Mittwoch, 28. November 2012

IMAGINÄRE LÄNDER. Ursula Le Guin und Francis Spufford



Ein Betrag von Morel


Because there's no freedom, we think there is a law. A week in the Country

The Unreal and the Real, die großartige Anthologie mit Erzählungen Ursula K Le Guins zeigte mir mit einem Schlag, was eine Bildungslücke ist: ein fehlender Planet im Universum der Literatur, der auf die Bewegungen aller anderen bisher bekannten Planeten ein neues Licht wirft.

Die erste Geschichte, der Begriff passt besser als Erzählung,  Brothers and Sisters, beginnt konventionell genug, mit einem Arbeitsunfall. Aber in dem Moment, als ich mich fragte, wo diese Geschichte wohl spiele, war ich der Autorin schon in die Falle gegangen. Ein Karst, eine Gegend, geprägt von Steinbrüchen und Landwirtschaft, deutsche und slawische Namen, wenige Bäume und auf keiner Karte verzeichnete Städtenamen. Das alles erzählt in einem Ton, der das Innenleben der Personen nur indirekt streift, indem er sie in ihren Beziehungen zu Kollegen, der Familie, Nachbarn, Bäumen, Tieren, Sternen, Häusern, Räumen und Jahreszeiten beschreibt. Zwei Brüder stehen im Mittelpunkt dieser Geschichte, die um dieselbe Frau werben. Diese entscheidet sich für den unsicheren, charakterlich eher zweifelhaften Stefan, der nicht zu den Steinbrucharbeitern passt, in jeder Prügelei unterliegt und sich mit seinem selbstsicheren und autoritären Bruder am Ende zerstreitet. Zum Schluss verlässt ein neues Liebespaar die Stadt, ohne über diese Entscheidung viele Worte zu verlieren.

Ursula Le Guin, die als Science-Fiction-Autorin gilt (wovon im ersten Band dieser neuen Zusammenstellung von Erzählungen, der passend Where on Earth heißt, kaum etwas zu spüren ist) entwirft Welten, keine Personen. Die einzelne Geschichte mit anderen, seien es Vorfahren, Mitlebende oder die Nachfahren. Die Personen sind eingebettet in ihre Welt, die sie durch Arbeit und Liebe mitgeschaffen haben, der sie aber auch nie ganz entkommen können. Immer gibt es die Spannung zwischen dem Individuum und der Umgebung, die es prägt. Der Vater Le Guins war Anthropologe, auch sie interessiert sich für Völker, aber ebenso für die Individuen.

Brothers and Sisters gehört zu einem Zyklus von Geschichten, die in einem Land namens Orsinia spielen, das in Zentaleuropa liegt, östlich des Eisernen Vorhangs. In der Geschichte A Week in the Country gerät ein Nachfahre der Protagonisten aus Brothers and Sister einige Jahrzehnte später in einen Konflikt mit der Grenzpolizei. Sein Freund, ein Künstler, wird erschossen, weil er für einen Schleuser gehalten wird. Wahrscheinlich ist den Grenzpolizisten die Unschuld des Musikers bewusst und es war nur eine Erfolgsmeldung für die herrschenden Organe nötig. Diese Welt erinnert nicht nur an den damals noch real existierenden sozialistischen Ostblock, sondern auch an die kitschig-brutalen Tyranneien in manchen Erzählungen Nabokovs. Auch in A Week in the Country wird ein Liebespaar die Szenerie der Erzählungen verlassen und einer unsicheren Zukunft entgegen gehen, die wir dann in der abschließenden orsinischen Geschichte erleben: Unlocking the air, die mit berechtigtem Pathos und zugleich feiner Ironie vom Umbruch in Osteuropa erzählt. Die Protagonistin dieser Geschichte ist die junge Frau aus A Week in the Country, die ihr Leben mit dem jungen Chemiker an ihrer Seite an einem Nachmittag im September 1962 exakt vorhergesehen hatte: ein Wohnblock in einer Industriestadt, eine Küchenzeile, zwei Zimmer, zwei Kinder. So ist es gekommen und als ihre Tochter sie jetzt zu den Donnerstagsdemonstrationen abholt, scheint alles zu spät zu sein: in der Demonstration ist sie so allein wie noch nie in ihrem Leben.
In diesen Erzählungen dient die Phanasie nicht der Erbauung ideologischer Traumschlösser, sondern der Erschließung von Parallelwirklichkeiten: die Menschen Le Guins sind in die Landschaften eingebettet, in denen sie aufwachsen, sie sind Kinder ihrer Zeit, unauflöslich verbunden mit ihren Voraussetzungen und Möglichkeiten. Es wartet keine Belohnung am Ende der Strapazen und die meisten Opfer sind vergeblich. Doch im Unterschied zu dem ihr in manchem verwandten großen Pessimisten und Gnostiker Phil Dick erzählt Le Guin immer auch vom Glück, wenn die Individuen ihre Bestimmung finden oder einfach vergessen, wo sie herkommen und sich aufmachen. Es gibt Momente, in denen Steine fliegen und die Luft aufgeschlossen wird, die Geschichte kennt eben nicht nur eine Richtung. Einmal heißt es: sicher in der Zukunft ist der Tod, nur die Momente sind unvorhersehbar. Das ist eine gute Philosophie für das Erzählen von Geschichten. In Deutschland ist Ursula Le Guin offenbar nur in Büchern mit abscheulich bunten Covern verfügbar, die sich an die Freunde der Phantasy-Literatur richten. Glücklich die Jugendlichen, die sie in die Hand bekommen haben, sie sind besserer Literatur begegnet, als ihre Lehrer sie ihnen heute in der Schule empfehlen.

