Montag, 11. Februar 2013

"Nothing changes, apparently, about love." ("AMUNDSEN" - eine Erzählung von Alice Munro)


Alice Munro, von der ich hier im Blog und anderswo schon öfter schrieb oder sagte, dass sie unter den zeitgenössischen Autorinnen (männliche mitgemeint, wie meistens) diejenige ist, die mir am meisten bedeutet (oder auch: die ich für die bedeutendste halte) schreibt keine (oder fast keine) Romane. Alice Munro schreibt auch keine Kurzgeschichten oder Novellen. Munro schreibt mittellange Erzählungen, die weder ein Leben, eine Gesellschaft, eine Epoche in ihrer „Totalität“ erfassen wollen, noch durch eine "unerhörte Begebenheit" geprägt werden oder in lakonischem Stil Anfang und Ende offen lassen. Alle diese Gattungsmerkmale erzählender Prosa spielen für Munros Erzählungen keine Rolle. Sie entwickele, erklärte sie öfter, ihre Erzählungen nicht als chronologische Abfolge von Ereignissen oder Empfindungen, nicht als eine „Straße, der sie folge“, sondern wie ein Gebäude, das die Leserin betreten könne, um die Einrichtung anzuschauen und die Proportionen und Relationen, in denen sich die verschiedenen Räume und die Möblierung zueinander verhalten, wahrzunehmen. Die Bewegung der Leserin in diesem Haus, das die Erzählung ist, folgt keiner zwingenden Abfolge, sondern sie kann sich in diesem Konstrukt von hier nach da, von vorne nach hinten und seitwärts bewegen. Gegenwart und Vergangenheit stehen in diesen Erzählungen nicht in einem einseitigen Verhältnis zueinander, in dem die Gegenwart sich folgerichtig aus der Vergangenheit ergibt. Vielmehr erhalten beide ihre Bedeutung jeweils von einander. Was die Vergangenheit war, ergibt sich aus der Gegenwart.

Es fällt mir schwer, obgleich ich es schon lange möchte, über die Erzählungen von Alice Munro (meist enthalten die Sammelbände zwischen 10 und zwölf Erzählungen) eine Buchempfehlung zu schreiben. Im Kommentargespräch mit NO zu einer Erzählung aus dem jüngst erschienen Band „Dear Life“ ist mir klar geworden, warum das so ist: Zu jeder einzelnen dieser Erzählungen könnte ich mehr schreiben, als zu den allermeisten Romanen, die ich gelesen habe und lese. Jeder weitere Gang durch die Räume, die Munro entwirft, bringt neue Entdeckungen hervor, Verunsicherungen, Veränderungen der Beziehungen zwischen Personen und Orten und Zeiten. Munros Erzählungen enthalten keine phantastischen Elemente, keine surrealen Figuren, keine Science Fiction und keine wundersamen Fügungen. Es geschieht in diesen Erzählungen nichts, was nicht auch in einem „realistischen“ Roman erzählt werden könnte. Dennoch muten diese Erzählungen irreal und beinahe märchenhaft an, weil Munro den Leserinnen die Erklärungen vorenthält, weil die Handlungen und Gefühle ihrer Figuren nicht durch Motivationen und Überzeugungen plausibel werden, sondern allein durch die Proportionalität der Erzählelemente. Das kann bei Leserinnen auch Unzufriedenheit auslösen, denn die Frage nach dem „Warum?“ bleibt immer offen. Es gibt keine innere Logik des Handelns, sondern spontane Entscheidungen, Eindrücke, Verschiebungen. Daher lese ich Munros Erzählungen kaum je „psychologisch“, auf der Suche nach den „tieferen“ Motiven ihrer Figuren, sondern „oberflächlich“, nämlich im Versuch, die Struktur der Erzählung nachvollziehen, dem Muster auf die Spur zu kommen, nach dem sich Figuren und Handlungen in dieser einen Erzählung zueinander ordnen. 

Der Titel der Erzählung, über die ich mit NO diskutierte, lautet „Amundsen“. Ich habe sie zum ersten Mal im vergangenen Sommer in der Online-Ausgabe des New Yorker gelesen. „Amundsen“ ist ein kleiner Ort im Westen Kanadas, in dem eine sehr junge Frau, die Ich-Erzählerin, in letzten Kriegsjahr 1945 eine Stelle als Lehrerin in einem Sanatorium für Tbc-kranke Kinder annimmt. Sie hat gerade ihren Bachelor-Abschluss in englischer Literatur gemacht und will ein wenig Geld verdienen, bevor sie ihr Master-Studium aufnimmt. Die Klinik wird von einem rothaarigen Arzt geführt, der viele Jahre älter als Vivien, die Ich-Erzählerin, ist. Unmittelbar nach ihrer Ankunft lernt sie die forsche und vorlaute pubertierende Mary, die Tochter der Köchin, kennen. Vivien wächst in ihre Rolle als Lehrerin langsam hinein, der Leiter der Klinik lädt sie zu einem Abendessen in seinen Junggesellenhaushalt ein, beim zweiten Treffen stört Mary die beiden und führt ihnen ungebeten einen Tanz vor. Der Arzt wirft das junge Mädchen auf grobe Weise hinaus und nach seiner Rückkehr haben Vivien und er Sex miteinander. Für Vivien ist es das erste Mal. Die beiden verloben sich, halten die Verlobung in Amundsen jedoch geheim.  Bei einem gemeinsamen Ausflug nach Huntsville soll die Ehe geschlossen werden, doch im letzten Moment entscheidet sich Dr. Alister Fox um und erklärt, er könne sie doch nicht heiraten. Er fährt Vivien zum Bahnhof und setzt sie in den Zug nach Toronto. Im Zug trifft Vivien noch einmal Mary, die mit ihrem Sportteam von Huntsville zurück nach Amundsen fährt. Jahre später kommt es in einer belebten Straße in Toronto zu einer kurzen Begegnung zwischen der inzwischen verheirateten Vivien und Alister Fox. Die Erzählung endet mit dem Satz: „Nothing changes, apparently, about love.“

Munro erzählt diese Geschichte, anders als die meisten ihrer Erzählungen, in der chronologisch richtigen Reihenfolge. Sie beginnt mit der Ankunft der jungen Ich-Erzählerin im Sanatorium und endet mit der Begegnung der erwachsenen Frau in Toronto mit dem ehemaligen Geliebten. Dennoch bleibt völlig unklar, warum der Mann das Eheversprechen im letzten Moment bricht. Die Frage nach dem Warum wird nicht gestellt. Die Ich-Erzählerin ist später dankbar dafür, dass das Treffen mit Mary sie davon abgehalten hat, den Zug in Amundsen noch einmal zu verlassen, um sie ihm vorzuhalten: „...run to his house and demanded to know why, why, why. What shame on me forever.“ 

Worum geht es in dieser Erzählung? Am Anfang sitzen zwei Frauen auf einem Bahnsteig. Die eine hat rohes Fleisch bei sich. Die andere kann es riechen. Dann kommen die Männer, Arbeiter eines Sägewerk. Männer und Frauen. Damit fängt es an. Getrennte Sphären. Sie haben nichts miteinander zu tun. Es ist ein „roher Tag“, ein Tag für „rohes Fleisch“. In diese abgeschiedene Welt klarer Arbeitsteilung und pragmatischer Haltungen tritt die Ich-Erzählerin mit jenem fremden Blick, der in der vereisten Landschaft mit den hellen Birken die Kulisse für einen russischen Roman erkennt. Während ihr die Landschaft „beautiful“ erscheint, wirkt sie auf die andere Frau, die „Fleisch-Frau“, „lost“.  Da taucht in jenem dunklen Flur, in dem sie auf den Doktor warten soll, Mary auf, ein Schulmädchen, das Fragen stellt, den Mantel der jungen Frau aus Toronto bewundert und die Verbindung zu dem herstellt, worum es hier in der Klinik vor allem geht: das Sterben. Sie erzählt Vivien sofort von ihrer besten Freundin Anabel: „´Who´s Anabel?´´Nobody now. She´s dead.´“ Die junge, belesene Vivien ist von Marys Forschheit und Pragmatismus ebenso überfordert wie durch die Hinterhalte, die ihr der neue Arbeitgeber, Dr. Fox, im Gespräch  legt. Er stellt bohrende Nachfragen und macht sich darüber lustig, dass sie die Situation mit literarischen Impressionen („Krieg und Frieden“, „Zauberberg“) vergleicht. Später wird sich herausstellen, dass er selbst nur wenig Prosa, sondern ganz überwiegend historische Sachbücher liest und seine vorgebliche Überlegenheit sich auf „not so solid a platform“ stützt, wie es scheint.

Die Frauen im Sanatorium gliedern sich in zwei Gruppen: die älteren Krankenschwestern und die Köchin, „not one of them within thirty years of my age“ und die jüngeren Pflegehelferinnen, die beinahe alle verlobt sind mit Männern, die in der Armee dienen. Sie alle haben kein Interesse an der jungen Lehrerin: „They didn’t want to know what Toronto was like, though some of them knew people who had gone there on their honeymoon, and they did not care how my teaching was going or what I had done before. It wasn’t that they were rude—they passed me the butter (it was called butter but it was really orange-streaked margarine, colored in the kitchen) and they warned me off the shepherd’s pie, which they said had groundhog in it. It was just that whatever happened in places they didn’t know had to be discounted; it got in their way and under their skin. Every time the news came on the radio, they switched it to music. Dance with a dolly with a hole in her stockin’ . . .“ In dieser Welt ist die junge Frau, die noch mit keinem Mann zusammen war und alle ihre Erfahrungen aus Büchern bezieht, eine Außenseiterin. Nur die dreizehnjährige Mary sucht den Kontakt mit ihr, ein neugieriges, sensibles Mädchen, das für kurze Zeit als Spielkameradin der Patientin Anabel auch die Aufmerksamkeit von Dr. Fox genossen hat.

Die Welt der Männer bleibt in der Erzählung außen vor; sie ist „draußen“: in der Kälte, im Sägewerk, in den Fahrzeugen, die sich durch die Winterwelt kämpfen und ganz weit weg, in Übersee, wo ein Krieg in seine Endphase geht, den sich in Amundsen keine vorstellen kann. Junge Männer fehlen in dieser Welt. Der „zurückgebliebene“ Doktor ist auf seine Weise in Amundsen ähnlich isoliert wie Vivien Hyde, genießt durch sein Geschlecht, seine Bildung, seine berufliche Position und seine gelegentliche Schärfe jedoch den distanzierten Respekt der Gemeinde. Dr. Fox ist ein guter Arzt, wie es scheint, nicht nur ein guter Operateur, sondern auch ein Mann, der sich für seine kleinen Patienten interessiert und ihren Ton trifft. Für die sterbende Anabel organisiert er Mary als Spielkameradin und unternimmt Ausflüge mit den beiden Mädchen. Im Schulzimmer taucht er eines Tages auf, übernimmt die Rolle eines Schülers und erheitert die Kinder. Vivien und er sind sich nicht ganz einig über die Lehrmethoden und – inhalte. Während er den Unterricht vor allem als Beschäftigungstherapie betrachtet, will sie den Kindern ein Fenster zur Welt öffnen, z.B. indem sie einen Globus in das Schulzimmer stellt. Der Doktor, ähnlich wie Mary, lebt in der Gegenwart. Ihm geht es darum, den Aufenthalt seiner kleinen Patienten so angenehm wie möglich zu gestalten, während Vivien eine fiktive Zukunft vorschwebt, in der sie Dinge „über die Welt“ wissen sollten. Der Doktor indessen verschweigt Vivien bis zum bitteren Ende, dass die Kinder in ein anderes Sanatorium verlegt werden sollen. Seine operativen Behandlungsmethoden sind veraltet, die Erprobung eines neuen, besseren Medikamentes steht an.

