Ein Betrag von Morel
Because
there's no freedom, we think there is a law. A week in the Country
The Unreal and the Real, die großartige
Anthologie mit Erzählungen Ursula K Le Guins zeigte mir mit einem Schlag, was
eine Bildungslücke ist: ein fehlender Planet im Universum der Literatur, der
auf die Bewegungen aller anderen bisher bekannten Planeten ein neues Licht
wirft.
Die erste Geschichte, der Begriff passt
besser als Erzählung, Brothers and Sisters, beginnt konventionell
genug, mit einem Arbeitsunfall. Aber in dem Moment, als ich mich fragte, wo
diese Geschichte wohl spiele, war ich der Autorin schon in die Falle gegangen.
Ein Karst, eine Gegend, geprägt von Steinbrüchen und Landwirtschaft, deutsche
und slawische Namen, wenige Bäume und auf keiner Karte verzeichnete
Städtenamen. Das alles erzählt in einem Ton, der das Innenleben der Personen
nur indirekt streift, indem er sie in ihren Beziehungen zu Kollegen, der
Familie, Nachbarn, Bäumen, Tieren, Sternen, Häusern, Räumen und Jahreszeiten
beschreibt. Zwei Brüder stehen im Mittelpunkt dieser Geschichte, die um
dieselbe Frau werben. Diese entscheidet sich für den unsicheren, charakterlich
eher zweifelhaften Stefan, der nicht zu den Steinbrucharbeitern passt, in jeder
Prügelei unterliegt und sich mit seinem selbstsicheren und autoritären Bruder
am Ende zerstreitet. Zum Schluss verlässt ein neues Liebespaar die Stadt, ohne
über diese Entscheidung viele Worte zu verlieren.
Ursula Le Guin, die als
Science-Fiction-Autorin gilt (wovon im ersten Band dieser neuen
Zusammenstellung von Erzählungen, der passend Where on Earth heißt, kaum etwas zu spüren ist) entwirft Welten,
keine Personen. Die einzelne Geschichte mit anderen, seien es Vorfahren,
Mitlebende oder die Nachfahren. Die Personen sind eingebettet in ihre Welt, die
sie durch Arbeit und Liebe mitgeschaffen haben, der sie aber auch nie ganz
entkommen können. Immer gibt es die Spannung zwischen dem Individuum und der
Umgebung, die es prägt. Der Vater Le Guins war Anthropologe, auch sie
interessiert sich für Völker, aber ebenso für die Individuen.
Brothers
and Sisters gehört zu einem Zyklus
von Geschichten, die in einem Land namens Orsinia spielen, das in Zentaleuropa
liegt, östlich des Eisernen Vorhangs. In der Geschichte A Week in the Country gerät ein Nachfahre der Protagonisten aus Brothers and Sister einige Jahrzehnte
später in einen Konflikt mit der Grenzpolizei. Sein Freund, ein Künstler, wird
erschossen, weil er für einen Schleuser gehalten wird. Wahrscheinlich ist den
Grenzpolizisten die Unschuld des Musikers bewusst und es war nur eine
Erfolgsmeldung für die herrschenden Organe nötig. Diese Welt erinnert nicht nur
an den damals noch real existierenden sozialistischen Ostblock, sondern auch an
die kitschig-brutalen Tyranneien in manchen Erzählungen Nabokovs. Auch in A Week in the Country wird ein
Liebespaar die Szenerie der Erzählungen verlassen und einer unsicheren Zukunft
entgegen gehen, die wir dann in der abschließenden orsinischen Geschichte
erleben: Unlocking the air, die mit
berechtigtem Pathos und zugleich feiner Ironie vom Umbruch in Osteuropa
erzählt. Die Protagonistin dieser Geschichte ist die junge Frau aus A Week in the Country, die ihr Leben mit
dem jungen Chemiker an ihrer Seite an einem Nachmittag im September 1962 exakt
vorhergesehen hatte: ein Wohnblock in einer Industriestadt, eine Küchenzeile,
zwei Zimmer, zwei Kinder. So ist es gekommen und als ihre Tochter sie jetzt zu
den Donnerstagsdemonstrationen abholt, scheint alles zu spät zu sein: in der
Demonstration ist sie so allein wie noch nie in ihrem Leben.
In diesen Erzählungen dient die Phanasie
nicht der Erbauung ideologischer Traumschlösser, sondern der Erschließung von
Parallelwirklichkeiten: die Menschen Le Guins sind in die Landschaften
eingebettet, in denen sie aufwachsen, sie sind Kinder ihrer Zeit, unauflöslich
verbunden mit ihren Voraussetzungen und Möglichkeiten. Es wartet keine
Belohnung am Ende der Strapazen und die meisten Opfer sind vergeblich. Doch im
Unterschied zu dem ihr in manchem verwandten großen Pessimisten und Gnostiker
Phil Dick erzählt Le Guin immer auch vom Glück, wenn die Individuen ihre
Bestimmung finden oder einfach vergessen, wo sie herkommen und sich aufmachen.
