Sonntag, 21. Oktober 2012

WORT-SCHATZ (14): Wahn





sô übele nieman ist getân,ern habe doch zer schœne wân.
Freidank

Nicht erst seitdem jener heutzutage hoch verehrte Alt-Bundeskanzler, von dem seinerzeit die Honoratioren am Stammtisch sagten, er sei ein guter Mann, nur in der falschen Partei (womit sie einer Wahnvorstellung erlagen) zum Besten und zum Gehör der Nation gegeben hatte, wer Visionen habe, gehöre in die Anstalt, hat der Wahn einen schlechten Ruf. Man wähnt sich klüger und sicherer, solange man ihn nicht hat und ihm vor allem nicht erliegt. Der Wahn trübt den Blick und färbt die Wahrnehmungen falsch ein; der Wahn, so wird gewähnt, verstellt die Sicht auf die Wirklichkeit, deren Existenz er bezweifelt. Es gilt, sich von allem Wahn zu befreien, zugunsten einer heillosen Vernunft, die niemals träumend schläft.

Dabei war der Wahn ursprünglich, altenglisch und weiblich eine heitere, freudige Erwartung, eine Aussicht in himmelblaue Hoffnungen und liebendes Begehren, göttliche Fügung und geglückte Bestimmung. Doch das konnte in deutschen Landen, wo die Sehnsucht alsbald trüb und vernebelt daher kommen sollte, um gar ernsthaft die Herzen und Hirne mit seichter Traurigkeit zu erfüllen, wo wahnhaft nur noch sein mochte, wer lichtscheu verblasste und des Nachts den Mond anheulte, so nicht bleiben. Der Wahn wurde männlich, lustlos und krank. Sich im Liebeswahn zu verzehren, barg kein erfülltes Verlangen mehr, sondern führte zu traurigen Gedichten und therapeutischen Behandlungen.

Auch das Gold des Herbstes ist ein Wahn, wie er sich reich auf die geschlossenen Augenlider legt und mir alles mit Schönmut erfüllt. Hinter der Stirn bildet sich die Erwartung auf Schmorgerichte mit Knödeln, brodelnde Teekannen und den Biss in zitronige Küchlein. Es knistert ein wahnhaftes Feuer, das niemals zündelt. Wie groß und heilend ist der Wahn, wenn er lieb ist und liebend. Arg kann er aber auch lasten auf dem Gemüt, wenn er immer nur das Schlimme wähnt, das kommen mag, aber vielleicht gar nicht kommt. Der Wahn kann ein Troll sein, der auf der Seele trampelt. Dann wird er zu einem ekligen Schwefelnebel, der die ganze Welt grau und gemein erscheinen lässt. Wo die erwähnte Hoffnung sich in die wahnhafte Fixierung auf das Befürchtete verkehrt, ist der Wahn nur noch eine Krankheit. Wem aber der Wahn ausgetrieben wird, der verliert seine Einbildungskraft. Befreit vom Wahn und entlassen in die Wirklichkeit fehlt ihm der Sinn, den er fortan den andern vorwirft als Wahn.

Schlussfolgerung:
Bewahre Deinen Wahn-Sinn!


(Meinen Söhnen gewidmet)

5 Kommentare:

  1. Die schöne Seite dieses Wahns ließ Mitte der Woche eben dieses herbstliche Schmorgericht (genauer: einen Sauerbraten) mit Knödeln hinter meiner Stirn aufleuchten, so dass ich rechtzeitig ein Stück Rindfleisch besorgen und marinieren konnte, das nun im Topf vor sich hinschmort. Jetzt geht's an die Zubereitung der Knödel. Solche wärmenden Lichtblicke braucht es zum Ausgleich für die andere Seite dieses Wahns, die ich herbstliche Melancholie nenne und nur bedingt (aber zugegebenermaßen auch) genießen kann. Einen schönen goldenen Sonntag wünsche ich Dir!

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  2. Danke! Er (der Sonntag) war´s. Wir besuchten ehemalige Nachbarn, die uns einen Schritt voraus, nämlich schon aus dem Haus und in die (schein-)große Stadt Frankfurt gezogen sind. Am Mainkai war ein Auflauf, wie sonst im Hochsommer nicht. Jede/r wollte sich die letzten (?) warmen Sonnenstrahlen nicht entgehen lassen. Als wir abends zurückfuhren, war´s aber schon frisch und ich musste mir auf dem Rad einen Schal umbinden.

    Für die Melancholie als Grundton bin ich (leider?) zu hysterisch und zu cholerisch. Aber ich liebe den Altweibersommer - und wähne mich als ein altes Weib, das gar keine Rücksichten mehr nehmen braucht und runzlig-witzig-giftig (je nach Bedarf) durch die Welt schlurft, mit einem weiten Rock, unter den 100 andere Röcke noch passen, in hundert Farben, die aufleuchten, wenn ich die Röcke hebe zum Tanzen und herumwirtschafte wie eine Furie im Herbstwind....Und dann kauf ich mir einen Kiosk ums Eck, wo ich unter der Theke eine florierende Auftragsmörderschaft betreibe. Na ja, vielleicht wähne ich mich auch in eine friedlichere Herbst-Welt, wo wir uns im Laub wälzen bis wir aussehen wie Hutzelweiber. Danach gibt´s einen Original-Frankfurter Kranz, für jede einen, denn im Lebensherbst darf eine soviel Buttercreme essen wie sie mag...

    WAHN...SINN!

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  3. Wahn ... Ich war jetzt in der Vorstellung und Genie wieder ohne ... Danke schön für das herbstliche Ranken ums Wort, der Re-Kommentar bildreiche Ergänzung zum Text, fliegende Röcke und ein Kiosk mit florierender Auftragsmörderschaft - ui! :)

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    1. Ah, toll, das freut mich immer, wenn jemand auch noch "alte" Beiträge liest. Die Reihe ist mir ans Herz gewachsen. Brodel schon länger über einem Beitrag zur "Ehre", aber es noch nicht flirrig genug aus dem Sinn gehoben. LG

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