Sphären. Gesprächsebenen. Männlich. Weiblich. Kalt. Warm. Belesen. Ungebildet. Lebendig. Tot. Im winzigen Amundsen, ganz weit weg von der „großen Welt“, die in der Erzählung durch Toronto symbolisiert wird, dem Ort, von dem die Erzählerin sagt: „It seemed to me that everybody ended up in Toronto, at least for a little while.“, treffen „kleine Welten“ aufeinander. Manchmal können sie miteinander ins Gespräch kommen. Manchmal nicht. Mary und Vivien stellen sich Fragen. Mary kann Vivien den Doktor erklären – oder zumindest jenen Doktor, den sie kennengelernt hat: Reddy, wie sie den Rotharigen nennt. Der Doktor neckt Vivien und durchschaut ihre Lügen. Keine Schnittmengen zwischen Vivien und den anderen Frauen. Wer versteht wen? Für Mary ist Vivien nach dem Tod Anabels eine neues Verbindungsglied zum Doktor, den sie verehrt. Für Vivien ist Mary eine Informationsquelle und jemand, der zu ihr aufschaut, weil sie aus der "großen Welt", aus Toronto kommt. Für den Doktor ist Vivien in dieser Einsamkeit ein Mensch, mit dem man sich „unterhalten kann“. Vivien und der Doktor versetzen Mary, die sie zu einer Schulaufführung eingeladen hat, bei der sie eine Rolle spielt. Mary kommt uneingeladen vorbei, um ihren Part dem werdenden Paar vorzuspielen. Valentine´s Day. Für wen tanzt und singt Mary? „The performance had not been for me. Or perhaps only a small part had been for me.“, weiß die Ich-Erzählerin. 

Nachdem der Doktor Mary mit harten Worten zum Weinen und weg gebracht hat, wird alles anders. Er war brutal zu einer anderen, um mit ihr allein zu sein. das schockt Vivien und das gefällt ihr: „...he took me to bed...My state of virginity, at least, did not appear to be unexpected—he provided a towel, as well as a condom—and he persisted, going as easily as he could. My passion was the surprise, to us both.“ Danach verspricht er die Ehe und wirft das herzförmige Zuckergebäck weg, das Mary mitgebracht hat.

Die Liebe als Passion zerstört in dieser Erzählung die schwache Möglichkeit, Verbindungen herzustellen zwischen den getrennten Sphären. Ihre passive Hingabe, seine Rücksichtslosigkeit. Er lebt in der Gegenwart, in der sie erst ankommt, als es nach Huntsville geht – zum Heiraten. „Going to Huntsville – our code for getting married.“ An dieser Stelle ändert Munro die Zeitform. Bis hierher hat die Ich-Erzählerin im Präteritum berichtet, nun wird alles Gegenwart: der eine Tag im Leben, der immer gegenwärtig ist. Erst auf dem Weg nach Huntsville, fern von Amundsen, wagt sie es ihn Alister zu nennen (und die Leserinnen erfahren erstmals seinen Vornamen). Die Allierten rücken auf Berlin vor, hören sie im Radio. Es gibt offenbar kaum etwas zu sagen. Sie genießt seine „male unawareness of me – which I know can quickly shift to its opposite.“ Ihr gefällt die Passivität als Beifahrerin, man könnte fast sagen, es macht sie an: „I find it exciting that he is a surgeon, though I would never admit that. Right now, I believe I would lie down for him in any bog or mucky hole or feel my spine crushed against any roadside rock, should he require an upright encounter. I know, too, that I must keep these feelings to myself.“ 

Sie richtet ihre Gedanken in die Zukunft. Wenn sie nicht aus der Vergangenheit berichtet, schmiedet sie Pläne: ihr Kleid, die Kapelle, in der sie heiraten, das Restaurant, die Blumen. Aber er hat anderes vor: Standesamt, eine Kneipe, keine Blumen. Ein „genteel house that offers chicken meals“ als Kompromiss. Und dann ist alles aus. Sie zieht sich im „ladie´s room“ um und erneuert ihr Make up. Er macht ihr ein Kompliment auf dem Weg nach draußen und hält ihr die Tür zum Auto auf. Sie sitzen eine Weile im Auto. Sie sieht alle Details der Häuser um sie herum und der geparkten Autos: „It occurs to me that I will never be able to look at curly “S”s like those on the skate-sharpening sign, or at rough boards knocked into an X, like those across the steps of the yellow house, without hearing this voice.“ Das ist die einzige Stelle in der Erzählung, an der Munro nicht chronologisch erzählt. Wir sitzen mit der Ich-Erzählerin im Auto und wissen es schon. Wir sehen die Umgebung, jedes Detail. Ein Lastwagenfahrer klopft ans Fenster, damit der Doktor das Auto wegfährt und er einparken kann. Dann erst wiederholt die Erzählerin, was er gesagt hat: „I can´t do it.“ Die paar Worte im Auto spricht er noch mit jener Stimme, mit der auch im Bett zu ihr sprach. Als er das Fenster herunterkurbelt aber hat er die „male-to-male“-Stimme angeschaltet. Es ist vorbei. Kein Kontakt mehr. Zwischen den Sphären.

Worum geht es in dieser Erzählung? Um einsame Menschen. Um Männer und Frauen. Um Abgeschiedenheit. Um die Liebe. Um Gespräche. Darum, dass die Liebe nichts mit Kommunikation zu tun hat (trotz Niklas Luhmann). Und deshalb eine Kränkung ist. Denn: Über die Liebe als Passion gibt es nichts zu erzählen. Sie ist jenseits des Erzählbaren. Oder: Sie ist nicht. Die Ich-Erzählerin ist dankbar, am Ende, dass sie nicht ausgestiegen ist, um zu fragen: WHY? Sie wird immer im Zug sitzen: disbelieving. "Nothing changes, apparently, about love." Was man nicht erklären kann. Und nicht erzählen. Das bleibt. 

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32 Kommentare:

  1. Liebe Melusine,

    für mich sehr hilfreich ist Ihrer Einordnung der Geschichten als solcher eigener Art (kein Roman natürlich, keine Novelle, keine Kurzgeschichte). Und ich bin beeindruckt von Ihrer Erkenntnis, dass sich das Verständnis der Geschichten daraus ergibt, wie sich die einzelnen Aspekte der jeweiligen Erzählung zueinander verhalten: Viel Raum, viel Bedeutung; Zuordnung zueinenader, viel Bedeutung. Auch wenn der Rauminhalt und Zuordnung völlig unmotiviert erscheinen, völlig sinnlos, unverständlich, unlogisch:

    „Munros Erzählungen enthalten keine phantastischen Elemente, keine surrealen Figuren, keine Science Fiction und keine wundersamen Fügungen. Es geschieht in diesen Erzählungen nichts, was nicht auch in einem „realistischen“ Roman erzählt werden könnte. Dennoch muten diese Erzählungen irreal und beinahe märchenhaft an, weil Munro den Leserinnen die Erklärungen vorenthält, weil die Handlungen und Gefühle ihrer Figuren nicht durch Motivationen und Überzeugungen plausibel werden, sondern allein durch die Proportionalität der Erzählelemente.“

    Es geht darum, „die Struktur der Erzählung nachzuvollziehen, dem Muster auf die Spur zu kommen, nach dem sich Figuren und Handlungen in dieser einen Erzählung zueinander ordnen.“

    Dass man den Charakter und die Motivationen von Menschen einfach nicht (er)kennen kann, das mag hinter der Art und Weise stecken, wie Munro schreibt, und irgendwo (ich glaube, in der New York Times) habe ich dies so umschrieben gefunden:

    “The questions that may puzzle many readers—why Vivien agrees to marry Fox and why Fox decides at the last minute not to marry her—cannot be answered by appealing to any simple psychology of the two characters as if they were particular people in the world, but rather by referring to what Henry James once said about Nathaniel Hawthorne’s concern with a “deeper psychology”--what Daniel Menaker has said about Munro’s trying to help the reader “get at some true emotional psychological insight, but that often takes the form of a kind of philosophical surrender to the unknowability of people’s motives and characters, a dark existential uncertainty about what makes people tick.”
    Vivien’s attraction to Fox is derived from her romantic, fiction-based, fascination with his mysteriousness maleness. His decision not to marry her derives from his desire to maintain his own concept of maleness apart from any female involvement.”

    Beste Grüße
    NO

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    1. "Dass man den Charakter und die Motivationen von Menschen einfach nicht (er)kennen kann..." - für mich ist das so, wie "im richtigen Leben" und doch anders. Denn in Munros Erzählung werden Muster deutlich, Prägungen(?), wiedererkennbare, die allerdings im "richtigen Leben" eben hinter dem, was wir "Charakter" oder "Motivation" nennen, verborgen bleiben. Diese Figuren Munros sind weder "determiniert", noch verfügen sie über einen "freien Willen". Dieser (alte?, kontinentale?) Philosophenstreit läuft angesichts dieser Erzählungen komplett ins Leere. Sie haben eher das, was Alexander Kluge "Eigensinn" nennt (das zumindest ist eine der Ideen, die ich weiter verfolgen könnte/möchte).

      Und dann die nächste Erzählung: "Leasing Maverly" - ganz anders. Haben Sie die schon gelesen? Eine ganz große Liebe. Aber es wird nicht von ihr erzählt - oder nur am Rande. Immer wieder geht es um die "Nebengeschichte" dieser Leah, die sich in den Vordergrund drängt und dem Erleben des Mannes einen Rhythmus, aber keinen "Sinn" gibt. Am Ende, als seine Frau tot ist, vergisst er den Namen des Mädchens. Schon ist wieder alles offen.

      Offenheit - das wäre auch ein Wort, das ich mit Munros Geschichten verbinde. Aber nicht im Sinne einer Offenheit gegenüber verschiedenen Sinnstiftungen/Deutungen, sondern tatsächlich "geöffnet", im Sinne von Zugängen. Man kann immer wieder anders in diese "Gebäude" gehen. Freiheit bedeutete dann nicht, sich zwischen Alternativen (meistens Oppositionen) zu e n t s c h e i d e n, sondern die Zahl der Möglichkeiten zu erweitern. Aber das ist vielleicht zu "philosophisch" gedacht. Für mich überschreiten Munros Erzählungen aber all jene europäischen Diskurse über Subjekttheorie und Dekonstruktivismus etc. Ihre Figuren sind nicht "authentisch", aber auch nicht "dekonstruiert", sondern ..."eigensinnig". (Ich finde dieses Wort von Kluge herrlich. Finden Sie nicht, dass es Mary - z.B. - "erklärt"?)

      Ich bin immer noch ein wenig kränklich, eine Verfassung, in der ich gerne Texte lese, die ich schon kenne. Daher momentan keine neuen Geschichten von Alice Munro, sondern ausschließlich Wiederholungen. Soweit ich dazu komme, derweil ich völlig in der Spinster-Welt von Barbara Pym eingeschlossen bin (was ich nach einem anstrengenden Arbeitstag als sehr erholsam und beruhigend empfinde).

      Herzliche Grüße

      M.

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  2. Ja, liebe Melusine,

    ich habe! Ich hatte gehofft, dass man an dieser Stelle auch mit anderem aus „Dear Life“ fortfahren darf!

    Es ist eine große Liebesgeschichte, die Geschichte einer großen Liebe:

    Junger Veteran verliebt sich in seine Lehrerin: 30 Jahre, strahlend. Sie lässt sich scheiden, sie heiraten, sie verdient das Geld, er studiert fertig. Danach Kinder und e r verdient - so der Plan. Aber sie wird krank vorher. Das Herz. Langsam, aber stetig, wenn auch in Schüben, geht es abwärts. Er pflegt sie tagsüber und hat für nachts einen Job angenommen. Er betreut sie permanent, als sie das Krankenhaus nicht mehr verlassen kann. Er sitzt an ihrem Bett, als sie längst im Dauerkoma liegt, noch Jahre. „He was no longer waiting for her to open her eyes. It was just that he could not go off and leave her there alone.” Und dann kommt es doch anders.

