Donnerstag, 29. November 2012

FAITH. (Noch einmal zu "The Wire")

Als ich vor ein paar Tagen meinen Beitrag über die "beste Fernsehserie, die ich je sah", über "The Wire", schrieb, hatte ich noch nicht in dem Begleitbuch zur Serie "The Wire. Truth be told" gelesen, das Aufsätze von Autoren und Kritikerinnen zur Serie versammelt.

Was David Simon im einführenden Text schreibt, bestätigt meine eigene Wahrnehmung: Die Autoren von "The Wire" haben großen Wert auf etwas gelegt, was im kontinentaleuropäischen Kunst- und Literaturdiskurs "pfui-bäh" ist, auf Authentizität. "The Wire" ist Fiktion, aber es erzählt fiktionale Geschichten, die so hätten geschehen können; fiktionale Figuren treten auf, die jenen ähneln, denen die Autoren in Baltimore bei ihren intensiven Recherchen begegnet sind und deren Eigenheiten und Widersprüche, deren lose Enden und unverfügbare Hoffnungen nicht zugunsten eines spannenden Plots oder einer schönen Kameraeinstellung aufgegeben werden: 

"We staged ´The Wire´ in a real city, with real problems. It is governed and policed and populated by real people who are every day contending with those problems. The school system we depict is indeed the school system in which Ed Burns taught. The political infrastructure is that which Bill Zorzi covered for two decades. The newspaper on which we centered some of the final season´s story is indeed the newspaper at which we labored and learned the city."

Und: "The Wire" ist, obwohl die besten Pläne und die wohlmeinendsten Menschen in dieser Erzählung scheitern, keine zynische Bestandsaufnahme der Zustände; einfach deshalb, weil die Autoren den Eigensinn und die Individualität ihrer Figuren ernst nehmen und respektieren. Die Einzelne und der Einzelne mit ihren Träumen, Hoffnungen, Anstrengungen stehen im Zentrum dieser filmischen Erzählung. Anders als im kontinentaleuropäischen Diskurs kommt man dabei ganz ohne eine anspruchsvolle Subjekttheorie (oder die vernichtende Kritik an ihr) aus und muss nicht jedes Streben und jede Sehnsucht der Individuen in ihrem Kampf um Anerkennung und Selbstbestimmung als "uneigentliches" Bedürfnis oder als falsches Bewusstsein denunzieren: 

"Many may regard these stories in their universality, to be cynical and despairing of humanity as a whole. I am not so sure. The problems of this new and intimidatin century are worthy of some genuine despair, certainly. And a supposedly great nation that cannot keep a single low-lying city behind functional  levees hardly seems capable of grasping the challenge of, say, global warming. Considering that the Netherlands has for generations successfully kept most of itself out of the North Sea, the American institutional response to its problem thus far seems to justify a notable degree of cynism. But in all of these Baltimore stories - "Homicide", "The Corner" and "The Wire" - there exists, I believe, an abiding faith in the capacity of individuals, a careful acknowledgement of our possibilities, our humor and wit, our ability to somehow endure. They are, in small but credible ways, a humanist celebration at points, in which hope, though unspoken, is clearly implied."

Cora Stephan hat in "Der Welt" eine wütende Suada gegen die "Obamania" der Deutschen (und Kontinentaleuropäer) geschrieben, die ich ungerecht und überzogen finde. Man muss die Politik des gegenwärtigen Präsidenten der Vereinigten Staaten nicht in allen Punkten (und vielleicht nicht einmal in den Wesentlichen) richtig finden, um zu verstehen, wie sehr auch viele US-Amerikanerinnen sich wünschen, dass der Staat für die Sicherheit und Existenz seiner Bürgerinnen und Bürger Sorge trägt. Umgekehrt aber könnte die kontinentaleuropäische Linke von den Liberalen in den USA und in Großbritannien durchaus auch Einiges lernen: nämlich die Bereitschaft den Einzelnen etwas mehr zuzutrauen und aus diesem Vertrauen Optimismus zu entwickeln. Das ist allemal sympathischer und klüger als die dümmlich-selbstzufriedene Lust am Untergangsgerede. 

Es stimmt, dass manche Zyniker einen hohen IQ haben. Einige, wenige sind sogar witzig. Doch was Zyniker über die Welt zu sagen  haben, langweilt mich fast immer. Der Gestus der gehässigen, aber überlegenen Indifferenz, der die Verzweiflung als eine Auszeichnung gegenüber den bloß Zweifelnden gilt, löst bei mir genau jene Gleichgültigkeit aus, die Zyniker genüsslich zelebrieren. Es ist schade, wie selten es im deutschen Fernsehen gelingt, Serien wie "The Wire" zu drehen und auszustrahlen, die im besten Sinne in der Tradition der Aufklärung stehen. Dominik Graf ist einer der wenigen, die sich daran versuchen. Es ist kein Zufall, dass er, wie US-amerikanische Autor_innen, sich nie gescheut hat, seine Talente für Fernsehfilme und -serien einzusetzen, statt sich auf die "hohe Kunst" und ins "große Kino" zurückzuziehen. Das ist nicht normal. Nicht in Deutschland. Nicht unter den Regisseurinnen. Nicht unter den Autorinnen. Hier fühlen sich viele umso bedeutender, je nachdrücklicher sie ihr "Publikum" verachten. Leider.

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