Eine
Autorin wie Alice Munro lässt sich nicht oft von Leserinnen beim Erzählen über
die Schulter schauen. Ihre Geschichten erscheinen nahtlos, stilistisch perfekt,
jeder Satz „sitzt“ und kein Wort ist zu viel. Sie entwirft auf wenigen Seiten Figuren
und Umwelten, die komplex und glaubwürdig, vertraut und fremd zugleich sind.
Ihre Erzählungen überschauen oft viele Jahre; Entwicklungen, Umbrüche,
Trennungen haben statt, Städte und Landschaften, gesellschaftliche Gepflogenheiten, Moden und religiöse Anschauungen wandeln sich durch die Zeit.
Die Kunst der Alice Munro besteht darin, in knappen Formulierungen, präzisen
Beschreibungen und kurzen Wortwechseln innere Dramen und äußere Zwänge
ihrer Figuren, die ganze Ambivalenz von „Dear Life“, dem guten, dem schweren,
dem missglückten und vergeudeten, gelungenen und lohnenden Leben zur
Erscheinung zu bringen.
Wie
ihr das gelingt und warum, zeigt sich am deutlichsten, wenn Leserinnen ausnahmsweise Zeugen dieser
Arbeit an der Erzählung werden, wie es bei „Corrie“ möglich ist, einer
Erzählung aus dem jüngsten Band „Dear Life“, der im Herbst 2012 erschien. Diese
Erzählung, wie viele andere von Alice Munro, wurde vorab im New Yorker (November 2011) und später
noch einmal in The Pen (April 2012) veröffentlicht.
Das Ende der (endgültigen?)
Fassung unterscheidet sich stark von den beiden Vorgänger-Fassungen. (Ich
habe diese unterschiedlichen Fassungen nicht selbst „entdeckt“ – zumal „Corrie“
eine der wenigen Geschichten ist, die ich nicht vorab im New Yorker gelesen
hatte - , sondern bin durch diesen Blog-Eintrag darauf gestoßen: hier.)
„Corrie“
erzählt von zwei Menschen, die über Jahrzehnte ein heimliches Liebespaar
werden: der verheiratete Architekt Howard Ritchie und die durch eine frühe
Polio-Erkrankung erlahmte, reiche Erbin Corrie Carlton. Als sie einander in den
„mid-fifties“ kennenlernen, ist Corrie 26 Jahre alt und ihr Vater, ein Schuhfabrikant, befürchtet, womit er vor dem jungen Architekten nicht hinter dem
Berg hält, sie werde als alte Jungfer enden. Corrie plant eine Reise nach
Ägypten und scheint sich wenig um das taktlose Gerede ihres Vaters vor dem
Fremden zu scheren. Howard Ritchie, erfährt die Leserin, „was only a few years older than she was, but already equipped with a
wife and a young family, as her father had immediately found out.“
Am Anfang der Erzählung wird die personale Perspektive des jungen
Architekten eingenommen. Die behinderte, selbstbewusste Frau irritiert ihn. „Her expressions changed very quickly. She
had bright-white teeth and short, curly nearly black hair. High cheekbones that
caught the light. Not a soft
woman. Not much meat on the bone, which was the sort of thing her father might
find to say next. Howard Ritchie thought of her as the type of girl who spent a
lot of time playing golf and tennis. In spite of her quick tongue, he expected
her to have a conventional mind.“ Nichts passt zusammen: eine Frau, die den
Fuß nachzieht, aber wie eine wirkt, die dauernd Sport treibt; eine Frau, die
scharfzüngig ist, die er aber dennoch für konventionell hält. „Spoiled rich miss. Unmannerly.“ Er hält
sie für frech und kindisch. „At first, a
man might be intrigued by her, but then her forwardness, her self-satisfaction,
if that was what it was, would become tiresome. Of course, there was money, and
to some men that never became tiresome.“ Sein Blick auf sie: wenig
freundlich. Die Erzählerin bleibt zunächst bei ihm, bei seinem Blick auf
die Frau, der sich allmählich zu verändern scheint. Aus Ägypten schreibt sie
ihm Postkarten. Er sucht sie nach ihrer Rückkehr erneut auf. Ihr Vater erleidet einen
Schlaganfall. Er unterstützt sie bei der Pflege und sie reden über vieles, auch
über das, was er seiner Frau verschweigt: seine religiöse Erziehung zum
Beispiel. „Than he had things to tell her
about himself. The fact that he had produced a condom did not mean that he was
a regular seducer. In fact, she was only the second person he had gone to bed
with, the first being his wife.“ Die Affäre beginnt: „He hadn´t been sure how
he would react to the foot, in bed. But in some way it seemed more appealing,
more unique, than the rest of her.“
In
der Mitte der Erzählung wird schließlich, so scheint es, die „Schlüsselszene“
beschrieben. Eine ehemalige Haushaltshilfe Corries taucht im Haushalt eines
Paares auf, bei dem Howard und seine Frau zum Abendessen
eingeladen sind. Lillian Wolfe, so heißt sie in der letzten Fassung, hat
die beiden Ehebrecher schon in Corries Haus miteinander beobachtet und erkennt nun,
dass Howard schon lange verheiratet ist. Bis hierher wurde der
Leserin alles aus Howards Sicht vorgestellt: sein Blick auf Corrie, seine
Erlebnisse, seine Gedanken, seine Empfindungen. Beim genauen Lesen erst fällt die Passiv-Konstruktion auf, die die Erzählerin für diese Passage gewählt hat, um ihre
Unzuverlässigkeit zu tarnen: „This was dicovered on an occassion
when Howard and his wife were invited to dinner, with others, at the home of some
newly important people in Kitchener.“
Munro wechselt die Perspektive. Nicht länger erfährt die Leserin, was
Howard sieht, fühlt oder denkt, sondern nur noch, was er Corrie sagt. „Howard said that he had not told Corrie
about the dinner party right away, because he hoped it would become
unimportant.“ Ein Erpresserbrief von
Lilian, der die Drohung enthält, Howards Frau von der Affäre zu berichten, erreicht ihn, so erzählt er Corrie, in seinem Büro. Auch diese Stelle ist
sehr präzise geschrieben: „She ... also referred to his wife´s coat
with the silver-fox collar. This coat bothered his wife, and she often felt
obliged to tell people that she had inherited, not bought it. That was the truth. Still, she liked to wear
it on certain occassions, like that dinner party...“ "Das war die Wahrheit."? Wenn Howard von der Wahrheit spricht, erzählt er Corrie nicht etwa von den Forderungen der Erpresserin,
sondern schweift ab zu den inneren Widersprüchen seiner politisch links orientierten Frau
aus bürgerlicher Familie. Corrie bemerkt es sofort: „How would Lilian know a silver-fox collar
from a hole in the ground?...Are you sure that´s what she said?“
Von hier ab ist die Perspektive der Erzählung ausschließlich die personale Corries. Die Leserin nimmt nun an
ihren Gedanken und Empfindungen teil, wie zuvor an Howards. Sie sprechen über
die möglichen Reaktionen auf die Erpressung: „She made herself speak lightly but she had gone deathly cold. For what
if he said no. No, I can´t let you. No, it´s a sign. It´s a sign that we have
to stop. She was sure that there´d been something like that in his voice, and
in his face. All that old sin stuff. Evil.“ Corrie, die es sich leisten
kann, wird regelmäßig zweimal im Jahr für das Stillschweigen Lilians eine
mäßige Summe zahlen. Howard wird das Geld in einem Schließfach hinterlegen.Sie trennen
sich, nachdem sie sich für diese Lösung entschieden haben, recht förmlich voneinander. „This subject must be altogether separate from what is between us, was
what he seemed to be saying. We´ll start fresh. We will be able again to feel
that we´re not hurting anybody. Not doing any wrong. That was how he would put
it in his unspoken language.“ Die Leserin wird alle diese Sätze beim
zweiten Lesen ganz anders lesen, aufgeladen mit neuen, verstörenden
Bedeutungen, nicht minder ambivalent allerdings. Die Auflösung, die der Schluss anzubieten scheint, wird nämlich zuletzt diese Darstellung nicht völlig als
Irrtum Corries, als Lüge Howards entlarven, sondern in ihrer Ambivalenz vertiefen. Welche
Sünde? Was ist böse? Und wer? Was lässt Howard unausgesprochen?
Jahre
vergehen. Sie reden nicht mehr über die Erpressung. Aber Corrie zahlt und Howard
überbringt das Geld. Die Schuhfabrik wird geschlossen. Corrie sucht nach
Aufgaben, will ein Museum eröffnen, landet schließlich in der örtlichen
Bücherei als ehrenamtliche Hilfe. Diese Passagen, die mit dem Kern der
Geschichte wenig zu tun zu haben scheinen, sind dennoch notwendig. Sie zeigen
Corrie nicht mehr aus dem Blickwinkel eines zunächst widerwillig sexuell von ihr
angezogenen Mannes, sondern in ihrer Fremdheit gegenüber der Umwelt, in der sie
lebt. Corrie wohnt weiterhin in dem Haus, das ihr Vater ihr vererbt hat, in den
Möbeln, die Howard schon bei seinem ersten Besuch antiquiert vorkamen. Von
Howards Leben mit seiner Familie erfährt die Leserin nur, was er Corrie
beiläufig erzählt. Die Geschäfte laufen gut. Seine Frau arbeitet Teilzeit. Die
Kinder nehmen ein Studium auf. Reisen nach Europa. Ein Ferienhaus am Meer. Der Umzug nach Toronto. Die Beziehung zwischen Corrie und Howard verändert sich.