    Es ist eine unperfekte Liebesgeschichte, die Geschichte von etwas, das fehlt:

    Das verliebte Ehepaar kann über alles reden und lachen. Und das tun sie dann auch, fast bis zum Schluss. In einem Kino hört die Kartenverkäuferin auf, weil sie ein Kind bekommt. Ihre Nachfolgerin ist selber fast noch ein Kind, und wenn sie nicht arbeitet, passt sie auf die kleinen Kinder-Geschwister auf. Später bekommt sie selber zwei Kinder. Kinder in der Klasse der Lehrerin. Kinder, Kinder. Nur die Lehrerin und ihr Veteran können keine bekommen. Darüber redet das Ehepaar nicht. Jeder der beiden überlegt für sich, ob ihm der andere einen Vorwurf daraus macht. Er kümmert sich um ein Ersatzkind, sechzehnjährig und sehr schüchtern, bringt es immer Samstagabends von ihrem Job nach Hause, sucht sie, als sie plötzlich verschwindet; die Lehrerin will alles hören und wissen, was er erzählen kann über das Kind. Wenn deren Eltern es nicht wollen, soll man es dann nehmen? „Don’t event think about it!“

    Im Grunde hatte mir diese Geschichte nicht gefallen. Aber es gab schon beim ersten Lesen Dinge, die sie lesenswert machen, die Alice Munro lesenswert machen:

    Diese Bewegung auf Nebengleise zum Beispiel, wenn die Geschichte anfängt mit den Problemen und Haltungen eines Kinobesitzers, der dann aber in der ganzen Geschichte praktisch keine Rolle spielt. Oder wenn anfangs von einem Polizisten die Rede ist, dessen Polizist-Sein sich dann aber als völlig belanglos herausstellt, weil der Mann in der Geschichte ganz andere, viel gewichtigere Rollen ausfüllt.
    Diese fabelhafte Kanadisch zu Beispiel, dieses wunderbar geformte Sprache, diese wunderbar strukturierten Sätze: „In the old days when there was a movie theater in every town there was one in this town, too, in Maverly, and it was called the Capital, as such theaters often were“. Es erinnert mich in meiner Faszination an das Englisch eines Dickens, eines Poe - aber vielleicht steckt ein Körnlein Kritik im Anklang an die Altmeister?

    Nun habe ich die Geschichte ein zweites Mal gelesen und finde sie besser, ja vielleicht sogar gut.

    Ich habe bemerkt, welchen verhältnismäßig großen Raum die Figur der Leah einnimmt. Die Figur mochte ich nicht besonders, deren whereabouts langweilten mich. Aber sie ist auch einem der Helden der Geschichte unmittelbar gegenüber gesetzt. Sie ist zentral. Und dann bemerke ich, dass man durchaus die vermeintliche Vater-Kind-Beziehung in Frage stellen kann zugunsten einer Mann-Frau-Beziehung. Zumindest im Fortgang der Geschichte. Und wie der Mann, der das selber so nicht gesehen oder formuliert hätte, am Ende, hin- und wieder abgezogen, zur großen Überraschung des Lesers, eine überwältigende Erleichterung verspürt, dass es diese Leah doch gibt.

    Das ist interessant!

    Beste Grüße und Gute Besserung!!
    NO
    (Anmerkungen zu „Leaving Maverly“, aus: „Dear Life“, Alice Munro).





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    1. Lieber NO,

      (das ist ein ganz hartnäckiger Husten und eine ausgedehnte Vor-Frühjahrsmüdigkeit, offenbar).

      Darauf wäre nun ich wieder nicht gekommen: Dass er sich für Leah "als Frau" interessiert. Darauf finde ich gar keinen Hinweis. Viel eher, denke ich, ist Ihr Desinteresse an ihr und ihrer Geschichte ein Spiegel dessen, was Leah für die Geschichte und für Ihn ist: ein Gesprächsgestand, "gossip", etwas, um die Frau, die er liebt, zu unterhalten. Er muss sich am Ende ihren Namen wieder in Erinnerung rufen: "A relief out of all Proportion, to remember her."

      Die Erinnerung an Leah - mit der fängt alles an. Leah, die alles absorbiert, aber nichts zurück gibt. Und dann verschwindet: "Leaving Maverley." Eine Enttäuschung für die Leserin (wenn sie noch Erwartungen hat, wie an Nicht-Alice Munro-Texte): keine Leiche, kein richtiger doller Skandal, kein romantisches Happy End. Durchgebrannt, geschwängert von einem Alkoholiker, den nächsten Liebhaber aufgetan, die Kinder entzogen bekommen. Wirklich deprimierend. Aber so kommt es gar nicht rüber - weil "Leah" eben nicht im Zentrum steht. Sondern ein Mann, der dafür lebt, seine Frau glücklich zu machen. Und der auch weiß, worauf es ankommt: Gesprächsstoff zu finden, über den man zusammen reden und lachen kann, um über das zu schweigen, worüber man nicht reden kann. Dass er das weiß und kann, davon wird schon im ersten Teil, bevor die Geschichte des Paares entworfen wird, erzählt: Er sucht nach Gesprächsstoff für die kurzen Begleitgänge, wenn er Leah vom Kino nach Hause bringt. Das gelingt ihm. Aber Leah gibt nichts zurück; sie nimmt nur. Man könnte auch sagen: Mit ihr kann man nicht reden.

      Das ändert sich erst ganz am Ende. Als sie über ihre verlorenen Kinder spricht: "An expert of losing, she might be called - himself a novice by comparison." Er verliert "Leah", den Gesprächsstoff, und erinnert sich an das Mädchen, die Frau Leah, die es wirklich gibt.

      Es geht auch in dieser Geschichte um die Liebe, die gelingt, wenn ein Paar miteinander reden kann u n d über das schweigen, worüber man nicht reden kann. (Und um das Talent eines einfachen Mannes, der "gesprächsfähig" ist (wie wenige sind das :-) ). Und um Verlust. Worüber es nichts zu sagen gibt.

      Auf den Vergleich mit Poe oder Dickens wäre ich nicht gekommen. Es ist auch viel zu lange her, dass ich einen den beiden gelesen habe. Für mich hätte ein Vergleich mit Jane Austen näher gelegen. Weil bei Munro gerade das "fehlt" (mir allerdings gar nicht, weil es das ist, was mich meistens sehr langweilt), was bei Dickens und Poe so wichtig ist: eine verwickelte Handlung, Spannungselemente und ein (zumindest bei Dickens) ziemlich unübersichtliches Beziehungsgeflecht. Ich mag ja vor allem Erzählungen und Romane, deren Handlung sich in weniger als 8 Sätzen zusammenfassen lässt:
      Ein paar Leute auf dem Land, zwei kriegen sich und zwei nicht. (Jane Austen)
      oder:
      Ein Mann lebt mit seiner Frau glücklich zusammen, begegnet immer wieder mal einer anderen jungen Frau zufällig, schließlich stirbt seine Frau und er fühlt sich verloren. (Alice Munro)
      oder:
      Zwei mittelalte Schwestern leben in einem kleinen Dorf, Gartenarbeit, Tratsch und Klatsch, in einem Sommer tauchen ein Bischof und ein Bibliothekar auf, die jeder einer der Schwestern einen Heiratsantrag machen, der abgelehnt wird. Danach geht das Leben seinen gewohnten Gang. (Barbara Pym)

      Sowas: "The heartbreaking sillliness of everyday life."

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    2. Na, das macht mir ja Spaß. Wie einer meiner Ex-Partner immer zu sagen pflegte: Ich vertrete die gegenteilige Auffassung unter Beibehaltung der Fußnoten.

      Der Mann ist erleichtert, dass es Leah gibt, denn er erinnert sich an sie, die Frau: „ to remember H E R“. Bei Ihrer Auslegung (Erleichterung darüber, dass ihm der Name wieder einfällt), hätte es heißen müssen: to remember IT (den Namen nämlich), oder: to remember her name.

      Außerdem heißt es, als sich die beiden überraschend in der Stadt treffen, dass beide für sich das Gefühl haben, den anderen noch nicht verlassen zu wollen, obwohl der small talk auf der Straße vorüber ist: “There was a feeling that she didn’t quite want to part with Ray yet, and Ray did not want it, either, but it was hard to think of anything else to say.”

      Zudem macht sie ihm ein mehr oder weniger eindeutiges Angebot – zu kochen nämlich in seiner Wohnung – was er schuldbewusst ablehnt. Das Schuldbewusstsein hier nehme ich aus dem erklärten Schuldbewusstsein in der selben Szene dort, wo ihm plötzlich klar wird, der Leah zu viel über die Erkrankung seiner Frau (also Intimitäten) erzählt zu haben. Schuldbewusstes ablehnen aber bedeutet, es hatte ihm etwas „Schuldhaftes“ vorgeschwebt (eine Affäre nämlich, mithin eine Art „Verrat“ an seiner Frau).

      Es mag zwar nicht ganz passen, aber Leah war die fruchtbare Frau des Jakob (die Leah hier hat 2 Kinder!), während die über alles geliebte Rahel in der Geschichte Jakobs stirbt (wie hier die Lehrerin). Da wäre hier also noch Luft nach oben bezüglich Leah und Jakob-Ray.

      Meine Deutung wäre mithin eher, dass es auch dann weiter geht, oder gehen kann, im Leben, wenn das bisher Elementarste wegfällt. Ich lese das als eine Geschichte der Hoffnung, ein Urvertrauen. Verdichtet in einem der schönsten Sätze der Geschichte: „And before long he found himself outside, pretending that he had as ordinary and good a reason as anybody else to put one foot ahead of the other“. Meine Zusammenfassung hätte gelautet: Ein Mann lebt mit seiner Frau glücklich zusammen, begegnet immer wieder mal einer anderen jungen Frau zufällig, schließlich stirbt seine Frau und er fühlt sich verloren, geht aber getrost dem entgegen, was da kommen mag (die Anspielung auf Bonhoeffer ist gewollt).

      Aber Ihre Deutung, die Langweiligkeit der Umstände um Leah indiziert, dass das Mädchen bloß Gesprächsstoff sein soll, ist ziemlich spannend.

      Und Ihre andere Lesart wohl auch nicht verwunderlich, denn wie an anderer Stelle schon festgestellt, lesen wir beide völlig unterschiedlich („ticken ganz anders). Während ich das Nichtsprechen-Können über die fehlenden Kinder bei dem Ehepaar als Defizit lese, sehen Sie das als souveräne Stärke, nämlich die, schweigen zu können, über das nicht Aussprechliche eben nicht zu sprechen.

      Poe und Dickens waren nur Sprachvergleiche, keine inhaltlichen. Und bei Jane Austen muss ich natürlich passen (männlich, westlich, weiß - Sie wissen …).

      Übrigens, das „Maverley“ ist so wortähnlich zu „Manderley“, dass es vermutlich eine Verbindung gibt, aber ich habe „Rebecca“ nie gelesen. Haben Sie – und können Sie etwas damit anfangen?

      Beste Grüße
      NO

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    3. Lieber NO,

      Sie haben mich überzeugt. Ja. Und nun ist es für mich eher spannend, warum ich das "überlesen" habe. Kein Interesse für Leah...bei mir. Warum? Weil sie nur "aufnimmt". Leah und Rahel - auch dieser Bezug, auch damit glaube ich, haben Sie völlig Recht. Nur gegen die Hoffnung auf eine Liebesbeziehung zwischen dem alten Mann und der jungen Frau, dagegen sträubt sich noch immer alles in mir :-).

      Ja, tatsächlich, ich halte es nicht für ein Defizit, nicht über ALLES zu reden. Ich glaube jedes Paar, das lange miteinander lebt, hat "Tabuzonen" und es ist die Kunst sie als gemeinsame zu erkennen.

