Freitag, 8. März 2013

O mein OPA (1974)

Wie er mich liebte, war ein Geschenk, mit dem eine nicht rechnen darf. Es war nichts selbstverständlich daran. Er hieß die Großmutter eine blaue Schürze in meiner Größe schneidern, die seiner glich, und hängte sie an einen Haken in seine Werkstatt. Er schimpfte mit mir, wenn ich die Kante nicht senkrecht hobelte. Er zeigte mir, wie man die Laubsäge richtig ansetzt. Am Sonntag putzte er mir die schwarzen Lackschuhe und bewunderte die rosa Schleifen in meinem Haar. Er hatte drei Enkel und eine Enkelin. Er fragte immer nach mir; ich stand nie außen vor. Er hob den Gregor auf seinen Schoß und ließ ihn zwischen seine Beine plumpsen. Holla!, dass der Gregor schrie. "Hoppe hoppe Reiter." "Und jetzt du!" "Mich kriegst du nicht dran." Ich petzte die Lippen zusammen und sah ihm fest in die Augen. Holla! Geschafft, nicht gekrischen! 

An seiner Hand schlich ich durch den Hochwald zum Hochsitz hinauf, um das Rotwild zu belauschen. (Er hat nie ein Gewehr besessen.) Wir legten die Ohren an, wie er sagte, und schwiegen lang. Auf der Böschung käute der Hirsch. Die Kühe beugten ihre Hälse ins Gras. Später, auf dem Rückweg, pflückten wir Maiglöckchen, die seine Lieblingsblumen waren (und noch immer die meinen sind). Wir versenkten unsere Nasen in den sanften Duft der zierlichen, weiße Kelche. Wenn ich die Augen schließe und mich ganz auf meinen Atem konzentriere, kann ich diesen Geruch, so zart und frisch, jederzeit schnuppern. 

Ohne ihn aber bin ich nie mehr gern früh aufgestanden. 

Zum Frühstück vertilgte er riesige Mengen gebratenen Speck, von dem ich mir was abzupfte. Ich kletterte auf seinen Schoß, strich über seinen üppigen Bauch und sagte: "Opa, was bist du dick." Er lachte. "Wenn ihr nur nie mehr hungern müsst." 

Er wünschte mich nicht als sein Ebenbild zu erschaffen und er suchte in mir keine Ergänzung. Er liebte mich, wie ich war, mit meinen blonden Locken und meinen zerschorften Knien, in meinen Frotteekleidchen und meinen Lederhosen. Er traute mir viel zu und war stolz auf mich wie Bolle, wenn ich den Nagel grade eingeschlagen hatte. Auf meinen Papa blieb er immer ein wenig eifersüchtig, wenn der mich abends abholte und "Hexlein!" rief. Er hat mich nie "wie einen Jungen" behandelt. Er hat mir niemals gesagt: "Das tut ein Mädchen nicht." Er war, was ich nie sein würde, und freute sich an dem Unterschied. 

Was für eine Liebe soll das sein, die den anderen identisch machen will? Und was für eine, die nur liebt, worin sie sich selbst erkennt? Und was für eine, die die Andere nach ihrem Bilde formen will? Und was für eine erst, -  die keinen Unterschied kennt? 

Er war verschlossen, nachtragend und stur. Wenn er verletzt wurde, zeigte er eine kalte Schulter. Er mochte sich nicht entschuldigen, wenn er einen Fehler gemacht hatte und wusste oft alles besser. Er schleppte seine Ängste, seine Wut und seine Trauer als wetterfest verpacktes Bündel mit sich herum und ließ keinen da ran. Er war dünnhäutig und kaltschnäuzig. Ich wusste nicht, was ich an ihm hatte, als ich ein Kind war. Dass Großväter gleichgültig sein können, abwesend, lieblos ahnte ich nicht. Später sah ich bei mancher Freundin den Vater wie einen Pensionsgast im eigenen Haus ein- und ausgehen. Oder ich lernte Tyrannen kennen, die von ihren Frauen und Kindern gehasst und betrogen wurden. 