Er kommt seltener, aber für längere Zeiträume. Sie unternehmen Ausflüge
zusammen. „They
still made love, of course. Sometimes with caution, avoiding a sore shoulder, a
touchy knee. They had always been conventional in that way, and remained so,
congratulating themselves on not needing any fancy stimulation. That was for
married people.“ Howard, erkennt die Leserin, hatte Recht, zu Beginn. Corrie
ist konventionell. Und das ist gut so. Für ihn. Mit ihm. „Sometimes Corrie
would fill up with tears, hiding her face against him. ´It´s just that we´re so
lucky., she said. She never asked him wether he was happy, but he indicated in
a roundabout way that he was. He said that he had developed more conservative,
or maybe just less hopeful, ideas
in his work.“
Eines
Tages erfährt Corrie, dass Lillian Wolfe gestorben ist und an ihrem Heimatort
beerdigt wird. Sie nimmt an der Leichenfeier teil und hört, dass Lillian Wolfe "was a rare person.“ Sie will Howard schreiben, einen
humorvollen Brief, in dem sie den Verdacht äußert, dass die Erpressungsgelder
in die neue, reformorientierte Kirche am Ort geflossen sind, der Lilian Wolfe
sich offenbar verbunden gefühlt hat. „She
goes to bed with the letter to him still unfinished. And wakes up early, when
the sky is brightening, though the sun is not yet up. There´s always one
morning when you realize that the birds have all gone. She know something. She
has found it in her sleep. There is no news to give him. No news, because there
never was any. No news about Lilian, because Lillian doesn´t matter and she
never did.“
Am nächsten Morgen steht Corrie auf: „She gets up and quickly dresses and walks
through every room in the house, introducing the walls and the furniture to
this new idea. A cavity everywhere, most notably in her chest. She
makes coffee and doesn’t drink it. She ends up in her bedroom once more,
and finds that the introduction to the current reality has to be done all over
again. But then there is a surprise. She is capable...“ So beginnt das
Ende der Erzählung in allen drei Varianten. „A cavity everywhere...“ Leere: die
Geschichte einer Lüge.? Ein Leben, aufgebaut auf Lüge und Irrtum? „It isn´t a good thing to have the money concentrated all in
the one family, the way you do in a place like this.“, lautet der erste Satz dieser Erzählung. Die Autorin hat ihn dem taktlosen,
aber besorgten Vater Corries in den Mund gelegt. Aber - Corrie ist – trotz oder wegen ? - ihrer Behinderung, ihres
Geldes, ihrer Weltfremdheit - „capable“.
Das Ende der
Erzählung dreht sich darum, ob und auf welche Weise Corrie Howard mitteilen
wird, was sie begriffen hat. Dreimal nimmt Alice Munro einen Anlauf. In der ersten Variante, wie sie zunächst im New Yorker erschien, beschließt Corrie, über Lillians Tod zu
schweigen. Wenn Howard Ritchie nicht weiß, dass Lillian tot ist, kann alles so
weitergehen, wie zuvor. In der zweiten Variante wird diese Entscheidung Corrie
zweifelhaft: „Someday, she supposes, there will have to be an
end to it. But in the meantime, if what they
had—what they have—demands payment, she is the one who can afford to pay. When
she goes down to the kitchen again she goes as if gingerly, making everything
fit into a proper place. She has calmed down mightily. All right. But in the
middle of her toast and jam she thinks, No. Fly away, why don’t you, right
now? Fly away. What rot.Yes. Do it.“
Munro bleibt mit
dieser zweiten Variante offenbar weiter unzufrieden. Zwar ist Corries Haltung nun
ambivalenter, aber alles scheint zugespitzt auf die Frage danach, wie Corrie
mit Howards Verrat umgeht. In der letzten (und endgütligen ?) Variante schreibt
Corrie Howard einen kurzen Brief: „The briefest note, the letter tossed. ‘Lillian
is dead, buried yesterday.’ She sends it to his office, it does not
matter. Special delivery, who cares? She turns off the phone, so as
not to suffer waiting. The silence. She may simply never hear
again. But soon a letter, hardly more to it than there was to
hers. ‘All well now, be glad. Soon.’ So that’s the way they’re going
to leave it. Too late to do another thing. When there could have
been worse, much worse.“
Was wird
erzählt? Von wem? Zwei Perspektiven: ein aufstrebender, verheirateter Mann, der
sich von einer Frau angezogen fühlt, die reich ist und ihm verwöhnt erscheint,
die mehr Geld hat, als sie brauchen kann und mit der er über sich und seine Kindheit
sprechen kann, wovon er seiner Frau schweigt; eine behinderte, isolierte Frau mit
mehr Geld, als sie allein ausgeben kann, die sexuelle und emotionale Erfüllung bei
einem Mann findet, der eine Familie hat. Scheinbar die Erpressung des Paares durch eine ansonsten
wenig beachtete Hausangestellte, die spät in der Erzählung erst Gestalt
gewinnt, als eine fromme, kinderliebe und freundliche Frau, die viel zu früh an
Krebs gestorben ist.
Die Kunst der Erzählung ist die Kunst der Auslassung. Es ist diese Kunst, die Alice Munros Corrie am Ende, in der Fassung, die für das Buch die gültig wird, beherrscht. Sie schweigt nicht, aber sie offenbart auch nicht. Corrie überlässt ihm die Interpretation ihrer Mitteilung. So wie Munro den Leserinnen die Interpretation der Replik überlässt, die Howard sendet. Wird dieses Liebesverhältnis enden? War es für ihn je Liebe? Oder ein Geschäft? Was erzählt wird, bleibt unzuverlässig. Jede Perspektive ist un/gültig. Niemand weiß, wie es „wirklich“ war. Die Kunst besteht darin, etwas auszulassen. Freiräume zu schaffen im Gespräch für den anderen, für seine Auslegung. Es könnte schlimmer sein und enden. Die Erzählung. Und das Leben. Die Liebe. Nämlich: wenn ALLES ausgesprochen würde.
Die Kunst der Erzählung ist die Kunst der Auslassung. Es ist diese Kunst, die Alice Munros Corrie am Ende, in der Fassung, die für das Buch die gültig wird, beherrscht. Sie schweigt nicht, aber sie offenbart auch nicht. Corrie überlässt ihm die Interpretation ihrer Mitteilung. So wie Munro den Leserinnen die Interpretation der Replik überlässt, die Howard sendet. Wird dieses Liebesverhältnis enden? War es für ihn je Liebe? Oder ein Geschäft? Was erzählt wird, bleibt unzuverlässig. Jede Perspektive ist un/gültig. Niemand weiß, wie es „wirklich“ war. Die Kunst besteht darin, etwas auszulassen. Freiräume zu schaffen im Gespräch für den anderen, für seine Auslegung. Es könnte schlimmer sein und enden. Die Erzählung. Und das Leben. Die Liebe. Nämlich: wenn ALLES ausgesprochen würde.
***
Große Erzählerinnen
lassen sich beim Erzählen nur selten über die Schultern schauen. Eine der
größten ist Jane Austen. Und wie Alice Munro auch eine von jenen, die die Nähte
einer Erzählung mit so fein ziselierten Stichen zu schließen verstehen, dass
sie am Ende mit bloßem Auge nicht mehr zu erkennen sind. „Persuasion“ ist mein
Lieblingsroman von Austen und wie es der Zufall will, ist auch für „Persuasion“
eine Schlussvariante überliefert, die Austen später verworfen hat. Auch hier
offenbart ein Vergleich, worum es Austen beim Erzählen wesentlich geht: Ihre
Romane unterhalten und belehren in der Kunst der Konversation, die zu ihrer
Zeit vor allem die Kunst war, zwischen den Zeilen zu lesen. Austens Romane
steuern auf den Moment zu, an dem ausgesprochen werden muss, was sich zwischen
die Zeilen gedrängt und zusammengeballt hat: das leidenschaftliche Geständnis
der Liebe. (Vgl.: Das wilde Biest) Auch Alice Munros Erzählungen können als Unterweisungen in der Kunst
der Konversation verstanden werden. In unserer Zeit jedoch, in der von überall
her aus den Illustrierten und Ratgeber-Handbüchern der Ruf ertönt: „Lass uns
drüber reden.“ und „Sprich dich aus.“, brauchen wir weniger Einübung darein,
wie wir uns einander – oft fälschlich – offenbaren können, als was auszulassen
ist – beim Reden in und über die Liebe. (Damit nicht das Schlimmste geschieht.)
Jane Austen: Persuasion € 0,00
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Aaaah, Sie greifen vor (und warten nicht auf mich), liebe Melusine. Leider komme ich derzeit nicht zum Lesen und schon gar nicht zum kommentieren - und auch nicht zum Lesen Ihrer Kritik hier. Aber ich wollte schon einmal vermerken, dass ich CORRIE für ganz großartig halte und ich die Geschichte sehr genossen habe.
AntwortenLöschenDemnächst mehr (hoffentlich)!
Beste Grüße
NO
Die läuft ja nicht weg, diese Corrie. :-). Hoffe ich auch: demnächst - mehr! LG M.