      "Rebecca" habe ich selbstverständlich gelesen. Aber noch keine Idee zu einer Verknüpfung.

      (Dass Sie Austen nicht gelesen haben - unglaublich! Ich habe jeden Ihrer Romane bestimmt schon ein dutzend Mal gelesen!)

      Liebe Grüße
      M.

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  3. Ein Junge „verschuldet“ den Tod seiner großen Schwester.

    Die Geschichte ist aus seiner Perspektive erzählt, allerdings als Rückblick, er ist inzwischen erwachsen und hat auch einen Analytiker damit beschäftigt gehabt. „Verschuldet“ im biblischen Sinne, nicht im juristischen. Der Junge war sehr klein, ein Knabe. Seine Erinnerungen äußerst lückenhaft. Die Schwester mag gesprungen sein, die Schwester mag den Hund gerettet haben wollen, der Hund mag sie gezogen haben, es mag ein schlichter Unfall gewesen sein. Verschwommene Erinnerungssplitter mögen andeuten, dass der kleine Knabe doch alles Notwendige getan habe, oder mögen ein Verkettung unglücklicher Umstände vorschlagen. Kurzum, alles bleibt letztlich offen und unaufgeklärt. Für den Jungen bleibt es - lediglich – eine biblische, ein gefühlte Schuld. Vielleicht nicht einmal das, sondern nur eine klare Erinnerungslücke, die als solche schmerzt.

    In dieser Geschichte „trifft“ es (wieder einmal) die Ehefrau, die – nach Blickveränderung durch die Schauspieler, mit denen sie sich umgibt – die Liebe zu ihrem Ehemann verliert. Sie zieht mit einem anderen zusammen und nimmt die Kinder mit.

    Was ich aus dieser Geschichte mitnehme, ist das Gefühl, oder die Frage danach, was ein Junge fühlt, dessen Leben durch Ereignisse belastet wird, an denen er keine Schuld trägt. Ereignisse, die durch die Entscheidungen und Handlungen bzw. Nichthandlungen produziert werden von Personen, die nicht nur erwachsen, sondern verantwortlich sind (und in diesem Sinne nach meiner Wertung versagt haben).

    Der Ex-Ehefrau ist der Ausbruch aus der heilen Welt nicht gut bekommen. Das – und insofern ist das vermutlich unzulässig – ist jedenfalls mein instinktives Erstgefühl. Sie will die Freiheit, bekommt und genießt sie. Bekommt ein weiteres Baby. Aber bei Lichte betrachtet gerät sie an einen Dreckskerl, der „stoned“ ist, als die Schwester des kleinen Kerlchens stirbt, der sie sitzen lässt, als das Bay kommt, der an der Beerdigung nicht teilnimmt.

    Dem Ex-Ehemann ist die Trennung gut bekommen. Im Ergebnis; anfangs ist er am Boden zerstört, aber dann hört er auf zu weinen, denn er muss wieder zur Arbeit. Er trifft die Liebe seines Lebens (beide kümmern sich auch um den Jungen) und ohne die außerordentliche Bewegung in seinem Leben wäre es dazu nicht gekommen.

    Darf man bzgl. Ehemann und Ehefrau von poetischer Gerechtigkeit sprechen? Oder ist das bei einem Munro-Text völlig verfehlt, selbst wenn das hier vordergründig tatsächlich so passen würde oder gar gemeint wäre?

    Die Geschichte hat mich auch an den Rand einer fast philosophischen Frage geführt: Opfere ich mich, wenn ich einen Menschen retten kann, auch wenn es mich das Leben kostet? Opfere ich mich, wenn ich ein Kind retten kann, auch wenn es mich das Leben kostet? Opfere ich mich, wenn ich M E I N Kind retten kann, auch wenn es mich das Leben kostet?

    In dieser Geschichte wird der Junge zu dem Liebhaber der Mutter ins Verhältnis gesetzt, schon dadurch, dass beide sich am Ende noch einmal wieder treffen, als der Junge schon erwachsen ist. Der Liebhaber spricht den Jungen von aller Schuld frei. Sich selber allerdings auch. Was aber auch bei diesem Gespräch offen bleibet ist, was hat denn eigentlich die Mutter getan, als das Unglück passierte?

    Wohlmöglich ist diese Erinnerungslücke des Jungen Wunde.

    Wie fanden Sie das denn, liebe Melusine?
    Beste Grüße
    NO
    (Anmerkungen zu: „Gravel“ aus: „Dear Life“, Alice Munro)


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    1. "Gravel" ist eine Geschichte, die mich nach dem ersten Lesen besonders lange verstört und beschäftigt hat.
      Das heißt mit anderen Worten: Ich halte es für eine großartige Erzählung. Denn eben diese Erfahrung einer Verstörung, einer Verschiebung, einer inneren Bewegung erhoffe ich mir, wenn ich lese.

      Ich habe zu "Gravel" keine Interpretation, nur ein paar Eindrücke:
      Für mich war lange unklar, welches Geschlecht der Ich-Erzähler hat. Das ist die Teddybären-Tapete und die "Partnerin", aber beides sind keine zwingenden Indizien, nur nahe liegende.
      Erfreut hat mich, dass für einmal die psychoanalytische Deutung (durch die Therapeutin) nicht als Aufdeckung der "Wahrheit" anerkannt wurde. (Ich stehe der Psychoanalyse oder zumindest einem Teil ihrer therapeutischen Praxis sehr skeptisch gegenüber, vor allem dem Aspekt, alle Beziehungen in Familien auf sexuelle Vorstellungen zurückzuführen).
      Wiederum erfahre ich die "Lücke" (Sie nennen es "Wunde") des Ich-Erzählers auch als positiv: Dass nicht "alles" geklärt werden kann oder vielmehr keine Erklärung des traumatischen Ereignisses als gültig anerkannt wird, ermöglicht das Weiterleben. Die Überlebenden hüten sich vor Schuldzuweisungen. Neil ist ein Hallodri, die Mutter hat vielleicht verantwortungslos gehandelt, der Vater hat in einer bestimmten Phase kein Interesse an den Kindern gezeigt. Das alles ist wahr. Aber die Kausalkette wird nicht geschlossen: Deshalb ist es so gekommen, wie es gekommen ist. Ich empfinde es als einen Lernprozess (ein "Mini"-Entwicklungsroman?), den der Ich-Erzähler durchläuft: nicht mehr nach "Schuldigen" zu suchen, auch nicht mit Blick auf sich selbst.
      Und deshalb steht am Ende die Frage nach der Schwester? "Waiting for her to explain to me, waiting for the splash." Sie ist es, die das Unerwartete getan und die Katastrophe ausgelöst hat. Und sie wird niemals zurückkommen, um sich zu erklären. Damit müssen die anderen leben, gefangen in diesem Moment für immer - und doch: Weiterlebend, weil sie sich nicht gegenseitig die Schuld geben.
      Auch das halte ich für typisch "Alice Munro": die doppelte Zeit - der vergangene Moment, der immer gegenwärtig ist, und gleichzeitig das Abschließen mit der Vergangenheit, sie gleichsam "wegpacken", um weiterleben zu können.

      (Ja, - und wenn es so wäre, dann wäre das natürlich auch ein Verhalten, ein Verfahren, dass sich einer Psychoanalyse und deren Rekonstruktion der Vergangenheit verweigert.)

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    2. Ich hatte es als Jungenperspektive empfunden. Zufällig las ich dann in amerikanischen Blogbeiträgen ständig von der kleinen S c h w e s t e r. Männlich, westlich, weiß? Bei Überprüfung bin genau auf die beiden von Ihnen, liebe Melusine, genannten Belege gestoßen, die ein männliches Geschlecht nahe legen. Belege, keine Beweise. Man kann es auch anders sehen. Diese Ambiguität, diese Verunsicherung der Leser ist wohl gewollt. Die Identifizierung der Lesenden, ob Mann, ob Frau, mit dem Erzähler fällt dann leichter. Denn so eine unaufgeklärte Wunde, eine diffuse Schuld hat wohlmöglich jeder.

      In „Gravel“ steckt „grave“. Das habe ich nicht selbst entdeckt, halte es aber für sehr zutreffend, denn Mrs. Munro hätte schreiben können: „Gravel Pit“. Bereits der Titel impliziert also, dass es zumindest einer der Figuren an den Kragen gehen wird.

      Die Kiesgrube wiederum sieht eher aus wie eine Baugrube für ein Fundament. Etwas, was man braucht für sein Haus, welches viele von den Protagonisten wohl nicht fertig bekommen haben. Ein Aufbruch, der Bau eines neuen Haus, ein „fresh start“ führt in dieser Geschichte nicht immer und nicht zwingend zum Ziel. Sehr oft bleibt der Neuanfang auch stecken, alle Energie, alle Abenteuerlust, alle Rebellion umsonst, aller Tatendrang, alle Veränderung vergebens..

      Die Mutter und Liebhaber Neal, das mag man zugestehen, wollen vielleicht nicht die Sicherheit. Geordnete, solide Verhältnisse ist nicht, was sie suchen. So ist die Frau trotz allem vielleicht doch besser aufgehoben jetzt. Und Neal sowieso.

      Welche Funktion hat der Wolf? Auch eine Todesmetapher? Oder steht er für das Böse (was aber in der Geschichte sonst keine Anbindung hätte)? Oder symbolisiert das Tier Wildheit, Freiheit, Ungezähmtheit, Un-Sicherheit?

      Beste Grüße
      NO

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    3. Gravel, grave...die Assoziation ist da, zweifellos. Allerdings sind meine Kenntnisse des kanadischen Englisch nicht gut genug, um andere, mögliche unterschwellige Anklägen "mitzuhören". An diesem Titel allein lässt sich zeigen, wie schwierig "Übersetzen" ist und warum ich so häufig englischsprachige Texte lese: Weil es die einzigen nicht-deutschen sind, die ich im Original lesen kann. Und ich misstraue Übersetzungen, auch Synchronisierungen.

      Gar nichts schreiben Sie zu meinem "Rant" gegen die Psychoanalyse?! Aus meiner Sicht haben Munros Erzählungen sehr häufig mit einer Opposition gegen ein - in den 70er Jahren "populär" (und popularisiert) gewordenes - Konzept von Person/Subjekt zu tun, in dem das "Ich" als (zwangsläufige) Folge aus der Vergangenheit konstruiert wird. Dagegen setzt sie nicht die Freiheit des Willens, sondern die Kontingenz, den Zufall, die Gleichzeitigkeit. Es geschieht nie, das, was die Figuren erwarten und sie handeln auch selbst häufig nicht so, wie sie es von sich erwarten.

      Von daher verstehe ich auch den "Wolf" (der womöglich gar keiner war) nicht als Metapher f ü r etwas (oder gar als Symbol), das zu deuten wäre (geradezu wie eine Traum-Erzählung bei Freud, wenn man so will), sondern als ein erzählerisches Element, das die Möglichkeit eröffnet, die Positionen der Figuren zueinander darzustellen (ähnlich wie das raw meat in "Amundsen"). Ihr Verhalten und ihr Verhältnisse zu der Möglichkeit des "Wolfes" trennt die Mutter und Neal, lange bevor es zur Trennung kommt. Die Mutter und das Kind (ob Junge oder Mädchen), Neal, die Schwester, der Vater. Drei sind abwesend, als der Wolf erscheint. Die Mutter reagiert mit Angst, aber sie hütet sich, es dem Kind direkt zu zeigen, hinterher fordert sie aber von Neal "Männlichkeit". Neal hat eben diese nicht zu bieten; er verachtet sie sogar. Den Wolf, als Herausforderung, der sich zu stellen wäre, gibt es für ihn einfach nicht. Auch der Vater war offenbar kein Mann, der "mit dem Wolf kämpft". Er entzieht sich, wenn es drauf ankommt. Auch den Hund Blitze - und vielleicht war der Wolf ein Hund? - hat er wohl nicht zu Caro gebracht. Sie agiert vieles über den Hund, über Blitzee aus, scheint es. Als der "Wolf" auftaucht, ist Blitzee plötzlich weg. Die Schwester - eine Phantastin. Schade, dass sie den Wolf nicht gesehen hat, oder? Hätte sie da schon versucht ihn zu retten? Wäre sie dann vielleicht am Leben?
      Ich sehe den Wolf nicht als Metapher, sondern als Verbindung zum Hund - und als eines jener Elemente, die die Erzählung strukturieren, d.h. anzeigen, was die Figuren verbindet und was sie - tragisch? - trennt.

