Mittwoch, 26. Dezember 2012

ENDE UND ANFANG (Ein Jahr später)




Am Anfang des Jahres war Elke am Ende gewesen. Wie eingemauert hatte sie dagesessen in ihrer Trauer, nicht einmal zur Arbeit hatte sie sich aufraffen können. Ihre Ersparnisse waren dahin geschmolzen in den ersten Wochen und Monaten nach Judiths Tod. Sie war auch voller Wut gewesen, einer unsinnigen Wut darüber, dass Judith es nicht geschafft hatte, nicht bis Weihnachten, nicht bis in das neue Jahr 2012, wie sie es doch fest versprochen und woran sie beide sich geklammert hatten: noch bis Heilig Abend, noch bis Neujahr.

Am 23. Dezember um 17.26 Uhr war Judith gestorben. So stand es auf dem Totenschein. Vielleicht war es auch einige Minuten früher gewesen. Sie hatte den Arzt gegen drei angerufen, weil Judith nicht mehr erwacht war, nachdem sie sich nach dem Frühstück oder was sie sich eben angewöhnt hatten so zu nennen, diese drei Löffel Brei, die sie noch herunter bekam, nicht mehr aufgewacht war. Ihr Schlaf war unruhig geworden, unregelmäßig und flach ihr Atem. Nichts daran war besonders auffällig oder ungewöhnlich gewesen und dennoch hatte Elke die Panik erfasst. Sie war in der Wohnung auf- und abgelaufen; sie hatte die Weihnachtssterne, die sie ins Fenster gestellt hatte, gegossen, sie hatte sich auf dem Balkon eine Zigarette angezündet und nur wenige Züge genommen, bevor sie wieder hineingegangen war, um nach der sterbenden Freundin zu schauen. Alles war unverändert auf den ersten Blick. Aber Elke sah nun unter der dünnen, blassen Haut der Freundin  den Totenschädel sich abzeichnen. Judiths Haut hatte auch, so glaubte Elke zu erkennen, einen grünlichen Ton angenommen, ganz schwach, und wenn sie sich zu ihr herabbeugte, dann schien es ihr, als habe sich auch der leicht säuerliche Geruch, der von der Kranken ausging, gewandelt, habe eine süßliche, ekelerregende Note bekommen.

Sie hatte Manuelas Namen auf ihrem Handy-Display angetippt, aber dann hatte sie es ausgeschaltet, bevor es bei der klingeln konnte. Was hätte sie sagen sollen? „Sie riecht komisch. Sie schnauft seltsam.“ Gleichzeitig dachte sie: „Elfentanz.“ Es war ihr als schwebten Elfen im Raum. Judith war eine Elfe. Sie tanzte davon. Selbstverständlich wusste sie, während sie das dachte und vor sich sah, dass es nur Einbildungen waren, die sie sich in ihrer Verzweiflung vorgegaukelte. Nur die war echt, die fürchterliche Gewissheit: Judiths letzte Stunde hatte geschlagen. Und so war es gekommen. Sie hätte eine von Freundinnen anrufen können. Oder Judiths Mann. Vielleicht hätte sie das tun müssen. Aber sie hatte es nicht gekonnt. Nicht weil sie allein hatte von Judith Abschied nehmen wollen. Das hatte sie auch nicht gekonnt. Sie hatte nicht Abschied genommen. Sie war herumgerannt in der Wohnung wie ein aufgescheuchtes Huhn und hatte schließlich den Arzt angerufen. Sie hatte niemanden anders anrufen können, weil sie keine Worte hatte, weil nichts herauskam, wenn sie versucht zu sprechen, dass Handy in der Hand. Später hatte sie Mails geschickt: „Judith ist tot. Die Beerdigung ist noch vor Silvester. Am 28. Dezember. Kommst du? Wir treffen uns bei mir.“ Der Mann war gekommen, Manuela und Gabi. Der Mann hatte offenbar noch Kolleginnen von Judith Bescheid gegeben und einigen alten Freunden des Paares. Die Aussegnungshalle war zur Hälfte gefüllt gewesen. „Sprichst du nicht?“, hatte Gabi gefragt. Sie hatte nur den Kopf geschüttelt. Der Mann hatte alles organisiert. Mr. Perfect, wie immer. Elke fragte sich, wie er das ertrug. Judith hatte sich bis zum Schluss geweigert, ihn noch einmal zu sehen. Sie gaben einander die Hand am Ende der Zeremonie, aber sie schauten sich nicht in die Augen.

Sie hatte mit niemanden sprechen wollen. Sie hatte sich eingemauert in ihren Schmerz und ihre Wut. Dicke Ziegelsteine waren das, schmutzigbraunrot. Sie fühlte sich als Versagerin, bis zum neuen Jahr hätten sie es hinkriegen müssen, Judith und sie.  Sie räumte wie besessen die Wohnung auf, putzte die hintersten Ecken klinisch rein, ließ das Krankenhausbett abholen, das sie für Judith ins Wohnzimmer gestellt hatte, brachte Judiths Kleider zum Container des Deutschen Roten Kreuzes,  packte ein letztes Päckchen, das sie an den Mann adressierte, mit Judiths Papieren. Doch die Briefe von Manuela mit dem Märchen vom Meer, das eine noch beinahe kindliche Judith geschrieben hatte,  behielt sie für sich. Die Freundinnen riefen an, versuchten sie zu einem Spaziergang abzuholen, eine Verabredung im Café zu vereinbaren. Sie schlug alles aus. Sie ging nur noch runter zum REWE im Erdgeschoss, um das Notwendigste einzukaufen. Viel brauchte sie nicht. Sie sah im Spiegel, wie ihre Haut über den Wangenknochen dünner wurde und anfing zu spannen. Vielleicht, dachte sie, kommt mein Totenschädel auch raus.

