Freitag, 2. November 2012

DIE GESTE DES LIEBENS (Im freien Fall)


Ff. zu Gesten

"Denn charakteristisch für die Geste des Liebens ist ja gerade, dass man sie nicht wollen kann, da sie in der Aufgabe des Willens mündet. Man muss sich, wie die englische Sprache andeutet, in die Liebe fallen lassen. Die Geste des Liebens ist nicht im Programm einbegriffen, sondern führt aus dem Programm heraus und kann daher selbst nicht programmiert werden. Seltsamerweise bedeutet das aber nicht, dass die Geste häufiger Folge eines Sichgehenlassens als Folge eines Sichdisziplinierens wäre. Denn die Geste des Liebens ist an Beschränkungen, an das, was ´Treue´ genannt wird, gebunden."

(Vilem Flusser: Die Geste des Liebens)


"Dorothea war empfänglich gewesen und ich hatte mich aufnehmen lassen. Natürlich ist das gelogen. Indem ich, was ich mit Dorothea getan hatte, im Passiv beschreibe, leugne ich meine Verantwortung. Ich hatte gewollt, was geschehen war, ja ich hatte es herausgefordert. Doch was ich an ihr vollzog, war nicht Liebe gewesen, sondern mein Wille sie zu vernichten. Als mein Vater nicht mehr leugnen konnte, dass Dorotheas Leib eine Frucht trug, deren Erzeuger er nicht sein konnte, als meine Rache sich vollendete, war jedoch auch ich schon gefallen, tief und unrettbar in die dunklen Seen zweier schwarzer Augen und die feuchte Höhle zwischen sanft geschwungenen roten Lippen. Ich hatte einem Schneewittchen in weißen Strümpfen aufgelauert an der Straßenecke und sie mit seichten, schmeichlerischen Reden überredet, mich in den Garten hinter unserem Haus zu begleiten. Schon bald wurden diese Treffen zur glücklichsten Routine, bis uns eines Tages Dorothea und mein Vater, dessen Verhalten ihr gegenüber kalt und beherrscht geworden war, seit er ihren Zustand erahnte, überraschten. Nie werde ich den Schrei vergessen, den Dorothea ausstieß und mit dem sie sich und mich ohne jedes Wort verriet. In den Augen meines Vaters sah ich die Erkenntnis wie einen Blitz fahren. Die Deutsche warf sich in wilden Zuckungen, schreiend und um sich schlagend, auf den Boden, wüste Beschimpfungen gegen mich ausstoßend. Sofia, meine Sofia, entwand sich meinen Armen, stieß mich von sich und rannte davon. Das verletzte Tier am Boden versuchte nach meinem Bein zu haschen. Mein Vater stand wie zu einem Stein erstarrt. Unter unseren Augen breitete sich auf dem hellen Rock, den Dorothea trug,  ein tiefroter Fleck aus, während sie sich besinnungslos weiter die Fäuste in den Bauch rammte. Ich stieß das entmenschlichte Bündel mit dem Fuß beiseite und eilte Sofia hinterher."

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