Er starb, bevor ich eine Frau wurde. Aber er hinterließ mir die Gewissheit, dass ich es sein konnte und gerade so, wie ich wollte. Auf seinem Sterbebett verlangte er, mich zu sehen. Sie hatten mir nicht die Wahrheit gesagt, weil der Tod für Kinder nichts ist, wie sie glaubten. Er ließ mich nicht im Zweifel, dass es mit ihm zu Ende ging. (Er nahm mir zuletzt noch ein Versprechen ab, dass ich gehalten habe.) Der sterbende Mann war schmal, wie ich ihn nie gekannt hatte und glich auf einmal wieder dem Mann auf den wenigen Fotografien, den Emma, die Mutter meiner Mutter, die schon so lange tot war, geliebt hatte. Ich kann mich nicht an alle seine Worte erinnern, aber daran, wie es roch in diesem Zimmer, so süß und säuerlich, wie nach ganz leicht verfaultem Obst, gemischt mit Seifengerüchen und dem Dampf von Kamillentee. Kein Hauch von Sägespäne. Er war schon fremd geworden, so eingebettet in die weißen Tücher und hochgeschichtet auf die dicken Kissen, damit er mir ins Gesicht sehen konnte. Ich saß auf der Kante und hielt seine Hand. "Ich sterbe", sagte er und "Ich will dir ´Adieu´ sagen." Ich glaube nicht, dass ich in diesem Moment verstand, was er meinte. Aber ich fühlte mich geliebt und geehrt, weil er mich hatte rufen lassen. Das war ihnen nicht recht gewesen, doch sie wagten es nicht, dem sterbenden Mann die Bitte abzuschlagen. Sie wollten uns Kinder vor dem Anblick des dahinsiechenden Mannes schützen, der unser Großvater war. Sie trauten uns nicht zu, die Wahrheit zu ertragen, die sie doch nicht würden ändern können. 

Ich hatte sie in der Küche miteinander streiten hören, wie sie es machen sollten und wie lang das Kind allerhöchstens drin bleiben sollte. Seit Monaten, seit er in die Klinik gebracht worden war, wo wir ihn zwar besuchten, ich aber niemals mehr mit ihm allein sein konnte, wie früher in der Werkstatt oder im Stübchen, wenn wir zusammen Radio hörten, hatte ich ihn vermisst. Nachdem sie ihn zum Sterben nach Hause holten, war es mir nur einmal erlaubt worden, ins Krankenzimmer zu kommen. Fahl und schwach hatte er auf dem Kissen gelegen und mir nur sacht zugelächelt, als die Mama mich für einen kurzen Augenblick mit dem Gregor ins Zimmer geführt hatte. Doch nun mussten sie mich reinlassen zu ihm, weil er es forderte. Von der Großmutter, die mich zu ihm vorließ, verlangte er auch  noch: "Mach die Tür zu." und da mussten sie uns sogar allein lassen miteinander.

Ihre Befürchtungen wurden bestätigt. Als ich herauskam, sagte ich trotzig zu meiner Mutter: "Der Opa stirbt." Sie starrte mich entsetzt an und die Großmutter schrie: "Das sagt man nicht." Sie wussten es schon lang, aber sprachen es niemals aus. Ich fühlte: Er hatte mich sehen wollen, weil ich es ihm wert war. Die Wahrheit und den Abschied. Er zeigte mir ganz früh, wie es gut sein kann, anders zu sein. Und geliebt zu werden. Deshalb und sowieso. (Ich habe mir niemals selbst weh tun müssen.)

