, die das langweilig fanden:
eine zu enge Welt, erfolgreiche, mittelständische Immigrant_innen, fern von den
wirklichen Problemen der Welt. Wer wollte hier widersprechen? Aber Literatur
ist keine Sozialarbeit und kein politisches Projekt. Sie entsteht nicht, weil
es ein Problem zu lösen gilt, sondern an der Stelle eines nicht mehr zu
behebenden Mangels. Vater und Tochter in "Unaccustomed earth" reden
aneinander vorbei. An die Stelle dieser missglückten Kommunikation tritt die
Erzählung: nicht als Warnung oder Verbesserungsvorschlag, sondern als etwas,
wofür wir keinen anderen Namen haben als den der Kunst.
*
Der
Titel "Unaccustomed Earth" ist Nathaniel Hawthorne entlehnt. Er
schreibt in einer seiner Erzählungen, dass die menschliche Natur, ähnlich wie
Kartoffeln, nicht über Generationen im selben Boden gedeihen könne. Seine
Kinder sollen daher Wurzeln in ungewohnter Erde schlagen. Sind solche Sätze
auch von europäischen Autoren überliefert? Die Geschichten Jhumpa Lahiris gehen
ebensowenig in der Klage über die verlorene Heimat auf wie in der Überidentifikation
mit der neuen. Sie erzählen in einer vertraut klingenden Sprache davon, wie es ist, fremd zu sein.
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