      Ihre Formulierung "die Frau trotz allem vielleicht doch besser aufgehoben" finde ich geradezu beunruhigend ;-). Aber vielleicht ist das eine unbewusste "Übersetzung" von "better off" - und in dieser englischsprachigen Version, finde ich, gilt es für alle Beteiligten, außer für Caro - und im Grunde ist das von Anfang an so. Sie kann nicht mit der neuen Situation umgehen. Und die Erwachsenen sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um es zu bemerken oder ihr zu helfen.

      Herzliche Grüße

      M.

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  4. “A woman’s most important job is making a haven for her man.”

    “Devotion to anything, if you were a female, could make you ridiculous.”

    Ich bin sicher, liebe Melusine, das waren befeuernde Sätze für Sie!?

    Für mich nicht. Mir war die Story gar zu unwahrscheinlich. Es ist grotesk, wie in dem Haushalt alles nach der Pfeife des Patriarchen tanzt. Das ist nicht nur uralt und heut` nicht mehr existent, sondern völlig abwegig. Wenig lohnenswert, darum eine Geschichte zu bauen. Irrelevant. Oder?

    Beste Grüße
    NO
    (Anmerkungen zu „Haven“ aus: „Dear Life“, Alic Munro).

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    1. Lieber NO,

      freut mich, dass wir die "Reihe" fortsetzen.

      Nein, diese Sätze wirken auf mich nicht befeuernd (ich denke, Sie nehmen an, dass sie Wut auslösen, was aber nicht der Fall ist - vielleicht sind manche Vorstellungen, die die Medien von Feministinnen vermitteln gar zu homogen und stereotyp.).

      Nochmals, nein! Ich finde die geschilderte Situation und das in den Sätzen zum Ausdruck gebrachte Frauenbild keineswegs unwahrscheinlich. Solche Sätze, wie die obigen, habe ich beinahe wortgleich in der Broschüre gelesen, die meine Mutter aus der Bräuteschule mitbrachte, die sie Anfang der 60er Jahre in München besuchte. Ich muss also nicht mal die Fantasie benutzen, um mir ein solches Frauen(selbst)bild zu imaginieren. Im Übrigen auch deswegen nicht, weil ich zwar niemals Perry Rhodan, wie so viele kleine Jungs gelesen habe, aber genügend Groschenheftchen bei meiner Oma.

      Das Interessante an dieser Geschichte ist nicht (eben gerade nicht!) eine implizite Kritik an diesen (patriarchalischen) Verhältnissen, sondern wie und warum das Mädchen in Zweifel gerät, ob die Strukturen und Beziehungen im Haus von Tante und Onkel nicht doch dem liberaleren Elternhaus vorzuziehen seien. Erscheint Ihnen noch unwahrscheinlicher? Meine Mutter schwärmt bis heute von den Wochen in München, in denen sie auf die Rolle als ergebene und perfekte Hausfrau vorbereitet wurde. Sie gehören in ihrer Erinnerung zu den schönsten ihres Lebens. Meine Großmutter väterlicherseits (sicher ein ganz anderer Typ als die Hausfrau in Munros Erzählung) hat sich meinem Großvater immer vollständig untergeordnet. Ich habe sie als den Menschen in meiner Kindheit in Erinnerung, der am meisten Zufriedenheit ausstrahlte und mir das größte Gefühl von Luxus vermitteln konnte.
      In verfremdeter Form (also keineswegs eins zu eins autobiographisch) habe ich über sie einmal geschrieben:
      Namenlos (1987)

      Belanglos? Für mich nicht. Weder inhaltlich noch formal. Ich halte auch dies für eine gut gebaute Erzählung. Mich interessiert, was erzählt wird und wie. Dass es Sie nicht interessiert, hat aber sicher nichts damit zu tun, dass Sie ein Mann sind. So wenig, wie mein vollständiges Desinteresse an z.B. "Homo Faber", obgleich der sicher auch ganz gut geschrieben ist (dessen Figuren mir völlig konstruiert und unwahrscheinlich erscheinen), damit, dass ich eine Frau bin (Virignia Woolf wäre anderer Meinung
      Belauschen einer Männer-Orgie, sicher, aber hierzulande hält, wer intellektuell auf sich hält, an der Geschlechtsneutralität seiner Urteile fest). :-).Ein bisschen Ironie muss sein!

      Aber ernsthaft: Ich finde "Haven" schwächer als beispielsweise "Amundsen", aber immer noch wesentlich besser, als alles was Martin Walser je geschrieben hat.

      Was mich interessiert an "Haven":
      - wie mindesten vier verschiedene Perspektiven auf den Mann, Onkel, Arzt, Bruder eröffnet werden, ohne dass die Erzählperspektive geändert wird
      - die Differenz zwischen: "das Paar" und die beiden einzelnen Personen (Onkel + Tante)
      - die Rolle der Musik und in diesem Zusammenhang die religiöse bzw. metaphysische Dimension ("Haven")
      - die Entwicklung der "Ich"-Erzählerin und damit insgesamt die Erzählperspektive und - haltung, deren "Einsatz" ich sehr "eigenartig" (also: spannend und gelungen) finde (bezogen auf die Verteilung von inneren Monologen, beschreibenden Anteilen,Dialogen und dem Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit)

      Ich bin auch schon sehr gespannt darauf, wie Sie die autobiographische Erzählung am Ende des Bandes "Dear Life" gelesen haben. Aber das erst zum Schluss...

      Viele Grüße
      M.

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    2. Hier noch nachgereicht: Der Link zu der fiktiven, aber autobiografisch grundierten Geschichte "Namenlos. 1987":
      Namenlos

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    3. Liebe Melusine,

      das sind nicht uninteressante Überlegungen, aber für jemanden, der diese Sozialisierung, die Sie da beschreiben, nicht erlebt hat, der nicht erlebt hat, dass andere, gar nahe Verwandte, diese erlebt haben und begeistert (oder erschüttert) davon erzählen, für solch` einen jemanden muss sich die Geschichte auch so tragen; und das tut sie meines Erachtens nicht. Die Geschichte ist konstruiert, ja, arg konstruiert.

      Denken Sie nur an die Umgestaltung der Begräbnisfeier am Ende, wo der Mann wegen der vielen Leute im Kirchenschiff in der fremden Bankreihe quasi eingeschlossen wird und nicht zur Bankreihe seiner Frau zurück kann. Eine Coda am Ende, die mir keinen Sinn macht. Ein stiller Triumph seiner Frau? Den sehe ich nicht.

      Als Erzählerin das dort im Haushalt abgegebene Mädchen einzuführen, damit durch einen Zeugen beglaubigt werden kann, was sich dort abspielt, halte ich für misslungen, weil nur ein Trick. Eine beinahe unverschämte Unwahrscheinlichkeit.

      In der Tat wird mir die Sache noch unwahrscheinlicher, als das Mädchen sich die Frage stellt, ob das hier im Onkel-Haushalt besser abläuft als zu Hause. Unverkennbar eine Art turning point in der Erzählung. Aber nachvollziehbar? Verständlich? Nein! Sollte man tatsächlich jemals auf eine solche Beziehungskonstellation treffen heute noch, würde man der (und damit sowohl Onkel als auch Tante einzeln und persönlich) mit derselben Verständnislosigkeit, derselben Ablehnung begegnen, wie in der Geschichte die Schwester von Onkel und die Schwester von Tante ihren jeweiligen Geschwistern.

      Die glücklichste Zeit des Lebens? Das hört sich so an, wie die Alten, die von der alten DDR schwärmen, wo es noch warm und sicher war, weil man ohne Verantwortung sich um nichts kümmern musste: Mollige Abhängigkeit statt kühler Selbstbestimmung – statt Freiheit.

      Selbstverständlich ist das keine geschlechterspezifische Kritik. Dass die Geschichte besser wäre als Walser, ist kein Kompliment und kein Argument, weil belanglos ist, was Walser schreibt (obwohl ich vielleicht noch irgendwann einmal das Fliehende Pferd ausprobiere – weil die Verfilmung mit Tukur so gut war, beziehungswiese er).

      Spannend fand ich Ihren Ansatz bei der Entwicklung der Erzählstruktur:

      „die Verteilung von inneren Monologen, beschreibenden Anteilen, Dialogen und dem Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit“

      Wie ist die Proportionalität? Was schließen Sie daraus? Was gibt Ihnen das?

      Beste Grüße
      NO

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    4. Lieber NO,
      offenbar sind Sie darauf fixiert, die Ehe von Onkel und Tante als ein überkommenes Modell (das Sie ärgert) wahrzunehmen. Dabei wird am Anfang der Geschichte deutlich, dass diese Ehe nicht dem entspricht, was zu jener Zeit als "normal" gilt. Die Ehe von Onkel und Tante ist eine sexuell offenbar sehr erfüllende (auch dieser Vergleich zur ehe der eigenen Eltern wird von der Ich-Erzählerin angestellt). Können Sie nicht einmal versuchen, das Leben der Tante nicht als ein unterdrücktes zu wahrzunehmen, sondern als ein frei gewähltes? Die Tante widmet ihr Leben der Existenz als "glückliches Paar" (Haven), einem Leben, in dem ihre Tätigkeiten Bedeutung und Sinn haben. Das ist mehr, als die meisten Clerks in ihren Büros (freie Menschen?) vorzuweisen haben. Natürlich zahlt sie einen Preis: die Musik, die sie nur heimlich hören kann. Der Onkel - ein Mann, der viele Facetten hat: eine im Haus, eine in der Praxis, eine als Bruder. Er ist ein guter Arzt, von der ganzen Gemeinde geschätzt. Das Mädchen staunt, als sie diese Facette kennenlernt und sie staunt noch mehr, als ihr bewusst wird, dass dieser in sich ruhende Mann eine Schwachstelle hat: seine Schwester, deren Talent (und damit gar deren Existenz) er verleugnet. Die Figur der Ich-Erzählerin erscheint mir gelungen, weil sie als Jugendliche alle diese Entdeckungen nicht kommentiert und nicht darüber spekuliert, was die Erwachsenen "psychologisch" antreibt, sondern es einfach mit Staunen beschreibt. Ihr Gefühl, abgestellt, zurückgelassen worden zu sein, ändert sich im Lauf der Erzählung. Sie begreift, dass sie auch von dort, von der Provinz aus, die Chance hat einiges zu erzählen (und also: sich zu entwickeln). Die Szene in der Kirche finde ich sehr überzeugend. Sie zeigt geradezu tragik-komisch, wie tief bei diesem Mann die Verletzung durch die Bevorzugung der Schwester, die Anerkennung eines Talentes und Zugangs zur Welt, den er nicht versteht, sitzt: das Symbol dafür ist die Musik. Musik - erhebt über den Alltag, stiftet den Sinn, der ü b e r allem liegt. Er will das nicht. Die weißen Laken sind (ihm?) genug Himmel. Oder fehlt ihm doch etwas? Reicht ihr das auch? Sie sind ein glückliches Paar, die Tante und der Onkel. Aber kein glücklicher Mann und keine glückliche Frau. So was gibt es. Ich finde es beeindruckend, wie es Alice Munro gelingt, diese beiden auf so wenigen Seiten als vielschichtige Menschen zu entwickeln, die nicht beurteilt werden. Auch die Art, wie sie als Paar zusammenleben, wird hier nicht verurteilt und an irgendeinem Modell gemessen. (Denken Sie daran, wie viele "moderner" lebende Paar in Alice Munros Erzählwelten scheitern.) Die Menschen in Alice Munros Erzählungen sind klar verortet in Ontario und in einer bestimmten Zeit. Sie sind so schlicht, belanglos, wenn Sie wollen, wie jedermanns oder jederfraus Nachbarn. Es zeigt sich aber: Sie sind so eigenwillig und ver-rückt wie die Nachbarn, wenn man einmal genau hinschaute. Was ist Freiheit?: Sich dem Klischeebild eines irgendwie "emanzipierten" Lebens (Erwerbsarbeit???) anzugleichen? Darum geht es für mich in dieser Geschichte: um Freiheit. Das ist, was auch die Ich-Erzählerin lernt: Statt auf diese Provinz und diese Menschen weiter herabzuschauen lernt sie genau zu beobachten und deren Vielfalt wahrzunehmen. Freiheit bedeutet nicht, sich "unabhängig zu machen" (das ist nur eine häufig geradezu peinlich lächerliche Illusion), sondern Beziehungen zu gestalten. Manche scheitern, manche gelingen. Bei Munro ist die Wahrscheinlichkeit, dass Beziehungen gelingen, die "modern" sind, nicht höher als die solcher, die traditionelleren Mustern folgen. Das gibt mir "etwas", in der Tat!
      Aber wir müssen uns nicht einigen, gell? Diese Geschichte bringt Ihnen einfach nichts. Ulkigerweise sind Sie, der Mann es, den die Hausfrauenehe viel mehr stört und dem sie so unwahrscheinlich scheint, nicht ich, die Frau.

