Montag, 24. September 2012

UNGEWOHNT VERTRAUT. Die Geschichten von Jhumpa Lahiri


Ein Beitrag von Morel

Als die ersten Geschichten von Jhumpa Lahiri im New Yorker zu erscheinen begannen, las ich sie gerne im Zug. Sie beginnen immer wie ein Bericht, ein Zeitungsartikel, eine Prosa ohne Überschwänglichkeit und Expressivität. So zum Beispiel in der Geschichte "Unaccustomed earth" (Ungewohnte Erde): "After her mother's death, Ruma's father retired from the pharmaceutical company where he had worked for many decades and began travelling in Europe, a continent he'd never seen." Expressiver wird die Sprache auch auf den nächsten Stationen nicht. Wie Alice Munroe ist Jhumpa Lahiri eine Autorin die in wenigen Seiten große Strecken zurücklegt. Das gelingt nur, wenn man zwischen den Sätzen und Absätzen Platz lässt, Leerräume des Unerklärten, aber nicht unbedingt Rätselhaften. Wir nähern uns einer Autorin wie Jhumpa Lahiri nicht, indem wir nach Bedeutung fragen, sondern indem wir uns auf die Details verlassen, die von ihrem Erzählfluss davon getragen werden, manchmal nur kurz aufblitzen. Am Ende der Geschichte von Ruma, ihrem Vater und ihrem Sohn Aksha taucht eine Postkarte wieder auf, die verloren gegangen schien. Diese Postkarte ist ein Gefühlsspeicher: sie ersetzt die Emotionen, die in all den oberflächlichen Versuchen zu Gesprächen mit ihren Vater unter der Oberfläche blieben. Dabei zeigt sie nur irgendein tausendmal fotografiertes Weltwunder. Das ist das Besondere an Jhumpa Lahiri: sie schreibt eine unauffällige, vertraut klingende Prosa, die erschüttert. Es ist zu warnen: Leser, die ihre Bücher im Zug lesen, verpassen ihre Zielstation. Sie kommen weiter, als sie dachten.

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Erst nachdem ich mehrere Geschichten von Lahiri gelesen hatte, begann ich sie als  Autorin des "immigrant experience" (New Statesman) wahrzunehmen und erklärte mir die Faszination durch diese Autorin, damit, über meinen Vater selbst Anteil an dieser Erfahrung zu haben. Immer bewegen sich ihre indischstämmigen Amerikanerinnen und Amerikaner zwischen den Welten. Sie kommen aus den bürgerlichen Schichten Indiens und tragen einen inneren Auftrag zum Erfolg im gelobten Amerika mit sich. Die Sprache ist gelernt, kein Mittel des Ausdruck, sondern der Anpassung. Schon bald gab es Kritiker_innen und Leser_innen, die das langweilig fanden: eine zu enge Welt, erfolgreiche, mittelständische Immigrant_innen, fern von den wirklichen Problemen der Welt. Wer wollte hier widersprechen? Aber Literatur ist keine Sozialarbeit und kein politisches Projekt. Sie entsteht nicht, weil es ein Problem zu lösen gilt, sondern an der Stelle eines nicht mehr zu behebenden Mangels. Vater und Tochter in "Unaccustomed earth" reden aneinander vorbei. An die Stelle dieser missglückten Kommunikation tritt die Erzählung: nicht als Warnung oder Verbesserungsvorschlag, sondern als etwas, wofür wir keinen anderen Namen haben als den der Kunst.

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Der Titel "Unaccustomed Earth" ist Nathaniel Hawthorne entlehnt. Er schreibt in einer seiner Erzählungen, dass die menschliche Natur, ähnlich wie Kartoffeln, nicht über Generationen im selben Boden gedeihen könne. Seine Kinder sollen daher Wurzeln in ungewohnter Erde schlagen. Sind solche Sätze auch von europäischen Autoren überliefert? Die Geschichten Jhumpa Lahiris gehen ebensowenig in der Klage über die verlorene Heimat auf wie in der Überidentifikation mit der neuen. Sie erzählen in einer vertraut klingenden Sprache davon, wie es ist, fremd zu sein.



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