(Ich zögere bei diesem Text, weil er so kitschig ist. Soll ich davon schreiben, wie der Alte das Fett direkt vom Braten säbelte und sich in den Mund stopfte? Oder davon, dass er niemals den Teller abräumte oder ein Glas spülte? Oder darüber, wie er in der Hosenabteilung ganz nach hinten gehen musste, wo sie Beinkleider versteckten, groß wie Segeltücher, deren Hosenlatz er zu bekommen konnte? Was fügte das dem Bild hinzu? Er war ein großer Liebender.  Und ein einfacher Mann. Vielleicht kein schöner. Mir fiel das nicht auf, so lange ich ihn kannte.)

11 Kommentare:

  1. "Kitschig"? Wenn das Kitsch sein soll, will ich mehr davon. Ich habe diesen Text liebend gerne gelesen. Einmal roch ich sogar die Sägespäne. Danke dafür.

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    1. Bitte :-).

      Die "autobiographischen Fiktionen", die ich unter "Auto. Logik.Lüge.Libido" ablege, werden ja ständig mehr. Ich weiß nie im voraus, was kommt und wann. Die Jahreszahlen im Titel zerstören die Chronologie der Erinnerung, in dem sie ihr etwas anderes (die Wirklichkeit ?) entgegensetzen. Wer glaubt, das sei "eins zu eins" wieder erzählt, wie "es gewesen ist", sollte mal mit meiner Mutter reden, die immer sagt: "Es lügt wie gedruckt." (Auf die Pirsch gingen die gar nicht Mai und den Stock hat sie auch vergessen und im Stübchen stand gar kein Radio.).

      Vielleicht wird´s noch ein rechter Wälzer bis ich "das Zeitliche segne". Jetzt sind´s erstmal so ungefähr 80 Seiten:

      AUTO. Logik.Lüge.Libido

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  2. Fast hätte ich den Text überlesen, weil ich am Wochenende in Hamburg und freiwillig internetlos war. Jetzt freue ich mich, dass ich ihn noch entdeckt habe.
    Ich finde ihn überhaupt nicht kitschig! Es spricht die Liebe zu Deinem Großvater daraus, die seine guten Seiten als die wesentlichen erkennt. Alles andere, was auch Realität war, wiegt vielleicht nicht so schwer und hat nicht solche Spuren hinterlassen?
    Der Text hat etwas Bedingsloses, so wie es die Liebe Deines Großvaters zu Dir wohl auch hatte. Das finde ich sehr schön.

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    1. (Bedingungsloses muss es natürlich heißen.)

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    2. Liebe, wenn es Liebe ist, ist bedingungslos. Das jedenfalls ist meine Überzeugung.

      "Mein" Großvater - in diesen Texten, die unter "Auto.Logik.Lüge.Libido" erscheinen nutze ich autobiographisches "Material" (das Wort passt mir an dieser Stelle nicht). Und meistens lasse ich eine Ich-Erzählerin sprechen. Dennoch sind diese Texte nur emotional "wahr", die Fakten dagegen stimmen nicht immer (nur die Jahreszahlen versuche ich präzise jener "Ich"-Figur im Parallel-Universum anzugleichen, die - wie ich - 1965 geboren wurde). Ich versuche, eine Stimme zu finden, die unmittelbarer klingt, als das "So war das..." oder "Dann habe ich...", das scheinbar unmittelbar erzählt. Paradox. Ich möchte an die Erinnerungen heran, die hinter den Erzählungen liegen. Indem ich erzähle, was meine Mutter Lügen nennt. (Das ist alles ziemlich verworren, glaube ich.)

      In diesem Text - und deshalb freut mich dein Kommentar so sehr - ging es mir eben um jene "Bedingungslosigkeit", die aus den - auch emotionalen - Tauschgeschäften, dem "Was bringt mir das?", "Was kriege ich dafür?" herausfällt. Viel literarisches Schreiben, so lese ich zumindest viele Texte. entsteht aus dem Bedürfnis und der Sehnsucht nach dieser Bedingungslosigkeit. Mein Thema wäre dann vielleicht: Wie ein Schreiben sein könnte, dem dieses Bedürfnis nicht eingeschrieben ist, weil es seit je erfüllt war? Welcher Antrieb liegt dem zugrunde? Es wäre die Geschichte eines Verlustes und einer Fremdheit, denke ich, zu erzählen. Die Fremdheit wäre: Anzukommen in einer Welt, die diese Erfahrung negiert und verleugnet, umwertet und abwertet, in eine Historie und in Geschichten einzuordnen sucht, in denen das, was mir wahr bleibt, zum Kitsch, zur Unterordnung, zur Repression und falsch wird.