      Herzliche Grüße

      M.

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    5. Liebe Melusine,

      Sie haben völlig recht, es macht mich nervös und ich fange an, Nägel zu kauen, wenn ich solcher Unterwerfung begegne. Frei gewählt? Das mag sein, aber es ist selbstverschuldete Unmündigkeit, über die wir hier reden. Ein aus meiner Sicht verfehlter Lebensentwurf, geprägt von Charakter-, jedenfalls aber Persönlichkeitsschwäche.

      Wir sind uns einig darüber, dass jeder in einer funktionierenden Partnerschaft auch dienende Funktionen übernimmt. Gerne und selbstgewählt. Auf Augenhöhe. Auch, dass es diplomatischen Geschicks bedarf, von beiden Seiten, eine Beziehung auf Dauer zu gestalten, so dass selbstverständlich Elemente des Nachgebens und der Unterordnung auf der einen oder anderen Ebene zu beobachten sind. Aber Bedeutung und Sinn eines Lebens in der Unterordnung zu finden, nein, das ist etwas anderes, das ist Flucht.

      Aber Sie zwingen mich zum Nachdenken, in dessen Folge ich einräume, dass meine Haltung vermutlich das Ergebnis einer gewissen Prägung ist. Es mag außerdem tatsächlich Beziehungen geben, in den nicht auf Augenhöhe gedient wird. Vielleicht in dem alten Dorf, in dem ich gerade bin, zumindest bei denen, die heute alt sind, mag es so gewesen sein. Ich räume auch ein, dass man in Beziehungen bei Anderen Elemente bobachten kann, die einem selbst als völlig abwegig, grotesk, falsch, blödsinnig erscheinen. Und entsprechend verständnislos bin ich – zusammen mit der Schwester der Tante Dawn - dann auch:

      „Such as would have made my mother puke.”

      Mein Punkt ist hier und insoweit nicht die Hausfrauenehe, sondern die fehlende Augenhöhe. Das ist nicht dasselbe. Darüber kann man nicht in Zweifel geraten, wenn man etwas auf sich hält. Deswegen missfällt mir eine Geschichte, in der ein 13-jähriges Mädchen das tut.

      Was mich an dieser Stelle übrigens brennend interessieren würde:

      Sind aus Ihrer Sicht die Märchenprinzenträume, die wir bei der ersten Geschichte diskutierten, etwas anderes, als die dienende Funktion der Ehefrau in dieser Geschichte?

      Idiotische Frauenrolle oder nicht, egal, die Literatur stellt das hier so dar – und unverkennbar als ein ausgedientes Model. Auch insoweit haben Sie recht. Der Clou der Geschichte muss also anderswo liegen. Und das ist natürlich die Einstellung des (modernen) Mädchens zu diesen Dingen und ihre Entwicklung (ihre Reibung daran). Aber aus das reißt mich nicht vom Hocker. Die ganze Geschichte begeistert mich einfach nicht, das ist mein Hauptproblem.

      Ich sehe eine entsprechende Akzentuierung auch nicht in dem Verhältnis der Personen zueinander. Deswegen interessiert mich an dieser Stelle Ihre Bemerkungen zu den Proportionen, die Sie jetzt hier nicht weiter ausgeführt hatten:

      Erzählperspektive und - haltung, deren "Einsatz" ich sehr "eigenartig" (also: spannend und gelungen) finde (bezogen auf die Verteilung von inneren Monologen, beschreibenden Anteilen, Dialogen und dem Verhältnis von Erzählzeit zu erzählter Zeit).

      Sie würden das nicht eventuell vertiefen wollen?

      Aber es dürfte gute Literatur auszeichnen, dass man sich inhaltlich an ihr ärgert, dass sie irritiert und verblüfft. Leider langweilt mich dennoch manches hier. Aber da ist die Sprache, immer wieder, und die ist letztlich der Lackmustest:

      „Creeping past my aunt and uncle’s closed bed room door early on a Sunday morning, on my way to help myself to one of the cinnamon scones Aunt Dawn made very Saturday night, I heard sounds such as I had never heard from my parents or from anyone else – a sort of pleasurable growling and squealing in which there was a complicity and a abandonment that disturbed and darkly undermined me.”

      Beste Grüße
      NO

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    6. Zu Ihrer Frage zum Aufbau der Geschichte: Ich bin nicht ausführlich darauf eingegangen, weil Blogger so lange Kommentare nicht akzeptiert. Auch diesmal fürchte ich, das nicht in einen Kommentar packen zu können. Ich muss diesen also spalten.

      Aus meiner Sicht besteht die Geschichte aus 4 Teilen, die jeweils eine ganz unterschiedliche Perspektive auf die Figuren und ihre Handlungsmöglichkeiten entwickeln und mit einem ´turn´ enden.



      Wie beginnt die Erzählung?: "All this happened in the seventies though in that town and other small town like it, the seventies were not as we picture them now, or as I had known them even in Vancouver." Die Siebziger - das weckt eine Menge von Assoziation, die sogleich "enttäuscht" werden. Denn diese Klischees werden nicht eingelöst werden. "My uncle starte offf by teasing me about grace." So wird die Figur des Onkels eingeführt. Ein frommer Mann? Wir werden noch sehen, was für eine Art von Frömmigkeit das ist. Am Ende, nicht wahr? "I was thirteen years old , living with him and my aunt for the year that my parents were in Africa." Nun wissen wir, wer erzählt. Eine ungewöhnliche Situation. Eine Dreizehnjährige bei frommen Angehörigen in der Provinz, zurückgelassen von Eltern, die nach Afrika gegangen sind. Der Onkel examiniert sie beim Mittagstisch. über Religion. Darum scheint es zu gehen, zunächst: Wie ein junges Mädchen sich in diese bigotten Verhältnisse einfindet bzw. aus ihnen befreit. Erst hernach wird die Tante und ihre Unterwürfigkeit eingeführt. "She was used to holding back until she was sure that my uncle had said all that he meant to say." Die Ich-Erzählerin zeigt sich über die ehelichen Verhältnisse erstaunt und vergleicht sie mit ihrem Elternhaus und mit der Haltung ihrer Mutter, die die Schwester kritisiert und verachtet. Die Leserinnen sind - nehme ich an -, wie Sie, ganz einig mit der Mutter. 

Und dann kommt der Hammer: "The slow realization that came to me was that such a regime would be quite agreeable." Turning point. Die Tante wirkt jetzt weniger lächerlich. Sonderbarer. Haven. Die Tante wirkt zufrieden in ihrem kleinen Reich, mit ihren klaren Aufgaben. (Sie nennen das "unmündig". Ich kann in der Lebensform eines durchschnittlichen Büroangestellten leider nicht mehr "Mündigkeit" entdecken, sorry.)

Das ist der erste Teil der Geschichte. Eine Lebensform, die (Ihnen unglaublich) antiquiert und auch ärgerlich erscheint. Und eine erstaunliche Wendung in der Bewertung durch die 13jährige Ich-Erzählerin. Eine (ärgerliche) Irritation für die Leserin und den Leser.
      ---

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    7. Ich sitze hier bei Rotwein und Zigarre und unterhalte mich am intensivsten über die Munro-Geschichte, die ich bisher am wenigsten mochte! Das gibt’s doch gar nicht!!

      Der interessante Aufbau und der turning point – völlig einverstanden. Deswegen ist das gute Literatur hier. Irritation.

      Ääähh, ich sehe gerade, wo ist denn Ihr Augenhöhe-Kommentar hin?

      Egal. Sensationell übrigens auch, dass sie im Verhältnis zur Schwester eine Verletzung bei Jasper Cassel sehen. Auf immer gekränkt, w e i l die Dame, die Geigenspielerinn, Zugang zu und Erfolg in einer Welt hat, die er nicht verstehet, oder nicht verstehen kann, oder nicht verstehen will. Wie kommen Sie denn bloß darauf? Er wettert doch gegen das Konzertpublikum als ein solches, welches nichts versteht und nur im Saal rumsitzt, um gesellschaftliche Klasse vorzutäuschen, er wettert doch nicht gegen die Musiker. Für mich war das Nichtverhältnis zur Schwester ein unerklärtes, unlogisches, was mich geärgert hat an der Geschichte.

      Herzliche Grüße erst einmal – in Erwartung von mehr
      Ihr
      NO

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    8. Ff. Zweiter Teil: Ein neuer Blick auf Onkel Jasper und Tante Dawn
      Außerhalb des Hauses lernt die 13jähriger einen ganz anderen Mann kennen. Sie erfährt, welche Bedeutung er und seine Arbeit in der Gemeinde haben: "He was not just a doctor, he was the doctor." Sie erlebt am eigenen Leib, dass er ein guter Arzt ist und sie stellt fest, dass er in seiner Praxis von seiner Mitarbeiterin keine Unterwerfung verlangt. Diese Erfahrung lässt sie mit einer neuen Neugier auf die Tante schauen und Gespräche mit dieser suchen. Sie erkennt, wie isoliert die Tante ist, wie sehr sie sich von allem zurückgezogen und sich einen eigenen Geschmack abgewöhnt hat: "She was all contrition." Diese Haltung der Tante erscheint nun nicht mehr als bloßer Effekt der Tyrannei des Onkels, sondern als Teil ihrer Persönlichkeit (Sie nennen das selbstverschuldete Unmündigkeit. Ein Begriff, den ich völlig unangemessen finde. Fast alle Menschen sind auf die eine oder andere Weise gehemmt. Diese ist es in besonderer Weise.) Für diese Frau stellt die Gegeneinladung von neuen Nachbarn ein schweres Problem dar: "a quandary".