LöschenIch lese gerade die Titelerzählung "Runaway" aus dem gleichnamigen Band von 2004, allerdings auf Deutsch und bei uns trägt Band den Titel einer anderen Erzählung, nämlich "Tricks". Ich habe erst gut zwanzig Seiten gelesen, nicht mal die Hälfte. Was mir auffällt, ist das gleiche Motiv der Erpressung schon dort, allerdings in umgekehrter Relation, ein Ehepaar will eine Witwe erpressen, wobei sich die Frau Carla von ihrem Ehemann instrumentalisiert sieht. Auch sehr spannend und immer faszinieren die Geschichten, weil sie etwas in der Schwebe und unausgesprochen lassen. Auch das liebevolle Verhältnis der Frau zu den Tieren, vor allem einer Ziege, absolut "mysterious". Hat man eine Erzählung angefangen, kann man sie einfach nicht wieder weglegen. Obwohl man am Schluss nie mit einer völligen Aufklärung belohnt wird, bleibt man nie enttäuscht zurück. Die Erzählung selbst war farbig genug und gut dass es immer noch eine nächste gibt.
AntwortenLöschenHerzlichen Gruß
Der Buecherblogger
Lieber Buecherblogger,
Löschenschon haben Sie mich verführt. Grade habe ich mir "Runaway" aus dem Regal gezogen, um es noch einmal zu lesen. Ich habe diese Erzählung in dem Band "My Best Stories" gelesen, den mir Mastermind, mein jüngerer Sohn, aus Canada mitgebracht hat. Und werde es heute Nachmittag noch einmal lesen. Dann - vielleicht - noch ein wenig mehr zu dieser Geschichte.
Bei allen Erzählungen von Alice Munro finde ich es so faszinierend, wie es ihr offenbar gelingt auf jeweils ca. 40 Seiten zugleich präzisere und offenere Figuren(-konstellationen) zu entwickeln als den allermeisten Romanautor_innen auf 200 und mehr Seiten. Und immer wieder eröffnet eine Re-Lektüre ganz neue Deutungsmöglichkeiten. Oben z.B. habe ich mich vor alle mit der wechselnden Perspektive in "Corrie" beschäftigt. Eine könnte aber auch die beiden Gespräche am Anfang und fast am Ende der Geschichte zueinander in Beziehung setzen: Das Gespräch des Vaters mit Howard über Corrie und das Gespräch der letzten Arbeitgeberin von Lillian u.a. beim Leichenschmaus über Lillian. Dann wäre das Thema "Klasse" oder "Schicht" und es ginge um subtile und weniger subtile Signale, die Ausschluss oder Zugehörigkeit anzeigen. Und plötzlich stünden nicht mehr Howard und Corrie im Zentrum, sondern Corrie und Lillian - zwei Frauen, die je auf ihre Weise, aus den sozialen Zusammenhängen "fallen" und nur lose mit den anderen verbunden sind.
Liebe Grüße
M.
Dann lesen wir "Runaway" heute gemeinsam. Ich habe mir gerade die 26 Seiten aus "The New Yorker" ausgedruckt. Immer noch frei zugänglich dort und jetzt lese ich das Original noch einmal. Scheint mir überhaupt die richtige Reihenfolge zumindest für mich zu sein. Das abgebrochene Anglistikstudium ist wohl schon zu lange her. Also erst auf Deutsch zum allgemeinen Verständnis und danach die sprachlichen Feinheiten im Original. Das Geheimnis dieser Erzählung steckt eindeutig im Symbol der Ziege. Für was diese steht, habe ich zumindest meine Vermutungen. Was mir darüber hinaus auffällt ist eben der häufige Gebrauch wiederkehrender Motive in den Stories. Der bettlägerige, sterbende Schriftsteller erinnert mich zum Beispiel an das gleiche Motiv in "Manche Frauen". Dass ich Sie noch bei Alice Munro verführen kann, freut mich natürlich.
AntwortenLöschenHerzlich an einem sehr, sehr frostigen Samstagmorgen...
Frostig ist es hier auch. Doch ich nahm ein warmes Bad :-).
LöschenWie ich schon anderswo mal erwähnte (ich glaube es war mit Blick auf den Hund/Wolf in "Gravel") hilft es mir nicht weiter, die Gestalten Alice Munros als symbolische zu verstehen. So auch mit Blick auf die Ziege Flora. Die Erzählerin, so nehme ich das wahr, führt solche symbolischen Deutungen immer wieder zurück: das Skelett der Ziege (freilich nur in der Einbildung des Carlas), die "Erscheinung" der Ziege im Nebel (in der Wahrnehmung von Sylvia und Clark). Die Ziege symbolisiert etwas für die fiktiven Figuren; aber in der fiktiven Erzählung der Alice Munro ist sie nichts weiter als - eine Ziege namens Flora.
Wie der Hund/der Wolf in der Erzählung "Gravel" zeigt sich am Verhältnis der drei Menschen zur Ziege ihr Verhältnis zur Welt und zu den anderen. Carla braucht etwas zum Lieben, sonst erscheint ihr das Leben sinnlos (deshalb auch kehrt sie zu Clark zurück). Sylvia hat den Menschen verloren, den sie liebte, der ein Dichter war, der nicht über das schrieb, was ihr poetisch erschienen wäre. Die Ziege erscheint ihr als ein Symbol dieses Verlustes und der Fremdheit. Und Clark? Für ihn wird die Ziege ein Symbol, an dem er sich gefahrlos rächen kann (statt Carla oder Sylvia zu töten).
Auch in dieser Erzählung finde ich erneut die mythischen oder auch die religiösen Themen der Alice Munro wieder: Schuld und Vergebung, Liebe und Hass. Auch hier gibt es die Entscheidung, nicht "darüber" zu reden.
Das ist eine Ebene. Dennoch: Auch hier geht die Erzählung nicht in einer solchen Deutung auf. Sylvias Liebe zu dem Mädchen. "There´s always a girl.", sagen Sylvias Freundinnen. Ja, im Leben vieler Frauen ist immer ein Mädchen, in das sie ein wenig verliebt sind. Mit Sexualität hat das nichts zu tun. Auch Sylvia ist eine heterosexuelle Frau. Sie will das Mädchen gerade nicht berühren. Aber sie will es um sich haben. Anschauen. Ihm etwas schenken. Und Carlas Liebe zu Clark? "It was probably all just sex." Aber später: "But what would she care about? How would she know she was alive?" Verliebtheit. Sex. Sorge. Selbstbestätigung. Was ist Liebe? (Die Antwort: all das - ist ein wenig zu simpel. Alice Munro zeigt: You never get it all in one person.)
Herzlich
M.
In der weißen Ziege sehe ich doch noch etwas Anderes. Die Parallele zu Carla ist, dass auch die Ziege "ausreißt", wie sie. Außerdem hatte Flora die Ziege sich am Anfang durchaus auch zu Clark hingezogen gefühlt. Als aber deutlich wird, dass Carla viel empathischer in ihrem Umgang mit Tieren ist als er, wird Clark gerade in Bezug auf ihr Lieblingstier eifersüchtig und auch die Ziege beginnt ihn zu meiden. Die spätere Szene vor der Haustür Sylvias ist ja beinahe surrealistisch, wie die Ziege einem Nebel gleich auftaucht und die Eskalation ihres Streits verhindert. Ich sehe in ihr das Symbol für weibliche Selbstbestimmung und Emanzipation aus der von Clark zugedachten Frauenrolle. Deshalb muss die Ziege sterben, sie ist ein Symbol dafür, was in Carla nicht an die Oberfläche kommen darf und was sie selbst noch nicht schafft, den Sprung in eine freie Selbstbestimmtheit. Sie fällt in das klassische Frauenbild der meinetwegen sechziger Jahre zurück, weil sie nicht ohne Gefühlsbindung an ihren Mann auszukommen scheint. Sie unterdrückt sogar am Ende die Erinnerung an ihr Fortlaufen, an ihre Emanzipation, vielleicht aus Angst, dass ihr ein ähnliches Schicksal drohen könnte wie der Ziege.
LöschenNicht umsonst scheint es mir auch ausgerechnet eine Ziege zu sein, das von Männern bevorzugte Bild einer schwierigen Frau.
Das sind nur meine spontanen Eindrücke, die keine andere Interpretation ausschließen möchten. Ich lese gerade noch.
Lieber Dietmar,
Löschenmir fällt es schwer, dieser symbolischen Deutung zu folgen. Einen der Gründe habe ich schon dargelegt: Aus meiner Sicht verwendet Alice Munro als Erzählerin niemals Symbole (deren Bedeutung also zu "entschlüsseln" wäre), sondern lässt nur ihre Figuren auf unterschiedliche Weise bestimmte Erscheinungen als symbolische deuten. Dabei ist jedoch nie die Deutung der einen mit der des anderen deckungsgleich, vielmehr stehen sich diese Deutungen oft unversöhnlich und unvereinbar gegenüber.