Nur der Rosenkavalier hatte nicht locker gelassen. Jeden Tag hatte er angerufen. Immer wieder hatte er sie abgepasst, an die gegenüberliegende Hauswand gelehnt und ihr die Plastiktüten durchs Treppenhaus hoch getragen vor die Wohnungstür, die sie ihm vor der Nase zuknallte. Er hatte sich nicht abwimmeln lassen. Er hatte seine Hand in die Mulde an ihrem Rücken gelegt und sie gestützt. Er hatte seine Lippen an ihre Wange gelegt und sie gewärmt. Er hatte mit seinen Fingern über ihren Handrücken gestrichen an der Supermarktkasse und sie hatte irgendwann nicht mehr die Kraft gehabt, sie wegzuziehen. Sie hatte gedacht: „Warum tut er das?“ Dabei war die Antwort klar. Er liebte sie, wie sie noch keiner geliebt hatte. Ausgerechnet der Rosenkavalier. Der Jüngling. Die Trophäe. Das ganzkörpertätowierte Experiment, das sie sich gegönnt hatte. Den sie ausgesetzt hatte, als es ihr zuviel geworden war, als sie den leidenschaftlichen Sex mit dem voll ausgekostet hatte, als sie die sterbende Judith bei sich aufgenommen hatte.

Aber er war einfach nicht gegangen. Hatte ihr seine Freundschaft aufgenötigt. Hatte seine Bedürftigkeit ausgestellt, ohne zum Stalker zu werden. Immer auf dem Sprung, sich zurückzuziehen, niemals aufdringlich. Sie hatte die Tür einen Spalt offen gelassen. Judith hatte nichts dazu gesagt. Nur einmal ihrem Erstaunen Ausdruck verliehen: „Er ist sexy und nett.“ Dann musste sie husten. Zum Schluss hatte Elke ihn nicht mehr herein gelassen. Am Telefon hatte sie ihn abgewimmelt. Irgendwie hatte er doch von der Beerdigung erfahren. Aber sich nicht an ihre Seite gestellt am Grab. Sie hatte ihn wie ein Kind behandelt und er war zum Mann geworden. Ihre mütterlichen Gefühle für ihn verschwanden mit allen anderen Gefühlen in der Eiszeit nach Judiths Tod.

Aber er gab nicht auf und im März fiel ein Stein aus ihrer Mauer. Er hob ihn auf. Ein Kuss im Flur, flüchtig. Er legte den Stein sorgsam in eine Ecke. „Darf ich uns einen Kaffee kochen?“ Tage später gingen sie in den Zoo. Sie war noch nie im Zoo gewesen. Sie standen lange bei den Elefanten. Sie redeten an diesem Tag weniger als vier Sätze miteinander. Nach dem Essen ging sie mit zu ihm. Sie ließ sich ausziehen. Er brachte sie ganz langsam zum Glühen. Und es war gut. Es war anders als all die Male zuvor. Sie konnte nicht mehr einfach weggehen. Als sie am Morgen ihre Tasche packte, besprach sie das Abendmahl mit ihm. „Bringst du die Steaks mit?“ Ende April fing sie wieder an zu arbeiten. Anfang Juni war ihr Konto wieder im Plus. Doch er zog nicht vor Oktober bei ihr ein.

Elke stand auf dem Balkon und rauchte. Am Anfang des Jahres war sie am Ende gewesen. Das Ende dieses Jahres war ein Anfang. Sie lebte. Sie lebte zum ersten Mal im Leben mit einem anderen Menschen freiwillig zusammen. Außer in jenen letzten Wochen mit Judith. Aber das war etwas anderes gewesen. Sie hatte einen Anfang gemacht. Er war sehr vorsichtig gewesen. Alle Steine waren sorgfältig in ihrer Ecke gestapelt. Sie konnte jederzeit wieder eine Mauer errichten. Er war immer noch fünfzehn Jahre jünger als sie. Sie konnte immer noch nicht verstehen, was er in ihr sah, was ihn an sie band. Aber sie hatte ihn hereingelassen. Sie wollte ihn nicht wieder fortschicken. „Ich brauche dich.“, flüsterte sie in den Dezemberwind. Sie würde ihm das nicht sagen. Noch nicht. Judiths Todestag. Es klingelte. Manuela und Gabriele. Der Rosenkavalier war ausgegangen, rücksichtsvoll wie immer. Elke drückte die Zigarette in einem  Blumentopf aus. 

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*Ich hätte nicht gedacht, dass ich von Elke noch einmal höre. Oder von Manuela und Gabriele. Über den Tod gibt es nichts zu sagen. Nur über das Leben danach. Vielleicht.

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