Always forgive your enemies, nothing annoys them
as much.
Oscar Wilde
In
den Schriften Immanuel Kants (nur so als Beispiel) tauchen gelegentlich Indianer
und „Japoneser“ auf. Er verließ Königsberg nie, war aber überzeugt, sich
gedanklich weit über dessen Grenzen hinausbewegt zu haben und folglich auch
über fremde „Rassen“ allerlei allgemeingültig und –menschliches sagen zu
können. Dem Weltreisenden Georg Forster, der zweimal mit James Cook gesegelt
war, hielt er ein „bloß empirisches Herumtappen“ vor, eine Geisteshaltung, der
sich stets und eben auch in „Rassenfragen“ das kritische Denken weit überlegen
zeige. Der gute Mann hatte insoweit Recht, als der Begriff „Rasse“ selbstverständlich nicht in der
„Natur“ vorkommt und auch womöglich gar nichts, was diesem Begriff entspricht.
Jedoch
bleibt die Frage bestehen: Was hatte Immanuel Kant, der Königsberger, der Senf
liebte, über die „Indianer“ zu sagen und wer sollte das lesen wollen? Manche
offenbar schon. Denn es interessiert eben nicht jede, wie die „Indianer“ (ein
bei Kant sehr weiter „Begriff“) tatsächlich leben, was sie bewegt und wie sie
sich ernähren, wie sie arbeiten oder feiern. Ein solches Desinteresse, finde
ich, ist ganz in Ordnung. Manche interessieren sich eben für die Kritik (der
Vernunft, zum Beispiel) wesentlich mehr. Andere aber interessieren sich für konkrete
Erfahrungen. Auch sie, wie Georg Forster, als er mit James Cook die Welt
umreiste, schauen aus ihrem Blickwinkel, mit dem Erfahrungsschatz und den
Vor-Urteilen, die sie mitbringen, auf das, was sie erleben. Ein
vorurteilsfreier Blick ist eben unvorstellbar. Manche, mit Kant, glauben, vom
Vor-Urteil zum Urteil gelangen zu können. Das ist zweifellos interessant: die
Voraussetzungen empirischer Wissenschaften zu begründen. Davon kann man etwas
lernen.
Schade
nur, dass die meisten (nicht alle selbstverständlich), die sich hierfür so
brennend interessieren und viel Lebenszeit auf spekulative Philosophie
(Herkunftsland fast ausschließlich: Deutschland; Denker und Nach-Denker fast
ausschließlich: weiß, männlich, bürgerlicher Herkunft) verwenden, die vermeintliche
Verachtung ihres Meister gegenüber der Erfahrungswissenschaft, der
schnöden Empirie und deren zumeist angelsächsischen Vertretern teilen. Es lohnt sich kaum, meinen sie, Erfahrungen „da
draußen“ und mit anderen Menschen zu machen. Auch von Königsberg, Bad Salzuflen
oder Nieder-Olm aus sei die ganze Welt höchst umfänglich zu erkennen.
Neuerdings
(D.h. ganz so neu ist das längst nicht mehr, sondern eher inzwischen typisch
und häufig täppisch, auch wenn es sich selbst immer für noch „trendy“ und
schick hält) gibt es auch diejenigen, die reale Erfahrungen nur noch
vortäuschen mittels erfundener Biographien und Interviews, abgeschriebener Beobachtungen und kopierter
Zitate. Im Journalismus wird diese Mischung aus Fiktion und Realität immer noch von alt gedienten Redakteuren abschätzig Borderline-Journalismus genannt. Erfahrung wird von den Borderlinern aus vorgängigem Text
zusammengeschluddert, um dann einer stilsicheren Kritik mit hinreichend viel akademischem Vokabular, ausuferndes namedropping inklusive, unterzogen zu werden, deren
Ergebnisse („Hurra! Hurra! Wir wussten´s immer schon, wie das und die so
sind.“) selbstverständlich wenig überraschen können. Es erfreut an dieser Art
Textproduktion gelegentlich die sprachliche Eleganz, denn wer so arbeitet, kann
freilich viel Zeit aufs Polieren verwenden, bewegt er sich doch selten oder nie
aus dem Gleisdreck zwischen Schreibstube, Bibliothek (heuer oft sogar online)
und Stammkneipe (heuer eher: Szene-Bar). Das Genre hat seine Fans, unbestritten. ("Ist diese Fakten-Huberei nicht langweilig?") Den letzten „echten“
Journalisten (einer aussterbende Gattung) bleibt es indes ein Graus.