Der andere Grund ist: Ich glaube nicht an die "Emanzipation" -und ich bin mir in diesem Punkt sehr sicher - auch Alice Munro tut das nicht. "Selbstbestimmung", "Autonomie" sind (männliche) Illusionen. Niemandes Leben erscheint mir verwirkter als das des ´lonely wolf´(und - by the way - keine Fiktion verlogener und langweiliger als eine, die diese Illusion romantisiert oder heroisiert). Der Feminismus, dem ich mich verbunden fühle, kämpft nicht um "Befreiung" aus Bindungen. Weguzlaufen kann genaus so unfrei oder frei sein, wie da zu bleiben. Es ist feige, eine Ziege zu töten und es ist feige, ihren Tod nicht aufzuklären. Die meisten Beziehungen "halten" aber auch aus Feigheit. Man kann es auch freundlicher bezeichnen. Aus Verschweigen und Resignation, aus der Bereitschaft, die eigenen Grenzen und die des anderen/der anderen anzuerkennen. Munro kritisiert das nicht. Sie zeigt es.
Aber ich denke, Dr. NO wird ganz bei Ihnen sein. Auch er war sehr viel mehr als ich empört über die Darstellung einer vermeintlich unterwürfigen Frau und eines vermeintlich dominanten Mannes, die ihm ganz unglaubwürdig erschienen, in der Erzählung "Haven".
Vielleicht kommt diese unterschiedliche Wahrnehmung auch daher, dass die meisten lesenden Männer kaum darauf achten, welche Männer-Bilder schreibende Frauen entwerfen. Vor allem auch nicht darauf, welche von Frauen "gebildeten" fiktiven Männer auf fiktive Frauen anziehend wirken. Fragen Sie irgendeine Romane lesende Frau, welche männliche Romanfigur ihr "Liebling" ist, dann finde Sie Antworten. Und Gründe, warum es nicht um "Emanzipation" in diesem Sinne gehen kann. Sondern? Um (Selbst-)Bildung nach den fiktiven Bildern. (Auch) Von Männern :-). (Clark, selbstverständlich, ist kein Role-Model!)
Herzliche Grüße aus dem eisigen Amsterdam
M.
AntwortenLöschenLiebe Melusine,
die Lektüre von Corrie liegt jetzt 2 – 3 Wochen zurück, die Erzählung ist mir also nicht mehr mit jedem Wort im Ohr. Ich nutze daher erst einmal Ihre „Vorarbeit“ und kommentiere (ziemlich unreflektiert), was mir zu Ihren Punkten konkret einfällt.
Die behinderte, selbstbewusste Frau, so lese ich das, irritiert ihn nicht, sie nervt ihn. Ein reiches, oberflächliches Kätzchen, ganz hübsch und reich, aber hirnlos und verwöhnt, jemand, mit dem man absolut nichts zu tun haben möchte, schon gar nicht, etwas mit ihr anzufangen. Und doch kommt es so. Und es bleibt keine Affäre, sondern eine lang andauernde (Zweit-) Beziehung. Liebe. So etwas kommt vor, unerklärbar. So ist das Leben manchmal.
Die sprachliche Geschwindigkeit und Unauffälligkeit, mit der der Beginn der Affäre dargestellt wird, der Sex im Bed, so nachgehinkt wie das lahme Bein des Mädchens - „He hadn´t been sure how he would react to the foot, in bed“ – meisterlich!
Die Geschichte mit dem Silberfuchsmantel ist, in der Rückschau betrachtet, ein erster, versteckter Hinweis für den Leser, dass die Geschichte eigentlich nicht stimmen kann, die Howard Ritchie da erzählt, denn in der Tat: Wie soll ein Serviermädchen der unteren Schicht einen Silberfuchs von einem anderen Fuchsmantel unterscheiden können?
Dass Corrie auch betrogen sein will, mag gut sein, denn der Erpresserbrief ist, seltsam genug, von Howard verbrannt. Das wäre eigentlich verdächtig – aber auch ich habe es beim Erstlesen nicht wirklich problematisiert – und fiel bei der Auflösung aus allen Wolken!
Und dann ein erzählerischer Höhepunkt dieser Geschichte, dieses Buches und vielleicht auch des Werkes und vielleicht sogar der Literatur: Die Bewusstwerdung dessen, was tatsächlich ist, das Heraufdämmern der „Wahrheit“, der Erkenntnis. Der Beschrieb der Erkenntnis, die schriftstellerische Darbietung dessen, ist ein Meisterwerk. Für mich hat die Schilderung der inneren Bewusstseinswerdung eine Feinsinnigkeit, eine psychologische Tiefgründigkeit, die ihres gleichen sucht. Bei der positiven Charakterisierung der Toten durch die Trauernden zunächst dieses: Na, wenn Ihr wüsstet, wie die wirklich ist (!); dann die Ahnung, die Erpresserin hat mit dem Abgepressten Gutes getan; schließlich die Erkenntnis, der verrottete Liebhaber hat die Liebe auf Geld gebaut; am Ende das Wissen, ja so ist es, aber es ist auch anders, es ist auch Liebe über all die Jahre; und schließlich das Eingeständnis, ja, bei mir auch, es hätte schlimmer kommen können, suchen wir eine Brücke; abschließend die bange Erwartung, ob über die Brücke gegangen wird – und ja es wird: Anfrage und Antwort in zwei knappsten Sätzen und so auf den Punkt, besser geht es nicht sprachlich.
Die psychologischen Darstellungen haben mich erinnert an Raskolnikows Mord-Geständnis an Sonia (ich gestehe - oh, Gott ist das schwer - ich gestehe mehr – ich fiebere, so schwer hab ich es mir nicht vorgestellt – etc.) oder an die Romeo und Julia-Szene im Morgengrauen (gehen oder bleiben – die Lerche, die Nachtigall – Händchen halten und entziehen - weg, aber zurück und ein letzter Kuss – etc.).
So weit erst einmal!
Beste Grüße
NO
Wie seltsam einig wir uns mit Blick auf d i e s e Erzählung Munros sind, lieber NO! Was machen wir denn da?
LöschenLG M.
Wir könnten uns, liebe Melusine, darüber unterhalten, ob „Corrie“ eine Variation vom „Standhaften Zinnsoldaten und von einem Motiv aus dem Zauberberg ist.
LöschenJoachim Ziemßen, dem als blue print der Standhafte Zinnsoldat eingewoben ist (wie ja noch verschiedene andere Märchen von Andersen im Zauberberg unter der Oberfläche mitlaufen) liegt nicht wegen, aber gleichwohl mit einer gewissen potentiellen Insuffizienz im Genitalbereich im Spital in Davos. Er ist viel herumgekommen (im Krieg). Aber er stirbt (an TBC). Allein.
Der standhafte Zinnsoldat hat nur ein Bein. Auch er kommt viel herum (fällt aus dem Fenster des Hauses, in dem er als Spielzeug dient, wird im Rinnstein vom Wasser fortgerissen, vom Fisch verschluckt und aus diesem, der auf dem Tisch jenes Hauses als Einkauf vom Fischmarkt landet, herausgeschnitten. Aber er fällt ins Feuer und schmilzt. Allein.
Beide Figuren zeichnen sich aus durch eine Deformation im Unterleib. Beide kommen viel herum. Aber beide bleiben allein und gehen am Ende unter.
Corrie dagegen, die Dame mit auch einer Deformation im Unterleib, kommt auch viel herum: Örtlich nach Ägypten (ausgerechnet – Thomas Mann!), lebenstechnisch von der Fabrik weg zur Library. Aber sie ist nicht allein. Es gibt da eben diesen Mann – trotz allem. Und (deswegen?) erkrankt sie nicht tödlich und verbrennt auch nicht. Sie geht nicht unter. Sie ist „capable“.
Beste Grüße
NO
Lieber NO,
Löschender "Zauberberg", ich gestehe es nicht zum ersten Mal, ist eines jener Bücher, die ich als Studentin lesen und interpretieren musste, die mir aber immer völlig gleichgültig geblieben sind. Wie eigentlich der ganze Thomas Mann. Das ist so - und anders als früher geniere ich mich nicht mehr deswegen. Als ich 17 war schwärmte mir BenHuRum schon von diesem Roman vor und ich versuchte mich dran. Und später immer wieder. Ich kann auch prima Seminararbeiten dazu schreiben - allein, es bleibt mir innerlich völlig öde dabei. Nie hat mich eine dieser Figuren berührt. (Vielleicht ist die Parallelisierung einer Geschlechtskrankheit mit einem lahmen Bein aber doch zu gewagt...???)
Mit dem Zinnsoldaten kann ich schon mehr anfangen, obwohl ich die Parallele zu "Corrie" noch nicht so ganz verstehe. Besteht denn je die Gefahr, dass Corrie umkommt/kränklich ist? Auf mich wirkt sie nicht leidend. Und sie ist nicht, glaube ich, "capable" w e g e n dieses Mannes, sondern in der Beziehung mit ihm. Sie entscheidet sich. Und - wie die ersten Versionen zeigen - diese Entscheidung ist durchaus ambivalent zu verstehen. Sie geht ein Risiko ein. Sie eröffnet ihm eine Option. Sie braucht ihn nicht. Sie will ihn. So zumindest lese ich das.
(Und da kommt wieder das Religiöse ins Spiel: Indem sie ihn will, akzeptiert sie das Böse in ihrem Haus und in ihrem Leben.)
Liebe Grüße aus einem kalten Amsterdam
M.
Viel Spaß in Amsterdam – wenn Sie noch da sind.