      Dritter Teil Der Musikabend "But Mona Cassel was shining like the moon." Die Schwester des Onkels, die Musikerin, die er verleugnet. Sie steht für alles, was er verabscheut. Die Tante hat sie eingeladen. Ein Aufstand? Sie ist erregt: "Perhaps just about being personally responsible for these moments, this spread of delight?" Der Onkel verabscheut alles, was er nicht braucht, was unnütz ist. Musik, Feiern um des Feiern willen, Kunst, Transzendenz, Religion die mehr ist als Ritual. Die 13jährige bringt seiner Abneigung gegen das Nutzlose Verständnis entgegen (Das erscheint mir gar nicht ungewöhnlich. Die Frage: Wozu soll das gut sein?, liegt vielen Jugendlichen auf der Zunge.) Aber sie erkennt auch, wie tief sein Hass geht. Er will, was er Nutzlos findet, "wipe off the face of the earth".

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    9. Das ist deutlich mehr, als ein "Haustyrann". Ein Mann, dem das Nutzlose ein Dorn im Auge ist, etwas, dass ihn herausfordert, geradezu - in der Gestalt seiner Schwester - so in Frage stellt, dass er es vernichten muss. Erscheint Ihnen unglaubwürdig? Mir nicht. Und auch nicht antiquiert: Der Hass auf alles, was nicht wirtschaftlich "darstellbar" ist. Also: "Verzichtbar."

      Vierter Teil Die Trauerfeier. Er hat Glück: Die Schwester stirbt. Aber noch ihre Totenfeier muss er von jenem Unnützen, der Musik, die nur schön ist, "befreien". Es kommt zu einem grotesken Auftritt. Und indem er sich so lächerlich macht, ist er der Tante zum ersten mal egal. "She didn´t care,"

      Die Proportionen: Vier Zimmer in einem Haus. Zwei kleinere (1 und 4) und zwei größere (2 und 3). Zwei längere Phase (1 + 2) und zwei "Ereignisse" (3 + 4). Das Paar. Die Geschwister. Im Zentrum steht nicht die Unmündigkeit der Tante in ihrer Beziehung, sondern die Gefangenschaft eines Mannes in seinem Hass gegenüber dem, was er nicht versteht und dass er auf diffuse Weise als Angriff auf sein Leben betrachtet. Die Tante hat im zweiten Teil "ihr Leben" riskiert und dadurch (innere) Bewegung für sich erzeugt. Er, der so viel aktivere, kann sich nicht rühren. Und macht sich lächerlich.

      Mündigkeit? Ich finde ohnehin, dass das kein besonders überzeugendes Konzept ist. Dahinter steckt die Idee der Autonomie, die ich so grotesk finde, wie den Mann in der Kirche. Und davon erzählt diese Geschichte auch. Was sie mir so wertvoll macht.

      HAVEN? - Man zahlt für jede Sicherheit einen hohen Preis. Und für jede Freiheit auch. Binsenweisheiten. An Alice Munros Geschichten gefällt mir, dass sie weniger eine "messages" vermitteln wollen, als "gewöhnliche" Menschen darzustellen, die hinter ihren Fassaden komplexer sind, als man glaubt

      Im "Gespräch" mit Ihnen sind mir im Übrigen viele "thematische" Parallelen dieser Geschichte zu Frischs "Homo Faber" eingefallen, nur dass mir eben dieser Roman überkonstruiert und die Figuren (weiblich wie männlich) unrealistisch und langweilig erscheinen. Das ländliche Ontario kann ich mir wesentlich müheloser vorstellen.

      Herzliche Grüße

      M.

      PS. Was ich nicht einordnen kann, sind die unterschiedlichen protestantischen Kirchen, die erwähnt werden. Da kenne ich mich einfach nicht aus.

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    10. Sorry, Ihren Kommentar dazwischen hatte ich nicht gesehen. Das ist kompliziert hier, weil Blogger so lange Kommentare hasst (ha, Personalisierung, hasse ich eigentlich!).

      So komme ich drauf (auf die Wut des Onkels auf alles, wofür seine Schwester steht): "..and that something had happened, when they were young. Some relatives had thought this girl should be taken away and given better chance, because she was so musical. So she was brought up in a different way and the brother and sister hand nothing in common and that was really that..."

      Better chance, different way... Differenz und eine Chance auf "Überschreitung", das kann er nicht leiden. Das hat ihn verletzt. Die Auszeichnung der Schwester. Ja, er hasst das Publikum der Symphonie-Konzerte. Aber auch die Musik selbst. Die Tante sagt es mehrmals. Er glaubt, dass niemand diese bloß "schöne", nicht in irgendein Ritual eingebundene Musik "versteht". Deshalb kann der einzige Grund sein hinzugehen aus seiner Sicht nur der Distinktionswunsch sein. Aber das erklärt doch seine Wut nicht. Die Wut kommt daher, dass er spürt, dass es etwas Anderes gibt. Seine Schwester, "shining like the moon". Lächerlich. Er muss das lächerlich machen. Ich spüre es richtig!

      HG
      M.

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    11. War Essen gegangen gestern – sorry.

      Alice Munro, liebe Melusine,

      hat auf der Welt sicher keinen einfühlsameren, verständnisvolleren, liebenden, außergewöhnlicheren, feinsinnigeren, guten Interpreten, Erklärer, Werber. Eine große Deutung von Struktur, Proportion und Intention.

      Ich akzeptiere, mit Gewinn.
      Meine Geschichte ist es dennoch nicht, Sie haben unserer beider Nicht-Übereinstimmungen eindrucksvoll herausgearbeitet.
      Wir sind uns einig über die große literarische Qualität, die herausragende Güteklasse der Sprache.

      Was ich der Geschichte ganz besonders abgewinnen kann, übrigens, ist die stilistische Bezugnahme auf Melville (fand ich jedenfalls), denn HIER, wo die absolute Herrschaft des Onkels Cassel über sein castle beschrieben wird:

      “The house was his, the choice of menu his, the radio and television programs his”.

      finde ich zitiert den amerikanischen Beamten, der DORT im „Moby Dick“ dem Waljäger den Walfang nicht lässt, den er im Namen des Hohen Kommissars („The Duke“) beschlagnahmt, weil der Jäger in Hoheitsgewässern fischte - und kein Argument des Fischers macht Eindruck, denn der Fang ist des Herzogs:

      “But the Duke had nothing to do with taking this fish.
      It is his.
      We getting nothing at all for our pains?
      It is his.
      Is the Duke so very poor?
      It is his.
      I thought to relieve my mother by part of my share of this whale.
      It is his.
      Won’t the Duke be content with a half?
      It is his.”

      Unantastbare Autoritäten, hier wie dort. Ein bisschen lächerlich beide.

      Das und so muss man erst einmal schreiben können.

      Beste Grüße
      NO

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    12. Lieber NO,

      essen muss sein! (Gelegentlich ist es dem Lesen und über Literatur schreiben vorzuziehen, unbedingt. Weil ich immer noch kränkele, bekomme ich heute Abend mein Lieblingsessen. Was freue ich mich schon drauf: Tafelspitz, böhmische Knödeln, leider diesmal keine Meerrettich-Sauce, sondern Dill-Sauce. Mag ich aber auch.)

      Es freut mich, dass wir uns über die literarische Qualität von Munro einig sind. Die Differenzen in der Wahrnehmung der einzelnen Geschichten herauszuarbeiten, finde ich dennoch wichtig. Ich glaube ohnehin, dass "Qualität" (so schwierig es im Einzelnen sein mag, sie festzustellen), nie der einzige Maßstab ist, den eine oder einer an Literatur anlegt, auch wenn sie oder er sich das einbilden mag. Manche große Literatur hat lange gebraucht "entdeckt" zu werden, weil diejenigen, die für uns vor- aussuchen, was entdeckenswert ist, bestimmte Vorlieben haben, Kriterien anlegen, die aus ihren eigenen Prägungen stammen (und das dann - wenn es Männer sind ;-) - auch noch ausschweifend rationalisieren). Weil die Literatur- und Kunstgeschichtsschreibung beginnt, als das bürgerliche Patriarchat sich festigt (im 19. Jahrhundert) ist auch die "Wissenschaft", die daraus entstanden ist, bis heute so stark durch eine männliche Sicht geprägt und viele Autorinnen und Künstlerinnen wurden vergessen. Das schmerzt. Mich. Und umgekehrt: Privilegiert worden ist eine Literatur, in der Männer s i c h über Frauen schreiben: Arbeit und Perversion: Wie aus dem epischen Helden die Romanheldin wurde

      Aber - dies führt uns fort von Alice Munro. Die nächste Geschichte ist eine, die ich nicht so arg mag, aber dennoch gut geschrieben finde. PRIDE. Ich glaube, irgendwo gelesen zu haben, dass Alice Munro, gerade auf diese aus dem Band besonders stolz ist :-). Bin gespannt, wie sie auf Sie gewirkt hat.

      Herzliche Grüße

      M.

      PS. Vielen Dank für den Hinweis auf Moby Dick! Ich wäre nicht darauf gekommen, weil ich diesen Roman nicht so präsent habe. Dass ist sicher auch unseren Prägungen geschuldet, welche Romane es dahin schaffen, dass sie uns immer gegenwärtig sind.

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  5. Auch diese Geschichte vom Jungen mit der Hasenscharte wird nicht meine liebste.

    Ein erster Abschnitt berichtet (wohlmöglich ein auktorialer Erzähler) davon, dass bestimmte Menschen ihr Leben besser hinkriegen als andere – endend mit dem Satz:
    „But good use can be made of everything, if you are willing.“

    Ein zweiter Abschnitt berichtet (aus der Perspektive des Jungen, den man zu diesem Zeitpunkt nach gar nicht kennt) von dem Mädchen Oneida – und macht mir Schwierigkeiten, weil ich nicht weiß, wie ich das aussprechen soll: „One“ (also engl. „Eins“) – „Ida“, denn des Mädchens Vater und der Junge kürzen sie IDA ab; oder: O-ne-i-da, denn der Name ist indianisch. Das Mädchen ist attraktiv.

    Der zweite fädelt ein in den dritten Abschnitt, in dem der Vater des Mädchens und seine Bank-Geschichte erzählt wird. Der Vater stirbt, sie ist Waise und hat das Haus.

    Dann geht es zurück zu dem Jungen, seiner Ausbildung und Arbeit. Es ist Krieg. Er muss nicht hin. Man erfährt: Wegen Missbildung. Aber er kommt damit gut zurecht. Wird später Buchhalter und verdient sich seinen Lebensunterhalt. Mutter und Sohn hören immer Radio abends, ein Schiff sinkt, alle ertrinken und der Junge hat vor Augen, wie gleich alle Menschen werden im Angesicht des Todes. Bei dem anschließenden Satz bin ich wachgerüttelt: „Naked healthy buttocks, thin old buttocks, all of them being herded into the gas chambers.“

    Der Junge und Oneida begegnen sich in der Stadt. Er rät, ihr Haus nicht zu verkaufen, sie tut es doch, man weiß nicht warum, und sie zieht in ein Apartmenthaus. Man kommt dazu, sich über Jahre in seinem Haus (die Mutter stirbt zwischendrin, er ist nun auch Waise) zum abendlichen Fernsehen mit Abendbrot zu verabreden. Man wird wohl älter. Dann wird er krank, sie pflegt ihn, will dann bei ihm einziehen, vor Schreck verkauft er sein Haus und zieht auch in die Apartmentanlage. “We were as glad as we could be“.

    Die Story ist zu Ende. Nun ja, gut konstruiert, aber nun ja.

    Dieser unglaublich starke Satz zur Vergasung steht da völlig zusammenhangslos in der Geschichte.

    Der „Good use …if you are willing“-Satz mag auch ein starker, richtiger Satz sein, aber das ist so dick aufgetragen – und letztlich so selbstverständlich -, dass ich mich frage, ob das eine Parodie sein soll, aber das führt mich letztlich auch nicht weiter.

    „Pride“ heißt die Geschichte, und zu stolz ist der Banker-Vater, um sich zu wehren gegen eine Strafversetzung in die Ödnis (trotz fehlender Beweise seiner Schuld). Stolz ist auch der Ich-Erzähler, zu stolz, um die Hasenscharte operativ herrichten zu lassen: „How could I explain that it was just beyond me to walk into some doctor’s office and admit that I was wishing for something I hadn’t got?” Großartig das!