Als
literarische Gattung mag sie dagegen durchgehen, diese Vermischung von Fiktion
und Realität. Es gibt ja nicht wenige, die zwischen literarischem Schaffen und
mentalen Störungen (wie zum Beispiel Borderline) eine innige Verbindung wirken
sehen (Ich gehöre allerdings nicht zu denen: Hier.) Tatsächlich ist Literatur nie etwas anderes als ein Balanceakt auf der dünnen
Linie zwischen Erfahrung und Erfindung. Manche „postmoderne“ literarische Welle
glaubte aus der Kritik an der „authentischen Erfahrung“ ein Schreibverfahren
destillieren zu können, das auf diese gänzlich verzichtet: Ersatz von Leben
durch Text. So liest sich das dann auch: Wer viel gelesen hat, hat das alles schon
zigmal gelesen. Da wird, höchst kunstfertig bisweilen, nachgebildet was die
Literaturgeschichte so zu bieten hat, dekonstruiert und neu durchkonstruiert.
Das kann gelingen. Oder zumindest interessant sein: Diskurs als Erfahrung.
Thomas Meinecke zum Beispiel arbeitet so. Es gibt keine Literatur, die nicht auch so arbeitet. Wer schreibt, bezieht
sich auf Geschriebenes. Binsenweisheit. Phantastischste Welten entstehen aus
Lektüren, Film und Fernsehen. Auch das sind ja Erfahrungen. In unserer Welt
erfahren wir 94 % dessen, was wir erfahren, medial vermittelt. (Die Zahl habe ich irgendwo gelesen.) Wer
schreiben will, was wir erleben, kann nicht anders als auch über unsere
Erfahrungen in und mit Medien schreiben. Binsenweisheit.
Allerdings:
Auch hierbei gibt es Unterschiede, wie zwischen den „echten“ Journalisten und
den Borderlinern. Eine die das Leben durch Text ersetzt, wird am Ende nicht nur
sich selbst langweilen. Es stimmt dann nämlich: Alles schon mal dagewesen. Auf dem
Papier. Auf Zelluloid. Als binärer Code. Wer lebt, erlebt dagegen immer wieder
Neues. Kann sich überraschen lassen. Erfahren, was nicht in Klischees aufgeht. Indem
sie sich auf Menschen einlässt, die anders und mehr sind als ihre fiktiven Abziehbilder. Auf Kulturen, die ganz andere Menschenbilder und Lebensformen hervorgebracht haben, als die unsere. Wo
jedoch die Fiktionen nicht mit dem Leben konfrontiert werden, wo sie einer
Autorschaft unterworfen sind, die sich selbst nicht aussetzt, entsteht eine Literatur, die zum Beispiel mich nicht mehr interessieren kann. Damit erhebe
ich mitnichten die Forderung: Schreibt nur über das, was ihr erlebt habt.
Hilary Mantel kann nicht die Erfahrungen ihres Protagonisten Thomas Cromwell
teilen. Aber ihrem Roman liegt eine gründliche Recherche zugrunde, die sich von
den Quellen überraschen lässt, statt diese selbst zu konstruieren. Auf dem
Grund des Textes muss etwas liegen, was sich der Fiktionalisierung durch die
Autorin entzieht.
Alles
ist Fiktion. Aber die Fiktion ist nur dann interessant, wenn sie sich auf
Lebendiges bezieht: auf unvorsehbare, kontingente, lebendige Erfahrungen. Das bedeutet auch: Wer literarisch
schreibt, muss sich öffnen für unbeherrschbare, für fremdartige Erfahrungen. Wer auf der Grenze zwischen
Realität und Fiktion balanciert, kann sich nicht mit einem undurchdringlichen
Panzer der „Autorschaft“ umgeben, der unangreifbar machen soll. Denn in großer
Literatur stecken immer auch die eigenen Erfahrungen, jene die wehtun und Angst
machen, die eine bewahren und nicht hergeben will. Die Erfahrung, die Literatur vermittelt kann und der sich auch die Autorin stellen muss, ist die der Fremdheit und Befremdlichkeit selbst der eigenen Erfindungen.
Es
muss gelogen werden, selbstverständlich, zwanghaft. Alles wird zur Fiktion.
Überall Vor-Urteile. Literatur handelt aber nicht von Erkenntniskritik, jedenfalls die nicht, die ich lese. Immanuel Kant
kann deshalb gar nichts dafür. Weder für die Borderliner noch für seine Apologeten. Er
jedenfalls war kein namedropper und Wiederholungstäter. Die Borderline-Journalisten wären ihm sicher zuwider gewesen. Leider war er vor allem auch ein deutscher
Idealist. Oder zum Glück. Moderne Naturwissenschaften ohne Kritik der Vernunft
sind undenkbar. Literatur ohne Erfahrung aber auch. Jedenfalls solche,
die nicht langweilt, jedenfalls mich. Aber manche, wiederum, lieben die gepflegte Langeweile.
Jeder Jeck ist anders. Manche bleiben daheim, trinken Wein und bestellen Senf.
Manche umsegeln die Welt. Wie dumm, wenn sie sich gegenseitig verachten. Jede
Erfahrung zählt, auch die des daheim gebliebenen weißen deutschen Mannes. Im
Ernst.
CU.
Next year.
Im Ernst?
AntwortenLöschenIm Uebrigen war Kant in gesellschaftlichen Dingen, d. i. der Umgang mit Menschen jedwedes Schlages, unuebertroffen.
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