Ich denke nicht oft an Werner Holzer. Nur sehr gelegentlich kommt er mir in den Sinn. So häufig oder selten wie die anderen Männer und Frauen, die jene sozialliberale Ära prägten, in der ich aufwuchs: z.B. Ludwig von Friedeburg oder Hildegard Hamm-Brücher. Sie wurden in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geboren. Sie waren jung, als die Nationalsozialisten die Macht übernahmen. Ob im Widerstand, in der inneren Emigration, als Verfolgte oder Mitläufer; sie zogen ähnliche Schlüsse aus den Erfahrungen der Diktatur, des Massenmordes, des Krieges. Als immer noch junge Menschen wirkten sie mit am Wiederaufbau eines Staates, den sich die restaurative Adenauer-CDU unter den Nagel reißen wollte. Deren spießbürgerlicher Moral und herablassendem Dünkel gegenüber der Arbeiterklasse setzten sie ihre Vision einer bürgerlichen, freiheitlichen und chancenorientierten Gesellschaft entgegen. Sie nutzten ein schmales Zeitfenster, das sich nach der Studentenrevolte 1968 öffnete für Reformen im Bildungsbereich und in der Justiz, die mehr Chancengleichheit, mehr Geschlechtergerechtigkeit und mehr Zutrauen in die Gestaltungsfähigkeiten des Einzelnen brachten. Ich verdanke diesen Männern und Frauen die Möglichkeit der höheren Bildung, der Selbstverwirklichung in beruflicher Tätigkeit, die Ausweitung des Horizonts (geographisch, politisch, sprachlich).
1971 wurde ich in einer Dorfschule in Mittelhessen eingeschult. Unsere Lehrerin, die mit Nachnamen treffend "Preuße" hieß, hielt die Prügelstrafe nicht nur theoretisch für ein geeignetes Erziehungsinstrument. Von den Eltern meiner Kindheitsfreunde und -freundinnen hatte nicht ein einziges Abitur. Auch in der weiteren Verwandtschaft hatte aus der Generation meiner Eltern nicht eine oder einer eine höhere Schule besucht, geschweige denn studiert. Eine "höhere Bildung" gehörte "im Brühl", wo ich meine Kindheit verbrachte, nicht zur Lebensplanung. Nach der 4. Klasse wechselten wir als kompletter Klassenverband auf eine Gesamtschule am Ort, wie Friedeburg sie damals flächendeckend eingeführt hatte. Als Projektschule im Schulversuch war diese Schule auch nach heutigen Maßstäben außergewöhnlich gut ausgestattet: mit Küche, Werkstatt, Schreibmaschinenraum, Sprachlabor, Chemie- und Biologiehörsälen. Wir blieben zusammen bis zur 10ten Klasse. Alle schlossen wir mit der Mittleren Reife ab. Vier von uns 24 wechselten 1981 auf die Oberstufenschule und machten im Sommer 1984 Abitur. Drei nahmen ein Studium auf. Ich behaupte: Keines von uns hätte das ohne die Schulreform des Liberalen Friedeburgs geschafft. Wir hatten, wie so viele andere in jenen Jahren auch, eine Chance bekommen und nutzten sie.
Ich war ein glückliches und aufgeschlossenes Kind gewesen Die Schwierigkeiten begannen erst mit der Pubertät. Da lernte ich, was es heißt, sich ausgeschlossen, allein, "anders" zu fühlen. Da erst entwickelte ich das Bedürfnis, mich selbst zu bilden, um meine Trauer, meinen Zorn und meine Ängste besser zu verstehen. Bis zum heutigen Tag bin ich dankbar dafür, dass mir durch das optimistische Handeln einiger unter heftiger Kritik stehender Männer und Frauen, die an die Freiheit, die Veränderbarkeit und die Selbstwirksamkeit des Individuums glaubten, die Möglichkeit gegeben wurde auszuprobieren, was dieses "anders" für mich bedeuten konnte.
Das Zeitfenster schloss sich schnell wieder. In Deutschland glaubt man nicht gern an die Möglichkeiten des Einzelnen, sondern lieber an den Staat, die Geschichte oder "die Wirtschaft". Man streitet sich gern über Definitionen von Begriffen, hütet sich aber vor der Konfrontation mit der kontigenten Wirklichkeit. Auch gegen diese Art selbstgefälliger deutscher Intellektualität schrieben liberale Menschen wie Werner Holzer an, die mit eigenen Augen sehen wollten, worüber sie berichteten, statt ideologische Gewissheiten zu verkünden. Seit mehr als zwanzig Jahren gibt es nun keine Liberalen mehr in der Mainstream-Parteipolitik Deutschlands (Reden wir nicht von der FDP. Das tut nur noch weh!) und seit langem schon auch keine radikalliberale "Qualitätszeitung".
Ich denke nicht oft an Werner Holzer. Und seine Mitstreiter. Er saß, rauchend (damals war das im Fernsehen noch erlaubt) gelegentlich im Internationalen Frühschoppen bei Werner Höfer. Ich fand ihn "stattlich". Und klug. Dass da (fast immer) nur Männer rumsaßen, die nicht selten sexistische Sprüche klopften, bemerkte ich damals höchstens unbewusst. Ich erkannte aber, dass Werner Holzer, der Chefredakteur der Frankfurter Rundschau, ein Mann war, der sich mit Leidenschaft für die Rechte der Einzelnen einsetzte, für das Recht auf Andersartigkeit, gegen Normierungen, für die unvoreingenommene Wahrnehmung anderer Kulturen und Lebensformen. Das bewunderte ich. (Wer intellektuell auf sich hält, weiß ich, nimmt solche Worte freilich nicht in den Mund: Dankbarkeit, Bewunderung. Man ist kritisch, sarkastisch, zynisch.)
Gestern dachte ich wieder einmal an Werner Holzer. Die Zeitung, deren Redaktion er zwanzig Jahre lang leitete, hat Insolvenz angemeldet. Wir haben die "Frankfurter Rundschau" abonniert. Doch schon lange überlegen wir, ob wir sie abbestellen sollen. In ihrer Themensetzung hatte sie sich zunehmend dem Boulevard angeglichen, viele Artikel waren oberflächlich und schlecht recherchiert, man bekam Meinungen vorgesetzt statt Reportagen erzählt, die Beiträge wurde offensichtlich kaum noch redigiert. Nur nostalgische Gründe haben uns bisher von einer Abbestellung abgehalten. Ich werde die Frankfurter Rundschau, wie sie in den letzten Jahren erschienen ist, nicht vermissen. Das Blatt dagegen, für das Werner Holzer verantwortlich zeichnete, vermisse ich schon lange. So wie ich liberale Positionen und radikalliberale Menschen in der Politik vermisse.
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