LöschenZiemßen war verwundet dort, meine ich mich zu erinnern, nicht krank. Oder vielleicht auch gar nicht er, sondern die Figur Ziemßen erscheint zum Abholen von Castorp am Bahnhof mit einem Kutscher, einem Kriegsveteran, am Bein verwundet, der hinkt stark – und wird interpretatorisch mit Ziemßen zusammengezogen. Also der eine, Ziemßen, hinkt abgeleitet (und stirbt krankheitsbedingt), die andere, Corrie, hinkt selbst, aber als Folge einer Krankheit, der Dritte, der Zinnsoldat, hat gleich gar kein Bein (und würde hüpfen, nicht nur hinken); das ist die textliche Verbindung. Dass Munro den Zauberberg gut kennt, wissen wir (beide) ja aus „Amundsen.“
Die Frage, ob Corrie leidend ist oder in Gefahr unterzugehen, ist eine poetische. Anders als die anderen beiden geht sie eben nicht unter, anders als die anderen beiden ist sie eben aber auch nicht allein. Das wäre dann die Variante zu Märchen und Roman, die Alternative, die Neu-Erzählung. Corrie wurde von dem Mann betrogen, wirtschaftlich und mit Blick auf Ritchies Ehe im Grunde auch in ihrer Beziehung, also jedenfalls (vom Leben) um das gemeinsame Zusammenleben (zusammen leben) betrogen. Aber es geht eben auch um Liebe bei den beiden. Insofern hätte es schlimmer kommen können. „When there could have been worse, much worse.“ Sie hätte krank werden (und sterben), sie hätte verbrennen, sie hätte sonst wie untergehen können. Aber sie ist „capable“ in der Beziehung zu dem Mann (das meinte ich mit „wegen“). Sie und Ritchie waren „as glad as we could be“
Man könnte auch allgemeiner fragen, welche Funktion das lahmende Bein von Corrie in dieser Erzählung überhaupt hat?
Was würde sich ändern, wenn die Frau hier nicht hinken würde, nicht von der Kinderlähmung gezeichnet wäre? Soll die Behinderung nur das „capable“ deutlich machen, weil sie Kränkung überwinden und Beziehung durch „richtiges“ Schweigen retten kann? Das ginge doch auch ohne?
Und ist es nicht erstaunlich, zwei Behinderungsgeschichten hinter einander in Dear Life? Was unterscheidet denn die Deformation Corries von der der Hasenscharte in der vorherigen Erzählung „Pride“?
Beste Grüße
NO
Lieber NO,
Löschenspannende Fragen - ich werde darüber nachdenken, sobald ich aufgewärmt bin. Es ist sooo kalt in Amsterdam ! (Ja, ich bin immer noch hier bzw. - von Ihnen aus - dort.)
Spontan fällt mir nur ein, dass ich gestern in der Hotelbroschüre über das Wort "Accessiblity Features" "stolperte", was einen ganz anderen Bedeutungshof hat als "behindertengerecht".
Auf sehr unterschiedliche Weise sind viel der Figuren Munros "gehemmt" oder "eingeschränkt" - der Mann in "Train" eben auch. Wie wir alle? Welchen Unterschied macht es, ob unsere "Behinderungen" von außen sichtbar sind oder nicht?
Erst mal "warm" werden. Ein Pott Tee. Vielleicht habe ich dann eine Idee.
Liebe Grüße
M.
Lieber NO,
Löschenje mehr ich darüber nachgedacht habe, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass Beschädigung, Behinderung, Krankheit Themen sind, die in vielen, vielleicht in allen Erzählungen Alice Munros eine Rolle spielen. Dabei ist eine entscheidende Differenz, ob die Beschädigung, die Behinderung "offensichtlich", d.h. sichtbar ist oder ob sie unsichtbar bleibt. Die Differenz drückt sich in den Formen aus, mit denen die Beschädigten (und tatsächlich sind dies in der einen oder anderen Weise tatsächlich alle) damit umgehen, also "capable" sind. Bei Munro geht es dabei weder um Normalisierung (also eine Therapie, die den/die Beschädigte angleicht an die Erwartungen an ein "normales" Sexualleben, Arbeitsleben, Familienleben), noch darum, die Beschädigung selbst als Normalität auszugeben, also die Differenz zu leugnen. Wer eine Hasenscharte hat, kann nicht leben, als hätte er keine. Wer ein lahmes Bein hat, wird sein Leben damit gestalten müssen - und eben nicht mit irgendetwas anderem. Die Krankheit/die Behinderung wird bei Alice Munro niemals zur Metapher! Das halte ich für wesentlich und es ist zweifellos ein Grund für meine Wertschätzung dieser Autorin und ihrer Texte. (Die Benutzung von Krankheiten/Behinderungen als Metaphern, darüber habe ich einmal geschrieben, lehne ich zutiefst ab. Das ist für mich durchaus ein Grund, ein Buch, einen Film, ein Bild zu ignorieren und einen Autor/eine Autorin, einen Regisseur/eine Regisseurin endgültig aus meinem "Kanon" zu streichen: Bürger zweier Reiche. Gegen die Krankheit als Metapher)
Corrie gleicht die Behinderung mit ihren Mitteln aus: mit Geld und Arroganz. Der Mann mit der Hasenscharte nutzt "Stolz und Vorurteil" :-). Wer eine Beschädigung hat, die sich verbergen lässt, kann sich für Flucht entscheiden (wie der Mann in "Train"). Jedes Mittel ist "recht" und jedes fordert einen Preis (ein religiöser Mensch nennt das Sünde). Was es jedoch nicht gibt, ist: "Gesundheit", Beschädigungsfreiheit, "Normalität" - einen gültigen Maßstab, an dem sich jede/r messen lassen muss.
Das gilt auch für die Geschlechterdifferenz: Maßstab für weibliche Freiheit/en ist nicht ein männliches Modell der Beziehungslosigkeit oder der Erwerbsarbeit als Synonym für "Unabhängigkeit". Männer und Frauen bei Munro sind "geprägt" und dennoch eigenwillig. Mensch zu sein bedeutet in diesen Erzählungen, Schulden zu machen ("sündig" zu werden). Sich aus Abhängigkeiten lösen, ist keine Garantie für Glück, in ihnen zu verharren eben so wenig. "Glad as could be". (Die Differenz zu "happy" - "Glad" ist nicht steigerbar. Aber auch zufälliger. Momentan. Vergänglich. Kein Zustand.).
Der Blick, den Munro in den letzten, den autobiographischen Texten des Bandes auf das Mädchen wirft, das sie war, ist nicht weniger scharf ausgeleuchtet, als jener, mit dem sie ihre fiktiven Figuren, betrachtet. Die Differenz zwischen dem, wie wir gesehen werden, wie wir gesehen werden wollen und wie wir uns selbst sehen, bleibt unauflöslich. Keine kann aus ihrer Haut. Die ist ein Schutz - und eine Zwangsjacke.
Aber das ist nun wieder viel zu allgemein, um etwas über die Erzählungen Munros zu sagen, die eben nie allgemein und verallgemeinernd werden, sondern das Besondere, das Eigensinnnige, das Kontingente und Unerwartete darstellen.
Viele Grüße
M.
Jede Figur bei Munro trägt eine Verletzung, sichtbar oder nicht. Ja, liebe Melusine, das ist wohl so und lässt sich wohl entsprechend verallgemeinern, meine ich. Und damit dann wohlmöglich ein Teil der kirchlichen-christlichen Beziehungen, die, wie Sie zu Recht feststellen, in jeder Geschichte der Munro eine Rolle spielen: Jeder trägt seine Verletzungen. Zeig‘ mir Deine Wunde! Das Kreuz. Jeder von uns ist Kapitän Ahab. Auch der übrigens gezeichnet mit einer Verletzung am Unterleib.
LöschenWas mir nicht ganz klar einleuchtet, Miss MB, ist, dass Sie der Figur der „Corrie“ ein „capable“ attestieren, die Dame also insgesamt positiv sehen, dem Jungen mit der Hasenscharte das Fertigwerden mit der Behinderung, das Tragen-Können, mit schlechten Stolz belegen und ihn negativ sehen („Hass“ etc.).
Es fragt sich übrigens auch, ob man Howard Ritchie nicht negativ sehen muss. Ich tue das zwar nicht, weil ich es für Liebe halte, was dort auch mit ihm passiert, aber mir fällt sein sprechender Name auf: Der kleine Reiche, nicht groß-reich wie Corries Vater, „richy“, nicht „rich“. Und das (auch – er arbeitet ja auch als Architekt) erreicht durch Betrug (eher als Erpressung): Im Namen „Howard Ritchie“ klingt How-Art-Rich“ mit, als hätte Arno Schmidt hier mitgeschrieben und unter der Wortoberfläche so etwas wie „Die Kunst, reich zu werden“ oder „Wie werde ich reich?“ eingewoben.
Jedenfalls findet Ritchie am Anfang ja vernichtende Assoziationen für das, was aller Voraussucht nach mit diesem rich kid, dem unbedarften Mädchen, passieren wird: „Some creepy fortune hunter was bound to snap her up, some Egyptian or whatever“ – und Ritchie ist dieses „Whatever“, oder: „Of coruse, there was money [wenn Mann Corrie heiratet , and to some men that never became tiresome.“
Aber er, so lese ich das, ist eben nicht angeödet, auch nach Jahren nicht und auch nicht, als der Geldfluss abreißt, denn ich lese den Satzteil „be glad“ in seinem Brief am Ende der Geschichte als eine Kurzform von: „We schould be glad.“
Beste Grüße
NO
- Und Frohe Ostern
Sie haben zu Recht in Ihrer Besprechung, liebe Melusine,
Löschenden Perspektivenwechsel in der Mitte der Erzählung herausgearbeitet, wo die Perspektive des Mannes – vermittelt und überbrückt durch eine Passage im Passiv – auf die Perspektive der Frau wechselt.