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Ein neueres Buch, das ich kürzlich gelesen habe, erinnerte mich an die Erzählungen Le Guins aus Orsinia: Red Plenty von Frances Spufford. Denn auch Spufford erfindet ein Land, allerdings eines, das es wirklich gegeben hat: die Sowjetunion der Chrustschow- und Breschnew-Ära. In dieser Zeit, als das Grauen der Stalin-Ära verdrängt wurde, waren auch die kältesten Krieger des Westens nicht sicher, den Sieg im Systemvergleich davonzutragen. Spuffords Buch, das vor kurzem ohne größere Resonanz bei Rowohlt in deutscher Übersetzung als Taschenbuch erschienen ist, macht es den Buchhändlerinnen aber auch schwer mit der Einsortierung. Es ist ein Sachbuch, weil es den Traum der vernünftig (und nicht irrational über den ja auch heute wieder sehr unbeliebten, chaotischen und manipulationsanfälligen Markt) organisierten, geplanten Wirtschaft, wie er im Russland der 50er und 60er Jahre geträumt wurde, nacherzählt. Es kommen Mathematiker, Ökonomen und das Zentralkomitee der ruhmreichen KPDSU vor. Red Plenty ist aber auch ein Roman, weil es dieses Thema nicht quellenbelegt (wer sich für die Quellen interessiert wird in aufschlussreichen Anmerkungen am Ende des Buches fündig), sondern in kleinen Erzählungen aufblättert. Diese Erzählungen handeln zugleich von historischen und erfundenen Figuren, etwa von einer jungen Russin, die im Auftrag einer kommunistischen Jugendorganisation bei der Führung durch den von Buckminster-Fuller gestalteten US-Pavillon einer Konsumgüterausstellung kritische, die Verlogenheit des US-Kapitalismus entlarvende Fragen stellen soll. Die schwarze Hautfarbe des jungen Führers lässt diese Fragerunde auf leicht komische, für die Russin eher peinliche Art entgleisen. Andere Erzählungssplitter begleiten den genialen Mathematiker Kantorovich auf eine U-Bahnfahrt, in deren Verlauf  ihm die Idee für die computergestützte Berechnug perfekter, realer Preise kommt. Die Verwirklichung dieser Idee erzählen andere Geschichten. In einer Viscosefabrik (gut geschriebene Bücher entführen uns an die abwegigsten Orte) steht eine ältere Version einer Maschine, die aufgrund eines kleinen technischen Fehlers zu langsam arbeitet, um das zentral vorgegebene Plansoll zu erreichen. Also organisiert die in Panik geratene Fabrikdirektion einen Sabotageakt, der schließlich dazu führt, dass ein zwielichtiger Vermittler in einer russischen Winternacht von Gangstern einen Schlag über den Schädel erhält. Die Ökonomie ist anders, als es sich Kantorovich,erhoffte kein weißes Blatt Papier, auf das die Vernunft schreiben kann. Das erzählt Spufford ebenso gut wie Le Guin: mit Blick nicht nur auf die einzelnen Menschen, sondern auch auf deren Geschichte und Eingebundenheit. Damit geht er eine Wette ein, die in Deutschland wohl riskanter ist als in den durch die ernüchternde Schule des Pragmatismus gegangenen USA oder Großbritannien. Dass dieser Geschichtenkranz (den Nick Hornby mit Robert Altmanns Film Nashville verglichen hat) mit Freude an den Details gelesen wird (auch mit Sympathie für den Versuch, die Wirklichkeit vernünftig zu gestalten), ohne den Blick auf das Ganze zu verlieren. Dabei geht es um ein gerade in Deutschlang gern gehörtes und weitererzähltes philosophisches Märchen: die Tragikomödie der Vernunft, die am Ende ihrer Verwirklichung, der Wirklichkeit enttäuscht ihre Unvernunft vorwirft. 



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