    Ist es denn nun auch Stolz (übertriebener Stolz), dass es nie zu einer (körperlichen) Beziehung zu der Frau kommt?

    Und am Ende wieder so eine Kirchenschiff-Beerdigungsszene wie bei „Haven“: Die kleinen Skunks an der Tränke. Jeder lebt mit seinen Möglichkeiten. So glücklich, wie es eben geht. Glück ist auch das derjenigen, die normalerweise eigentlich als stinkend gemieden werden.

    Nun.

    Beste Grüße
    NO
    (Anmerkungen zu „Pride“ aus: „Dear Life“, Alice Munro)

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  6. Lieber NO,
    aus meiner Sicht bleibt die Perspektive (bzw. der Erzähler) immer derselbe: der Mann mit der Hasenscharte, der als alter Mann von sich als einem kleinen Jungen erzählt, von der Art, wie die Stadt sich verändert und seiner "Beziehung" zu Oneida (weiß auch nicht, wie man´s ausspricht :-) ). Daher lese ich auch die Binsenweisheiten, die der Erzähler einstreut, als Ausdruck seines Bewusstseins. Für Parodie halte ich es nicht. Ich denke, im erzählerischen Universum von Alice Munro gibt es keine Ironie oder parodistische Elemente. Die Figuren sind immer "ernst gemeint" und lediglich ein Leser könnte auf sie mit einem ironischen Blick schauen. Die Autorin lässt das offen. (Wie der Onkel in "Haven" - er wirkt lächerlich, aber sie "macht" ihn nicht lächerlich.)

    Dieser Mann, diese Erzählstimme in "Pride" ist mir unsympathisch, sofort. Und ich frage mich, warum.
    - Stolz ist eine, ist d i e Todsünde. Einem dem Stolz auszutreiben, eine "demütig" zu machen, indem man sie demütigt, dahinter steckt ein Eifer, den ich durch meine Herkunft aus einem evangelikalen Umfeld wiederzuerkennen meinen. Sich gegen die Demütigung zu immunisieren durch Stolz, ist ein nachvollziehbarer, ein "berechtigter"?? Widerstand gegen das, was auf sehr unterschiedliche Weise dem Vater von Oneida, dem Erzähler (der in der Geschichte mehrfach, geradezu beiläufig in seiner Männlichkeit gekränkt wird) und Oneida (die ihren Klassenstatus degradiert wird) widerfährt. Sie sind stolz. Und dieser Stolz macht sie zu unsympathischen, isolierten Menschen. Selbst vor einander müssen sie auf ihrem Stolz beharren.

    Ich mag die Geschichte nicht, jetzt weiß ich es, weil in ihr die Wut, der Hass, die Angst geborgen sind und es keinen Trost gibt. Die Geschichte erzählt, so lese ich sie, davon, dass der Stolz tatsächlich eine abscheuliche Sünde ist. Und zugleich eine unvermeidliche. Für manche. "Glad as could be." Im Konjunktiv. Und: nicht "happy"! Alles verpasst. Doch: Stolz bewahrt. Aber: In Alice Munros Welt gibt es Gnade: Ein gemeinsamer Blick auf die Stinktiere. Possierlich. Mehr nicht. Es ist eine düstere Geschichte. Darüber, wie Menschen an sich selbst versagen. Und aneinander. In Munros Erzählungen wird das nicht durch Ironie "gedämpft" oder überhöht. Niemand kann eine/r andere sein. Keine/r kann aus ihrer/seiner Haut. In diesem letzten Satz steckt Resignation, keine Erlösung. Auch das kann Gnade sein.Und damit weiß ich noch genauer, warum ich mich gegen diese Geschichte sträube: Weil in ihr die religiöse "Grundierung", die in allen Geschichten Munros zu finden ist, besonders deutlich und dunkel durchschimmert. Weil ich mich darin wieder finde, aber dort nicht finden will.

    Es ist dennoch oder gerade deshalb eine großartige Erzählung. Lesen Sie nur den Abschnitt, als der Erzähler vom Untergang des Schiffes vor der kanadischen Küste erfährt und durch die Nacht spazieren geht: “I had a very strange feeling that was part horror and part—as near as I can describe it—a kind of chilly exhilaration. The blowing away of everything, the equality—I have to say it—the equality, all of a sudden, of people like me and worse than me and people like them.” Equality - Unter Gleichen bräuchte es keinen Stolz. Dieser Zustand aber ist der Tod. Wer nicht tot ist, heißt das, sündigt, weil er/sie stolz sein muss, um sich gegen das Mitleid, die Bosheit, die Demütigung durch die anderen zu wappnen. Das ist, was bei Alice Munro "menschlich" ist. Und das ist ein Grund, warum ich mich gelegentlich von dieser Lektüre erholen muss, bei einer weniger düsteren, aber nicht weniger scharfsichtigen Autorin beispielsweise wie Barbara Pym, die mit Ironie mildert, was "menschlich" bedeutet.

    Herzliche Grüße
    M.

    PS. In jeder dieser Erzählungen "steckt" so viel mehr "drin", als in den meisten Romanen, die sich über zwei- oder dreihundert Seiten (und mehr) erstrecken. Das fasziniert mich am meisten: Wie es ihr gelingt, alles so zu verdichten.

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    1. Es muss heißen: ironisierenden Blick, ziemlich weit oben. Ach, wenn ich doch mal was Korrektur lesen würde, richtig, bevor ich es freischalte :-)

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  7. Auf Reisen, liebe MRS. MB, bin ich nicht im Netz. Aber nun zurük setzen wir fort - wenn Sie wollen.
    Beste Grüße
    NO

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    1. Zur -für uns - nächsten Erzählung "Corrie" habe ich einen längeren Post geschrieben. Vor allem weil sich am Beispiel von "Corrie" die Möglichkeit bietet, Alice Munro beim Schreiben "zuzuschauen", da für den Schluss der Erzählung drei Varianten veröffentlicht sind, von denen sie die ersten beiden offenbar verworfen hat.

      Capable: Die Kunst der Auslassung

      Bin gespannt, wie Sie das gelesen haben.

      HG M.

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    2. Liebe Melusine,

      vor CORRIE zunächst noch einmal zurück zur Hasenscharte:

      Ich mag die Geschichte auch nicht, aber weil sie mich nicht fasziniert und mitreißt. Fehlende Sympathie für die Figuren wäre nicht wirklich mein Problem, die habe ich ja – wie Sie wissen – für kaum eine der Figuren in den Munro-Geschichten. Und auf gar keinen Fall sind diese hier unsympathischer als der Haven-Onkel, der miese „Chink“-Rassist.

      “We were as glad as we could be“.

      Wir waren so zufrieden, wie wir sein konnten. Ich lese das als past tense, nicht Möglichkeitsform. Es hat aber zwei alternative Zungenschläge. Entweder: Wir versuchen, trotz unsere Behinderungen (Beschränkungen) so glücklich zu sein, wie es eben geht – und das ist wie beschrieben, besser geht eben nicht mit unseren Möglichkeiten. Und: Zufriedener als wir waren, kann man nicht sein.

      Stolz als Verteidigung gegen Kränkung ist eine interessante Lesart von Ihnen. Richtig, sicher. Auch. Stolz auf das Erreichte – so habe ich des Mannes Reaktion verstanden. Hass? Drauf wäre ich nicht gekommen. Er verweigert das Zusammenziehen wegen der Begründung, die die Frau gibt (gegenseitige Unterstützung im Alter etc. wegen der Gebrechen der beiden). Das er das nun nicht akzeptiert, weil es das von ihm Erreichte in den Schatten stellt, diese Haltung konnte ich gut nachvollziehen.

      Das Mädchen ist hübsch und reich, aber unbedarft. Sie kann nicht die Geschäftsbücher führen und nicht das geerbte Riesenhaus des Vaters. Ihr fällt nichts Besseres ein, als sich einem Typen mit Hasenscharte zu nähern. Okay, der tut ihr nichts. Ihre Stärke liegt vielleicht darin, sich um einen zu kümmern, der ihr nichts tut. Sie spielt über viele Jahre den Fahrer des Vaters zur Bank in die Verbannung und zurück. Sie pflegt über viele Tage den Jungen, als der krank wird. Die beiden machen Abendessen, über viele Jahre, und gucken fern beim Essen. Konsequent, dass sie dann bei ihm einziehen will, um als Bruder und Schwester das Leben ausklingen zu lassen. Sie spielt Mutter.

      Der Junge will aber keine Mutter. Er ist beeinträchtigt, aber fähig. Er gestaltet sein Leben. Aber er braucht jemand Bekanntes als Umgebung, der akzeptiert, was er hat. „Meeting new people was an ordeal for me.“ Die sich opfernde Mutter ist okay, die ihn pflegende Oneida ist okay, insbesondere die mit ihm fernsehguckende Oneida, ist okay. Aber enger soll`s nicht werden. Damit kann er sie aber nicht konfrontieren, lieber verkauft er schnell sein Haus. Geht’s noch? Das nicht Akzeptable des Angebots ist verständlich, die Art und Weise nicht.

      Aber Ihre Deutung, Stolz als notwendige Sünde, notwendig, weil man lebt, hoch spannend.

      Beste Grüße
      NO

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    3. Das Religiöse (Sünde - Erlösung, Tod - Vergänglichkeit) halte ich für einen Aspekt von Munros Werk, der wichtig ist, den ich aber sicher nur zum Teil ausloten kann, weil die Feinheiten zwischen den unterschiedlichen protestantischen Kirchen, auf die angespielt wird, mir unklar sind. (Ich weiß aber aus eigener Erfahrung, wie viel "böses Blut" noch nach Jahrhunderten der Luther-Zwingli-Streit zu stiften vermochten und erinnere mich an ein kleines Mädchen, das - ohne zu begreifen, worum es ging - unter dem hasserfüllten missionarischen Gekreische zusammenzuckte.

      Sie schreiben, Sympathie für die Figuren sei kein Aspekt, der Ihre Lektüre beeinflusse. Dann ist es wohl eher, ob Sie deren - von Ihnen unterstellte oder im Text nahe gelegten - Motive nachvollziehen können. Komischer Weise "stört" mich das nie. Ich bin viel eher enttäuscht, wenn sich die Figuren verhalten, wie es die popularisierte Psychologie oder Psychoanalyse nahezulegen scheint. Ich schätze Munro u.a. - ich denke, da wiederhole ich mich - auch deshalb so sehr, weil in ihren Geschichten sich diese gerade in Nordamerika und seit den 70er Jahren populären Theorien nicht fiktiv "verwirklichen". Die Grund-Konflikte dieser Figuren sind vielmehr, so lese ich das, vor-psychologisch, geradezu mythisch/märchenhaft: Schuld, Sehnsucht, Liebe, Einsamkeit. In gewisser Weise widersetzen sich diese Figuren einer Deutung, die ihr Verhalten "therapierbar" macht. Sie wollen und sollen in diesen Erzählungen nicht "normalisiert" werden: die Hasenscharte nicht wegoperiert, die Einsamkeit nicht im Kommunikationstraining behoben, die existentielle Angst nicht durch Verhaltenstherapie geheilt, die Neurose nicht durch Analyse der frühkindlichen Traumata gelöst. In "Train", der übernächsten Geschichte, die eine meiner "liebsten" ist, wird das noch mehr im Zentrum stehen.

      Herzliche Grüße
      M.

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    4. Ja, schreiten wir fort, zumal der Bücherblogger ja bereits weitere Geschichten ins Spiel bringt. TRAIN, nebenbei bemerkt, ist für mich die grandioseste Erzählung des ganzen Buches.
      Beste Grüße
      NO

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