Welche Funktion hat das?
Erzähltechnisch ist der Perspektivenwechsel deswegen brillant, weil er die Autorin Munro davon befreit, dem Leser offen zu legen, dass es die vermeintliche Erpressung gar nicht gibt. Denn das weiß nur Howard Ritchie – und aus dessen Sicht wird nun nicht mehr geschildert, sondern aus der Sicht der Frau, die – wie der Leser – nichts weiß. Munro betrügt den Leser, denn sie gibt eine Information nicht preis, die sie bei fairer Behandlung dem Leser hätte offenbaren müssen. Der Leser-Betrug ist nur durch diesen Trick mit dem Perspektivenwechsel möglich. Brillant ist das, weil der Leser in der Wirklichkeit durch diesen Trick genauso getäuscht und betrogen wird wie Corie in der Geschichte. Das nenne ich einen glänzenden Gleichlauf von Form und Inhalt!
Aber das allein kann es noch nicht sein. Munro hätte ja auch die Erzählung von Anfang an aus der Perspektive der Corrie schildern können, dann hätte es des Leser-Betrugs nicht bedurft. Deswegen hat es möglicherweise auch die Funktion, das Wachsen, das Erwachsenwerden der Corrie, die Bewusstseinswerdung der weiblichen Figur zu demonstrieren. Nicht mehr Mädchen, sondern Frau, nicht abhängig, sondern auf eigenen Füssen (mögen diese auch noch so hinken). Nicht mehr nur Anhängsel (Tochter von Vater, Geliebte von Ehemann), sondern selbstständig denkende und handelnde Figur. Sie ist Identifikationsobjekt des Lesers geworden.
Beste Grüße
NO
- Und findig sein morgen!!
Lieber NO,
LöschenIhnen auch: FROHE OSTERN!
Interessant, nicht wahr, dass auch diese Geschichte mit "glad" endet. "Dear Life" gelingt nicht als oder durch "pursuit of happiness", sondern durch und in der Einstellung: "be glad".
Zu Ihren Fragen: Der Mann mit der Hasenscharte verstört mich mehr als Corrie. Das soll kein moralisches Urteil sein. Die Geschichte ist nur stärker noch als die andere mit religiösen Untertönen versehen. Und der "Stolz" gilt nun mal als eine, in mancher Theologie auch als d i e Todsünde. Es greift mich mehr an, weil es meine eigenen Schuldgefühle, tief eingeschrieben durch eine religiöse protestantische Erziehung, berührt. Den Eindruck "Hass" bzw. den tiefer Menschenfeindlichkeit leitete ich aus jener zitierten Passage her, die die Genugtuung des Mannes mit der Hasenscharte über den Schiffsuntergang und das Massensterben, das alle "gleich" mache, darstellt. Der Stolz ist ja eben jene Sünde, die die Einzigartigkeit des Anderen bestreitet und durch die alle anderen "gleich" oder gar "gleichgültig" werden, "Masse" halt. Ja, das ist mir sowohl unsympathischer als Corries Arroganz, Trotz und Unwissenheit, wie auch -durchaus selbstkritisch - vertrauter. Denn es ist das ein Gestus, den ich aus dem "linken", intellektuellen Milieu nur zu gut kenne, das Herabschauen auf die "Masse" und die mehr oder weniger klammheimliche Freude über Krisen und Katastrophen. Ich glaube zumindest, dass meine Abwehr gegen diese Figur damit zu tun hat.
Gegen Corrie oder Howard als Figuren dagegen spüre ich eine solche Abwehr nicht. Vielleicht weil sie mir fremder sind? Oder auch weil weder die eine noch die andere moralische Frage (Ehebruch bzw. Betrug mit Geld) mich persönlich berührt. Ich empfinde diese Themen als weniger existentiell als einen Lebensentwurf, der nur durch Stolz aus- und zusammen gehalten werden kann. (Wie ich ja ohnehin finde, dass oft - nicht von Munro, zum Glück! - zu viel "fuss about sex" gemacht wird. Viele existentielle Konflikte haben wenig oder gar nix damit zu tun. Sex ist ganz offenbar zwischen Howard und Corrie gar kein Problem. So wenig wie zwischen dem Ehepaar in "Haven". Und für den Mann in "Train" ist zwar Sex das Problem, aber es wird nur durch die anderen zu einem für ihn. Der Verzicht darauf ist für ihn selbst offenbar unproblematisch.)
Dennoch glaube ich, dass man "Corrie" auch ganz anders lesen könnte. Wie ich schon andeutete, könnte man eine Interpretation der Erzählung sicher auch über eine Analyse der beiden Gespräche am Anfang (Vater und Howard über Corrie) und Ende (Arbeitgeberin und Corrie über Lillian) entwickeln. Dann ginge es weniger um eine Liebesbeziehung, als um gesellschaftliche Konstellationen, durch die ledige Frauen am oberen und unteren Ende der Einkommensskala isoliert werden bzw. dazu neigen, sich selbst zu isolieren.
Herzliche Grüße
M.
PS. Zu dem zweiten Teil Ihres Kommentars (den ich grade erst sehe; es ist momentan ganz schlimm mit den vielen Spam-Kommentaren, die für irgendwelche Bestell-Produkte werben und die ich erst aussieben muss):
LöschenDorothy Sayers schrieb mal:"Jeder Dummkopf kann Lügen erzählen, jeder Dummkopf kann sie glauben; aber die richtige Methode ist, so die Wahrheit zu sagen, dass der intelligente Leser dazu verleitet wird, sich selbst eine Lüge vorzusetzen. Dass die Autorin selbst eine dicke Lüge auftischen soll, widerspricht allen Kunstregeln." Genauso sehe ich das auch. Eine Autorin, die mit der Erzählstimme Lügen vorträgt, um irre zu führen (also: falsche Jahreszahlen, Altersangaben, Uhrzeiten Haarfarben etc.), deren Text les´ ich einfach nicht weiter. Punktum. Das ist zu billig. Es kommt schon drauf an, es so zu erzählen, dass nicht gelogen werden muss. Eben z.B. durch einen Perspektivwechsel. Oder, ein Beispiel, das Sayers gibt: Eine Autorin darf schreiben: "Die Uhr schlug zehn." Aber nicht: "Es war zehn Uhr.", wenn es nachher in der Geschichte darauf ankommt, dass es n i c h t zehn Uhr war, sondern elf. Dann kann sich nämlich herausstellen, dass vergessen wurde, die Uhr auf Sommerzeit umzustellen. :-).
Das Thema interessiert mich sehr, weil es mich viel Mühe gekostet hat, in meinem Roman PUNK PYGMALION, in dem es auch einen solchen Perspektivwechsel gibt (zweimal und es ändert sich jeweils dadurch die komplette Bedeutung der vorigen Erzählung) beim Überarbeiten genau darauf zu achten, dass keine Lügen erzählt werden, z.B. in dem der Bezug von Personalpronomen unklar bleibt. Leser_innen dagegen, in den Worten Sayers, für dumm verkaufen, das wollte ich unbedingt vermeiden. (Vgl. Hier "Betrug" ist daher nach meiner Meinung das falsche Wort dafür. Betrügen kann jede/r. Manche nur geschickter als andere. Literaten, die direkt lügen, verraten aber ihre Leser_innen. So etwas ist von eine Meisterin wie Alice Munro nicht zu erwarten. Sie betrügt nicht. Sie zeigt den Leser_innen viel mehr, dass und wie sie oft sehr oberflächlich lesen. Und sie verleitet dazu - wie bei jeder ihrer Geschichten - alles mehrfach zu lesen, um zu prüfen, was wer wirklich gesagt hat.
Über die "Emanzipation" weiblicher Figuren werden wir uns wohl nicht mehr einigen können. Für mich ist "Emanzipation" als Synonym für "unabhängig werden" ohnehin keineswegs erstrebenswert. Sondern bloß (überwiegend männlich konnotierte) Hybris. Corrie ist weiterhin abhängig (und zwar völlig, ohne das wäre sie Nichts!) vom Geld des verstorbenen Vaters und der Zuwendung Howards. Dafür ist sie bereit zu schweigen. Eine Frau, die sehr viel eigenes Geld hat und in einer patriarchalischen Gesellschaft lebt, - ihr Vater hat das gut erkannt -, wird immer einsam sein. (Diese Einsamkeit, Corries Unwissenheit über die gesellschaftlichen Verhältnisse in dem Ort, in dem sie ihr ganzes Leben verbracht hat, wird am Ende noch einmal sehr deutlich gezeigt). Sie hat Howard gefunden und zahlt dafür einen Preis. Sie zahlt nicht für Unabhängigkeit, sondern für Bindung. Wie die meisten Menschen. Nein, ich sehe kein Problem darin, irgendjemandes "Anhängsel" zu sein. Schlimmer, viel schlimmer, wenn man zu stolz ist, sich seine Abhängigkeit und seine Schwäche einzugestehen.