      Aber, ach, ich weiß es nicht. Das Projekt "Auto. Logik.Lüge.Libido" ist jedenfalls eines, das mir mit am Wichtigsten ist. Es ist versöhnlich. Indem ich mich so von mir weg schreibe, kann ich mich versöhnen. Und das ist vielleicht die Sehnsucht, die mich antreibt: Wiederkommen.

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    3. Diese Überzeugung teile ich. (Man müsste einen Anspruch geltend machen können auf bedingungsloses Grundgeliebtwerden. Aber den müsste man ja zugleich auch erfüllen, was es schwierig macht ...)

      Ich finde Deine Ausführungen nicht verworren.
      Du erklärst ja immer wieder, dass diese Reihe eine Mischung aus Autobiografie und Fiktion ist. Dass ich dennoch jedesmal Dich in der Ich-Erzählerin sehe und Dich dann auch persönlich anspreche, hat vielleicht genau damit zu tun, dass das Autobiografische in den "iweichen" Fakten hinter oder unter den "harten" Fakten liegt und mir als das Eigentliche erscheint. Mir ist bewusst, dass Du ein buntes Konglomerat aus real Erlebtem und Erfundenem schaffst, aber das, was Du als "nur emotional wahr" bezeichnest, ist ja auch real erlebt, nur in einer anderen Verpackung, sozusagen. Und es ist deutlich an diesen Texten, finde ich, dass es um das emotionale Erleben geht. Komm ich dem damit nahe? Dem, was Du ausdrücken willst?

      Interessant ist für mich daran, dass ich ähnlich mit einigen meiner autobiografischen Texten umgehe (z.B. den Ein-Satz-Erinnerungen), dass ich aber im Gegensatz zu Dir nicht in erster Linie verteidige, was ich an guter emotionaler Versorgung mitbekommen habe und erfahren durfte (kann ich es so formulieren?), sondern dass ich mir dieses z.T. im Nachhinein schaffe. Auch wie Du aus einem Versöhnungswunsch (und der Einsicht der Notwendigkeit von Versöhnung), und weil ich glaube, dass es so, wie ich es mir vorstelle und wünschte, auch von den Verantwortlichen gewünscht war und hätte geleistet werden können, wenn sie denn selbst emotional gestärkter gewesen wären und es dadurch besser vermocht hätten. (Jetzt fürchte ich auch, verworren zu schreiben. :-))

      "Indem ich mich so von mir weg schreibe, kann ich mich versöhnen. Und das ist vielleicht die Sehnsucht, die mich antreibt: Wiederkommen."
      Das kann ich gut nachvollziehen, könnte ich vermutlich ähnlich für mich formulieren. "Wiederkommen" würde für mich, glaube ich, auch (endlich!, und friedlich) Zusammenkommen bedeuten.


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    4. Liebe Iris,
      Dein Kommentar beschäftigt mich. Was verteidige ich? Meine "Versorgtheit"? Mein Empfinden, richtig und "am Ort" gewesen zu sein? Den Moment, an dem ich herausgefallen bin? (Die Vertreibung aus dem Paradies?) Oder doch nur - die rückwärts gewandte und falsche Verklärung? Es ist schwer, das zu beantworten.