Es gibt Momente, in denen Steine fliegen und die Luft aufgeschlossen wird, die
Geschichte kennt eben nicht nur eine Richtung. Einmal heißt es: sicher in der
Zukunft ist der Tod, nur die Momente sind unvorhersehbar. Das ist eine gute
Philosophie für das Erzählen von Geschichten. In Deutschland ist Ursula Le Guin
offenbar nur in Büchern mit abscheulich bunten Covern verfügbar, die sich an
die Freunde der Phantasy-Literatur richten. Glücklich die Jugendlichen, die sie
in die Hand bekommen haben, sie sind besserer Literatur begegnet, als ihre
Lehrer sie ihnen heute in der Schule empfehlen.
*
Ein neueres Buch, das ich kürzlich gelesen
habe, erinnerte mich an die Erzählungen Le Guins aus Orsinia: Red Plenty von Frances Spufford. Denn
auch Spufford erfindet ein Land, allerdings eines, das es wirklich gegeben hat:
die Sowjetunion der Chrustschow- und Breschnew-Ära. In dieser Zeit, als das
Grauen der Stalin-Ära verdrängt wurde, waren auch die kältesten Krieger des
Westens nicht sicher, den Sieg im Systemvergleich davonzutragen. Spuffords
Buch, das vor kurzem ohne größere Resonanz bei Rowohlt in deutscher Übersetzung
als Taschenbuch erschienen ist, macht es den Buchhändlerinnen aber auch schwer
mit der Einsortierung. Es ist ein Sachbuch, weil es den Traum der vernünftig
(und nicht irrational über den ja auch heute wieder sehr unbeliebten,
chaotischen und manipulationsanfälligen Markt) organisierten, geplanten
Wirtschaft, wie er im Russland der 50er und 60er Jahre geträumt wurde,
nacherzählt. Es kommen Mathematiker, Ökonomen und das Zentralkomitee der
ruhmreichen KPDSU vor. Red Plenty ist
aber auch ein Roman, weil es dieses Thema nicht quellenbelegt (wer sich für die
Quellen interessiert wird in aufschlussreichen Anmerkungen am Ende des Buches
fündig), sondern in kleinen Erzählungen aufblättert. Diese Erzählungen handeln
zugleich von historischen und erfundenen Figuren, etwa von einer jungen Russin,
die im Auftrag einer kommunistischen Jugendorganisation bei der Führung durch
den von Buckminster-Fuller gestalteten US-Pavillon einer Konsumgüterausstellung
kritische, die Verlogenheit des US-Kapitalismus entlarvende Fragen stellen
soll. Die schwarze Hautfarbe des jungen Führers lässt diese Fragerunde auf
leicht komische, für die Russin eher peinliche Art entgleisen. Andere
Erzählungssplitter begleiten den genialen Mathematiker Kantorovich auf eine
U-Bahnfahrt, in deren Verlauf ihm
die Idee für die computergestützte Berechnug perfekter, realer Preise kommt.
Die Verwirklichung dieser Idee erzählen andere Geschichten. In einer
Viscosefabrik (gut geschriebene Bücher entführen uns an die abwegigsten Orte)
steht eine ältere Version einer Maschine, die aufgrund eines kleinen
technischen Fehlers zu langsam arbeitet, um das zentral vorgegebene Plansoll zu
erreichen. Also organisiert die in Panik geratene Fabrikdirektion einen
Sabotageakt, der schließlich dazu führt, dass ein zwielichtiger Vermittler in
einer russischen Winternacht von Gangstern einen Schlag über den Schädel
erhält. Die Ökonomie ist anders, als es sich Kantorovich,erhoffte kein weißes
Blatt Papier, auf das die Vernunft schreiben kann. Das erzählt Spufford ebenso
gut wie Le Guin: mit Blick nicht nur auf die einzelnen Menschen, sondern auch
auf deren Geschichte und Eingebundenheit. Damit geht er eine Wette ein, die in
Deutschland wohl riskanter ist als in den durch die ernüchternde Schule des
Pragmatismus gegangenen USA oder Großbritannien. Dass dieser Geschichtenkranz
(den Nick Hornby mit Robert Altmanns Film Nashville verglichen hat) mit Freude
an den Details gelesen wird (auch mit Sympathie für den Versuch, die
Wirklichkeit vernünftig zu gestalten), ohne den Blick auf das Ganze zu
verlieren. Dabei geht es um ein gerade in Deutschlang gern gehörtes und
weitererzähltes philosophisches Märchen: die Tragikomödie der Vernunft, die am
Ende ihrer Verwirklichung, der Wirklichkeit enttäuscht ihre Unvernunft
vorwirft.
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