Nicht, dass wir uns missverstehen: Munro lügt nicht. Sie greift zu einem Trick, dem Perspektivenwechsel. Trickbetrügerin. Ich meinte das nicht negativ, eben weil sie ja nicht lügt. Es ist vielmehr großartig konstruiert. Betrug möchte ich es weiter nennen, weil der formale Betrug es so wunderbar harmoniert mit dem inhaltlichen Betrug der Figuren. Diese Parallelität finde ich noch genialer als die Technik des Perspektivenwechsels. Ich bin sozusagen begeistert.
LöschenIn der poetischen Bewertung Corries sind wir in der Tat uneins. Corrie ist abhängig von Howard, weil sie die Beziehung will. Man könnte sagen, weil sie nicht einsam sein will (wie Ziemßen, Zinnsoldat und Ahab). Man könnte aber auch sagen, weil sie ihn liebt. In meiner Lesart der Geschichte gilt das aber auch andersherum für Howard. Wegen dieser Gleichgelagertheit zahlt sie nach meiner Lesart nun, da der Betrug offenbar geworden, nicht mit Schweigen für die Bindung. Sondern nun ist es eine Entscheidung. Das nenne ich Unabhängigkeit. Auf Augenhöhe (was Sie auch nicht so mögen, ich weiß). Und in die ist sie hineingewachsen, das finde ich schon.
Man kann das trotzdem „zahlen“ nennen. Man zahlt für Bindung, sehr schön haben Sie das gesagt. Aber es zahlen beide. Auch hier, jedenfalls ab jetzt. „Schlimmer, viel schlimmer, wenn man zu stolz ist, sich seine Abhängigkeit und seine Schwäche einzugestehen“, das haben Sie auch sehr schön gesagt. Und das geht weit über diese Geschichte hinaus. Weswegen wir hier über große Literatur reden. Aber unabhängig davon: Ist das „all well now“ nicht das (Ein-) Geständnis der Schwäche zum Geld haben wollen?
Beste Grüße
NO
Lieber NO,
Löschenwas Howard angeht, bin ich ganz bei Ihnen. Er nimmt das Geld und er liebt Corrie. Das muss kein Gegensatz sein. Auch für die Ehefrau, die er "betrügt", sorgt er ganz offenbar gut - mit dem Ferienhaus und der Reise nach Spanien und indem er ihr politisches Engagement, das ihm wohl recht fremd ist, akzeptiert. Es geht eben nicht um diese simple Dreieckskonstellation hier, wie man es schon tausendmal gelesen hat, um Eifersucht und/oder "wahre Liebe". Es geht darum, dass das "eigentlich" Unvereinbare (die Schwäche für Geld und die Liebe, die Arroganz und die Liebe, das Bezahlen und die Liebe, das Verschweigen und die Liebe) zusammen gelebt werden müssen, damit überhaupt Liebe lebbar wird. Denn "rein" ist sie nicht zu haben. Nicht in "Dear Life".
Mit Ihrer Definition von Unabhängigkeit als Entscheidung(sfreiheit) kann ich schon mehr anfangen. Gleichwohl entscheiden wir uns immer unter Zwängen oder anders ausgedrückt - aus Abhängigkeiten. Daher erscheint mir das Wort "Unabhängigkeit" so unangemessen, weil es die Freiheit nicht als eine Möglichkeit ausdrückt, sich zu binden bzw. die eigenen Gebundenheit anzuerkennen (und damit sich), sondern der Illusion Vorschub leistet, Freiheit bedeute, sich aus Abhängigkeit zu lösen.
Ich denke, Alice Munro wirft einen sehr scharfen und auch schonungslosen Blick darauf, in welche Formen von Abhängigkeit männliche und weibliche Personen verstrickt sind. Dass heterosexuell orientierte Frauen in unserer Kultur häufig Männer, die sehr selbstbezüglich sind, als attraktiv empfinden (so ähnlich hat sie das, glaube ich in einem Interview mal formuliert), wird von ihr weder befürwortet, noch einer emanzipatorischen Kritik unterworfen. Sie beobachtet einfach genau, wie sich dies auf das Beziehungsgefüge auswirkt. Dabei kommen Frauenfiguren oft nicht gut weg, weil sie dazu neigen, sich klein zu machen, zu unterwerfen, anzupassen. Männer kommen aber auch nicht gut weg, weil sie diese Struktur egoistisch auszunutzen und weil sie häufig gefangen bleiben in ihrer Idee von Unabhängigkeit, die sie stolz, unnahbar, einsam macht und zu Fluchtreflexen und Vermeidungsstrategien führt Dennoch gibt es bei Munro auch Partnerschaft zwischen Männern und Frauen, die gelingt; vielleicht öfter dann, wenn beide von den in unserer Kultur vorherrschenden Mustern ein wenig abweichen: Frauen egoistischer sind und Männer fürsorglicher/bindungsorientierter (wie der Ehemann in "Leaving Maverly". :-). Aber das ist natürlich maßlos vereinfacht!
Für mich ist darüber hinaus besonders spannend, wie genau, wie gleichfalls schonungslos und differenziert, Munro Beziehungen zwischen Frauen (zwischen Nachbarinnen, Müttern und Töchtern, Kolleginnen etc.) zeigt. Denn das sind Beziehungen, die in der Literatur, die männliche Autoren schreiben, fast gar nicht vorkommen. (Ist ihnen das schon einmal aufgefallen?) Deren Bedeutsamkeit und Vielfalt jedoch in einem weiblichen Leben kaum überschätzt werden kann. Aber das ist vielleicht eine Ebene der Lektüre, die für einen männlichen Leser weniger interessant ist. (?)
Liebe Grüße
M.
Ich bin natürlich nicht auf Ihrer beider Höhe, weil ich "Dear Life" noch nicht gelesen habe und damit auch "Corrie" noch nicht, aber es gefällt mir einfach diese Diskussion über eine Munro-Erzählung hier. Auch mit welcher Intensität das Original von ihnen beiden gelesen wird. Wie schon gesagt ich lese gerade "Runaway" noch einmal in Englisch und gerade bin ich auf Seite drei über eine Auslassung eines Four-Letter-Words in der Übersetzung gestolpert. Irgendwie hätte ich Munro eine so drastische Sprache gar nicht zugetraut. Es heißt dort von einem Ehemann, dass er bei jeder Kleinigkeit bereits in die Luft geht. Danach charakterisiert ihn sein männlicher Sprachgebrauch und auch seine Unbeherrschtheit.
AntwortenLöschenIm Original heißt es:
"You flare up," Carla said.
"Thats what men do."
She had not dared say anything about his row with Joy Tucker, whom he now referred to as Joy-Fucker.
Im Deutschen wird das ziemlich zensiert und zu dem schlichten Satz reduziert, der eigentlich auch mehr verschluckt, dass sie es einfach nicht wagt (dare) zu sagen:
"Sie hatte nichts zu seinem Streit mit Joe Tucker gesagt.
Eigentlich sind doch die Amerikaner mehr für ihre Prüderie bekannt, wie es bei den Kanadiern ist weiß ich gar nicht. Hier bereinigt aber die deutsche Übersetzerin.
Ich weiß, dass es nicht unbedingt hierher gehört, aber was bei einer Übersetzung so alles verloren geht, in diesem Fall nur ein blödes Schimpfwort, aber Munro macht also auch bei der Sprachdarstellung keine Konzessionen.
Ich wünsche weiter spannende Lektüre und einen ebenso spannenden Gedankenaustausch.
Danke! Und Ihnen auch! (Spannende Lektüre!)
LöschenInteressant, diese "Entdeckung" der Prüderie der Übersetzung. Ich habe keine deutsche Version. Seit es so viel leichter geworden ist, an englischsprachige Originale zu kommen, lese ich so gut wie keine Übersetzungen aus dem Englischen ins Deutsche mehr. Früher konnte man sich ja bestenfalls in den Bahnhofsbuchhandlungen der Großstädte oder am Flughafen eindecken mit Originalen Ich bin allerdings zum ersten Mal erst geflogen, da war ich schon über 20), deshalb hatte man sich an die Übersetzungen gewöhnt.
Meine Eltern freundeten sich Ende der 70er mit einem niederländischen Paar an und wir waren erstaunt, wie gut deren Kinder Englisch verstanden und sprachen. Bis sie uns erzählten, dass in den Niederlanden all die Serien und Filme, die auch wir liebten, nicht synchronisiert wurden. Schade, dass in Deutschland der Brauch der Synchronisation so fest sitzt. Aber immerhin gibt´s heutzutage die DVDs. :-) (Apropos: Downtown Abbey - oops, das war aber ein Schock, das Ende vom letzten Weihnachts-Special. Hat mir nicht so gut gefallen, insgesamt, wie die Serie bisher. Dennoch hoffe ich auf eine Fortsetzung.)
Vielleicht schreckt mich das Angewiesensein auf Übersetzungen davon ab, mehr italienisch-, spanisch-, portugiesischsprachige Literatur zu lesen. Oder ich schütze das vor. Um andere Gründe zu verbergen: Cold blood. Cold climate. Schlangenfrau. ???
Liebe Grüße
M.
Lieber Herr Bücherblogger,
Löschenes mag die Auslassung bzw. Umübersetzung der Übersetzerin in d i e s e m Falle schlicht damit zusammenhängen, dass sich im Deutschen der Reim Tucker-Fucker nicht nachstellen lässt und deswegen auch die Gedankenassoziation der Caral-Figur nicht deutlich gemacht wrden kann. Ich bin mithin nicht sicher, ob es sich hier jetzt wirklich um Prüderie handelt.