      In anderen Zusammenhängen sind mir in den vergangenen Tagen immer wieder metaphorische Begriffe aus dem semantischen Umfeld des Krieges begegnet: verteidigen, kämpfen, Panzer, Angriff... Ich habe dabei gespürt, wie sehr mich diese Metaphorik verhärtet, wie schnell sich Interesse und Anteilnahme verflüchtigen, momentan, sobald eine Opposition, eine Auseinandersetzung, ein Lebensentwurf, eine literarische oder künstlerische Position als kämpferische begriffen und inszeniert wird. Deshalb glaube ich, dass mich gegenwärtig eher die Frage weiter bringt, was ich versöhnen will, als wogegen ich mich wappne (Ich will sie nicht aus dem Auge verlieren, denn sie führt bestimmt zu einem blinden Fleck. Dem werde ich mich schreibend stellen müssen, innerhalb oder außerhalb des Projektes "Auto. Logik. Lüge. Libido".)

      Zugehörigkeit. Verbundenheit. Und der Verrat. Einblick in andere Welten, Übertritte. Da kann die Rückschau verräterisch werden. Das Elternhaus als kleinbürgerlich abgewertet. Die Werte und Ideale der Eltern, die Anstrengungen der Großeltern, ihr Bemühen um ein wenig Luxus und Genuss oder ihr Versuch, sich abzusichern gegen das Unheil denunziert als "falsches Bewusstsein". Der Blick von außen wird zum Blick von oben herab.

      Mein Weg in die Literatur... Ich habe immer viel gelesen. Aber das nicht ernst genommen. Meine Initiation war die Schullektüre von Peter Weiss "Abschied von den Eltern". Eine Rebellion. Eine offensichtliche und doch verleugnete Liebesgeschichte. Und die Einstiegsdroge: "Die Ästhetik des Widerstands". Die Wunsch-Biographie g e g e n das bürgerliche Elternhaus. Auch darüber habe ich versucht zu schreiben: Astrid: Lesen lernen Eine Erzählung, die nie jemanden interessiert hat und mir eine der wichtigsten ist. (So ist das oft. Wahrscheinlich taugt es nicht viel - als Erzählung, meine ich.) Und seither - Entfernung und die Sehnsucht, zurückzukehren. Aber anders. Als eine Andere. Das geht natürlich nicht. (Ich muss das so bruchstückhaft schreiben. Mehr schaffe ich jetzt nicht. Gedanklich. Und körperlich.

      Danke für deinen Kommentar!

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  3. Nein, keine Verlogenheit. Idylle wohl schon, aber was wäre dagegen zu sagen? (Die Zwergsonnenblumen für unseren Balkon zeigen sich gerade im Miniaturtreibhaus...) Vieles erkenne ich wieder, bis in die Details (Hochsitz, Hartz und Kniebundlederhosen zum Beispiel, oder Frottee als Stoff meiner Kindheit, oder Werkstätten, auch dachböden, in denen gut munkeln war). Ich könnte das alles so ähnlich schreiben, allerdings gälte bei mir das, was auch Iris schrieb: dass ich mir diesen geschützten Bereich schöner Erinnerungen im Nachhinein schaffe, dass ich einen solchen Opa erfinden müsste. Deutlicher möchte ich da jetzt nicht werden. Soviel vielleicht: Natürlich war meine Kindheit nicht die pure Hölle, aber es stand doch immer ein bucklicht Männlein in der Ecke.

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    1. Das scheint bei vielen so gewesen zu sein. Gerade die Verhältnisse zu den männlichen "Bezugspersonen" (brr, wie das schon klingt) sind häufig sehr gestört gewesen. Ich habe das schon früh gemerkt, wenn ich bei Freundinnen und Freunden zu Besuch war. In einer Fortbildung wurde ich vor einem Jahr damit konfrontiert, dass weit mehr als die Hälfte aller Jungen auch gegenwärtig das Verhältnis zu ihrem Vater als negativ empfinden. Mich hat das - trotz des Vorwissens - schockiert. Die "Männer in meiner Kindheit" waren gute. Ein unverdientes Glück. Das dann später kein Zufall mehr ist, denke ich. Denn wer das erfahren hat, sucht sich nicht jemanden, der weh tut.

      Ich "erfinde" den Großvater auch. Nicht seine Liebe und Zuwendung. Sondern eher die Fakten drum herum. Er war auch, ich hoffe, das spürt man ein wenig, ein schwieriger Mensch und für seine zweite Frau, meine Oma (seine erste, die meine leibliche Großmutter war, habe ich nie gekannt), sicher kein guter Ehemann. Für meine Mutter konnte er der Vater, der er hätte sein wollen, nach seiner Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft nicht mehr sein. Ich bilde mir ein, dass wir, seine Enkelkinder, das werden konnten, was ihn mit einem ansonsten verunglückten Leben zuletzt versöhnte. Vielleicht ist das auch eine Bürde. Ich empfinde es nicht so, sondern als Geschenk.

      Für mich war und ist aber die "Familie" nie eine Hölle, nicht einmal eine Vorhölle ;-) gewesen. Während gesellschaftlich (rechtlich und kulturell) die Hetero-2Kind-Familie immer noch die Norm abbildet, an der alles andere als Abweichung gemessen wird, lebe ich seit dem Studium in einem Umfeld, in dem Rechtfertigungsdruck entsteht, wenn eine Dankbarkeit gegenüber den eigenen, kleinbürgerlichen Eltern empfindet, heiratet, Kinder hat, schlicht einen bürgerlichen Lebensentwurf realisiert. Ich lebe seit über einen Vierteljahrhundert mit demselben Mann, der auch der Vater unserer Kinder ist. Neulich habe ich mit einem Freund drüber gesprochen, dass in meiner Familie kaum einer (keines der Geschwister meiner Eltern, nur einer meiner vielen Cousins) geschieden ist. In unserer Familie, ganz anders als in der Gesellschaft, gilt die Auflösung, das Scheitern der Familie als größtes Versagen. Dagegen ist Arbeitslosigkeit, keine Karriere, kein Geld etwas, was Mitgefühl verdient. Wenn meine Mutter hört, dass jemand zweimal geschieden ist, runzelt sie die Stirn. Sie glaubt, dass "solchen Leuten" (auch in der Politik) nicht zu trauen ist. Die Schröder/Fischer-Regierung war ihr schon deshalb ein Graus. (Nicht dass sie sich deshalb trauen täte, die Schwarzen zu wählen. Das nicht.) Vielleicht ist das der "blinde Fleck", den ich umkreise. Der Leistungsgedanke gewendet auf das "Familienprojekt"? Ich weiß nicht. Es kommt mir zu einfach vor. Oder zu böse?

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  4. ich komme mit der Navigation nicht klar. ist jetzt ne direkte Antwort auf Deinen letzten Beitrag...

    Also: Nee, das betraf schon die Gesamtsituation, also nicht nur die "männliche Bezugsperson". keine Hölle, keine Vorhölle, nur eben das Unangenehme, nicht Integrierbare in Form eines bucklicht Männleins, welches, das sagte ich ja schon an verschiedenen Orten, hie und da durchaus auch mit einem Rohrstock bewaffnet war (war kein Rohrstock, war n roter Plastikkochlöffel, der zog aber fies genug...). Keine tägliche Gewalt - aber das Männlein war da und konnte ab und an zuschlagen. Dazu noch A & T, was ich jetzt nicht auflösen möchte. Die Familie war nur partiell ein Ort der Idylle, wobei diese Idylle notorisch weiterwirkt bei mir. Klassischer fall von Double-Binds. Bei uns wurde und wird übrigens beides eingefordert: Heile Familie plus Karriere. So, Therapiestunde ist vorbei ;-)

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    1. Von der therapeutischen Wirkung der Erinnerungswühlerei bin ich eh nicht überzeugt. Verhaltenstherapien sind kürzer, wirksamer und billiger. Meistens! ;-).

      Außerdem: Alle Erinnerungen sind Fiktion. Daraus lässt sich was machen.

      Und: Wer fordert, hat schon mal verloren. Eh klar. :-)

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