Ich kann mich an einen Inspector Lynley-Crimi erinnern, in dem eine (mordverdächtiger)Liehaber im englsichen Original Troutman hieß und deswegen in der geheimen Korrespondenz mit der Zeichnung einer Forelle unterschrieb bzw. angesporchen wurde. Da das im Deutschen nicht funktioniert, hatte der deutsche Übersetzer den gentleman im deutschen Buch "Herington" genannt - so dass die Anrede per Zeichnung eines Herings im Deutschen nachvollziehbar wurde.
Das aber dürfte hier bei AM nicht so einfach funtioniern und wegen der literarischen Höhe auch unzulässig sein.
Beste Grüße
NO
Lieber NO,
Löschensicher ist die Unübersetzbarkeit des Wortspiels ein Beweggrund der Übersetzerin gewesen, es auszulassen. Man muss aber nicht um jeden Preis eindeutschen, weil der englische Ausdruck "Fuck" bei unserer ohnehin von allen möglichen Anglizismen durchsetzen Alltagssprache gar nicht mehr als Fremdkörper verstanden würde, also auch nicht übersetzt werden müsste. Meine Übersetzung hätte an dieser Stelle textgetreu so ausgesehen:
Sie hatte nicht gewagt, etwas zu seinem Streit mit Joy Tucker zu sagen, von der er jetzt nur noch als Joy-Fucker sprach.
Der Kontext, in dem dies gesagt wird, ist ja auch für den deutschen Leser schon geographisch und sprachlich eindeutig. Guelph wird an einer Stelle genannt, also ein Ort in der Nähe dieser kanadischen Stadt südwestlich von Ontario.
Ganz herzliche Grüße
Der Buecherblogger
PS. @Melusine/Runaway: Ich vermisse einen Kommentar von mir zum Symbol der Ziege, untergegangen?
Sorry, dass der Kommentar noch nicht freigeschaltet war. Momentan habe ich täglich über 20 Spam-Kommentare, die ich prüfen und weg löschen muss; das meiste davon peinliche Werbung für irgendwelche Pharmaka etc.
LöschenMacht überhaupt nichts! Ich insistiere auch nicht auf Symboldeutungen. Wichtiger scheint mir die Tatsache, dass eine Erzählung zwar unterschiedliche, aber letztlich doch begeisterte Leserreaktionen evozieren kann. Es wäre doch auch schrecklich langweilig, wenn Männer und Frauen völlig gleich lesen würden. Nur die gleichgeschaltete Masse liest sich gegenseitig das immer Gleiche vor.
LöschenZiehen Sie sich warm an, damit Sie gesund zurück kommen. Im Garten hier frieren und schaukeln sogar die bunten Ostereier im kalten Ostwind an den Sträuchern und wärmen sich hoffentlich gegenseitig.
Ja, die Fähigkeit Munros in eine 40seitige Erzählung so viele mögliche Sichtweisen einzuschließen und dabei zugleich so präzise und klar zu erzählen, ist bewundernswert. Mir gefällt vor allem auch, dass diese Erzählungen alle zeitlich und örtlich gebunden sind und zugleich zeitlose/ortlose Gefühls- und Verhaltensweisen darstellen. Auch aus dieser Spannung lassen sich immer wieder neue Deutungen herleiten. Und natürlich gefällt mir, dass ihr Figurenrepertoire nicht auf Intellektuelle oder "Clerks" beschränkt. Sie kommen vor, aber sie sind nicht zentral. Immer wieder wird von Menschen erzählt, die etwas mit ihren Händen schaffen (müssen). Auch die Schriftsteller (so welche vorkommen sind sie meist männlich und schreiben keine Erzählungen, sondern Poesie; sonderbar - oder?), von denen sie erzählt, werden weniger beim Schreiben gezeigt als beim Holz hacken. Auch das halte ich für eine Stärke Munros: Dass sie Erzählungen schreibt, die nicht vom Schreiben erzählen und nicht - ausschließlich oder überwiegend - von Menschen, die schreiben. Schreiben ist nichts Besonderes in Munros Welt, sondern eine mögliche und im Übrigen von den meisten ihrer Figuren wenig beachtete Tätigkeit. (Das empfinde ich als herrlich entspannt, gerade wenn ich die an den überkandidelten Diskurs über Autorschaft etc. in Kontinentaleuropa denke.)
Löschen---Ich versuche, mich warm anzuziehen. Aber so arg, wie dieser verdammte Wind durch die Grachten fegt, reicht´s vielleicht nicht, dass ich zwei Schals um den Hals binde.
Liebe Grüße
M.
AntwortenLöschenZum ersten Mal in diesem Buch hat mich eine Geschichte wirklich ergriffen. Bewegt.
Zum ersten Mal musste ich eine Story unbedingt weiterlesen, wie Oscar Wilde, der, in der Literaturprüfung den Romantext vorlesend, seine Professoren, die das Weiterlesen unterbrechen wollen, abwehrte mit den Worten, er könne jetzt nicht aufhören, er wolle wissen, wie die Geschichte weitergehe.
Diese unsere Geschichte ist in 2 Hälften geteilt, fast eigenständig nebeneinander erst das Leben auf der Farm und dann das Lebens als Hauswart. Formal zusammengehalten durch die Klammer des Zugs: Am Anfang springt der Mann ab, am Ende springt er auf. Inhaltlich zusammengehalten durch das Verlassen des Zuges vor dem Ziel im ersten Teil und das Nachliefern der Erklärung dafür im zweiten Teil. Kindesmissbrauch in beiden Teilen, im ersten nur im Kopf, im zweiten nur angedeutet. Die daraus folgende Asexualität in beiden Teilen.
Der Zug als Symbol der dauernden Bewegung, der Rastlosigkeit, der Ruhelosigkeit, der Heimatlosigkeit, des immer wieder neu Anfangens. Die Eindampfung von vergehender Zeit, die unmerklichen Zeitsprünge, die Alice Munro elegant unterzujubeln in der Lage ist. Die Vorwegnahme eines Todes durch den Abtransport eines Todkranken. Die Überraschung des männlichen Erzählers, dass eine auftauchende Frau die Mutter einer ehemaligen Mieterin ist, anschaulich gemacht durch die Überraschung des Lesers, der erfahrt, wie gut der Mann jene Mutter in seinem früheren Leben gekannt hatte. Das Spielen mit Namen, welches den Leser anfangs im Unklaren lässt, ob eine neu auftauchende Figur eine Kuh ist oder ein Mensch.
Ein großes Stück Literatur!
Beste Grüße, Melusine!
NO
(Anmerkungen zu „Train“, aus: „Dear Life“, Alice Munro)
Lieber NO,
Löschenweil ich gerade für Geld arbeite (eine ziemlich diffizile Arbeit mit einem mir noch recht unbekannten Programm, mit dem sich Comics erstellen lassen), kann ich nur knapp antworten. (Außerdem will ich heute Nachmittag noch an einem Text über die sechs ersten publizierten Romane von Barbara Pym weiterschreiben.)
"Ergriffen" hat mich die Erzählung "Train" von Alice Munro nicht. Auf der Gefühlsebene lässt sich mich, wie sagt man?, kalt. (Auf dieser Ebene beschäftigen mich "Amundsen" oder "Pride" wesentlich mehr. So verschieden sind die Leserinnen und Leser. Wie die Menschen :-).) Aber es ist eine großartig erzählte, komponierte Geschichte. Die Stelle, als er aus dem Zug springt und in Munros Sätzen beinahe seine ganze Geschichte vorweg genommen wird: "He takes his chance. A young man in good shape, agile as he´ll ever be. But the leap, the landing disappoints him. He´s stiffer than he´d thought, the stillness pitches him forward, his palms come down hard on the gravel between the ties, he´s scraped the skin. Nerves." The landing disappoints him .....
Die für mich interessanteste Stelle in der Erzählung war jedoch jene, als er bei den Mennoniten arbeitet, die als einzige erkennen, wer oder wie er ist: "He was pleased to know that he could satisfy both sets of parents. They could see that nothing was stirring with him. All safe."
Alle anderen begreifen das nicht, ignorieren es, leugnen es oder sehen es wirklich nicht (wie wohl die ignorante Belle oder auch die ehemalige Verlobte). Aber diese Frömmler erfassen es sofort. Und akzeptieren es. Ohne Worte. "All safe."
(Nur wortlos ist eine oder einer bei Munro "sicher"; ist Ihnen das schon mal aufgefallen? Alles, worüber man reden kann oder sogar muss, ist unsicher. Auch das gefällt mir so an ihren Erzählungen: Sie schreibt auf die Grenze des Sagbaren zu und sie lässt uns erkennen, dass das Wesentliche ungesagt bleiben kann und muss. Gegen die Hybris einer sprach- und textfixierten Gesellschaft, sozusagen. Und sie verzichtet weitgehend auf Metaphern. Das Doppelbödige, Vielschichtige ergibt sich nicht aus einem übertragenen Sinn, sondern aus dem erzählten Geschehen selbst: Ein Mann springt aus einem Zug, weil er eine Begegnung vermeiden will/muss. Die Notwendigkeit der Vermeidung i s t sein Leben, wie sich ihm und uns immer wieder zeigt.)
Viele Grüße
M.