Sonntag, 3. März 2013

SULLIVANS REISEN. Zeitungssucht Teil II


Ein Beitrag von Morel

Laura Himmelreich hat jetzt auch einen Wikipedia-Eintrag. Weil sie nämlich schon wieder so vergessen ist, als stamme sie aus einem anderen Jahrhundert, in dem das in Zeitungen Hineingedruckte noch Auswirkungen hatte. Dabei war sie nicht nur Anlass für einen virtuellen Twitter-Tsunami sondern auch für kollegiale, keineswegs freundliche Kritik. Wie könne sie nur? Einfach so erzählen, was sie erlebt habe? Nach einem Jahr? Das, so die wohlmeinenden, nicht nur männlichen Kolleginnen würde das Vertrauen zerstören. Dann erfahre sie nichts mehr. Manchmal denke ich, die sinkenden Auflagen der Zeitungen haben weniger mit dem sogenannten Internet zu tun, als mit solchem Denken. Um zwei Minuten früher als die Konkurrenz über ein Wahlkampfpapier der FDP zu berichten, verschweige ich, wer die Menschen sind, die uns zu regieren versuchen. Als wäre die Wirklichkeit das Ergebnis eines vertrauensvollen Gesprächs, festgehalten in einem mehrfach überarbeiteten Protokoll. Wer, liebe Zeitungen, außer den Protokollführern, möchte das lesen?

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Gern gelesen habe ich dagegen die Reportagen von John Jerimiah Sullivan veröffentlicht amerikanischen Zeitschriften wie GQ, The Paris Review, Harpers Magazine, Oxford American und nun in der Sammlung Pulphead. Sullivan schreibt keine Protokolle, sondern wie der New Yorker gelobt hat, Essays, die sich lesen wie gelungene Short Storys. Sullivan sei ein geborener Erzähler mit dem Auge für Details. Es ist aber nicht nur die Machart, die an Sullivan fasziniert, sondern tatsächlich die geistige Haltung gegenüber der Wirklichkeit.

Der Popjournalismus hatte ja immer eine sehr fragile Beziehung zur Wirklichkeit - schon lange bevor Tom Kummer ganze Interviews mit Prominenten fälschte, weil ihm die schnöde Realität zu langweilig war. Die satirische oder euphorische Zuspitzung ist ja kaum weniger manipulativ als das korrumpierte Protokoll. Daneben gab es aber immer schon eine Version des Popjournalismus, die auf Authentizität setzte. Etwa in den autobiographischen Essays Joan Didions oder den ästhetischen Mutproben Clara Drechslers in ihren konfrontativen Interviews mit machohaften Undergroundstars.

Sullivan, der seine Reportagensammlung Pulphead (Zeitungspapierkopf)) nennt, setzt nicht nur auf den guten Einstieg und den gekonnten Aufbau, sondern auf das Reisen. Er fährt in einem zu großen Wohnwagen auf ein christliches Rockfestival; er versucht mit Axl Rose, dem Sänger von Guns & Roses zu sprechen; er wartet vor dem Haus von Bunny Wailer auf ein Interview mit dem Reggae-Star; er besichtigt mit einem Höhlenforscher die ersten amerikanischen Kunstwerke, geschaffen von vergessenen Ureinwohnern. Die Reisen sind auch solche der Erinnerung: an die Zeit, als sein Bruder, ein Rockgitarrist, nach einem Stromschlag im Koma lag; an die Monate, in denen Sullivan Sekretär eines exzentrischen und schwierigen Schriftstellers war; an die Nacht, als er als Redakteur einige unverständliche Worte aus Geeshie Wileys Last Kind Word Blues zu verstehen versuchte.

Keines dieser Themen würde mich als Überschrift über einen Zeitungsartikel zur Lektüre bewegen, jede dieser Reportagen habe ich aber mit Begeisterung zu Ende gelesen. Warum? Sicher weil Sullivan zu erzählen weiß, mehr noch aber weil seine Haltung zu seinen Themen weder subjektiv noch objektiv ist. Er berichtet nicht nur Faktisches, das auch von anderen bestätigt werden könnte (traditioneller Journalismus), genauso wenig aber beschränkt er sich auf rein subjektive Eindrücke (Popjournalismus). Er verbindet das Erzählte über die Wirklichkeit mit den subjektiven Voraussetzungen dafür, überhaupt erzählen zu können.

Der neutrale Beobachter ist aus diesen Reportagen ausgestrichen, der Blick geht aber nicht nach innen, sondern nach außen. In der Reportage über das christliche Rockfestival auf eine Gruppe von Rednecks, die er kennenzulernen versucht; gleichzeitig erzählt er aber, dass er selber in seiner Jugend im Bann christlicher Missionsgedanken stand. In einer Tea-Party-Reportage schreibt er von einem Wir, das sich voller Wut vor dem Weißen Haus versammelt (schließt sich also als Reporter in das überwiegend weiße Protestvolk ein), um dann von Gesprächen mit einem Cousin zu berichten, der die Lobby-Arbeit für die privaten Krankenversicherungen organisiert, auf deren Profiten der Wohlstand von Sullivans Familie beruht.

Zwei Elemente verbinden beinahe alle in Pulphead versammelten Reportagen: einerseits die Suche nach einem alten, vergessenen Amerika, seien es die zurückgebliebenen Traditionen der weißen Südstaaten, die ausgerotteten Ureinwohner oder unzählige Male plagiierte Bluessongs; andererseits die Suche nach etwas, was ich nicht anders denn als spirituelle Erlösung bezeichnen kann, der Versuch in Details (Höhlenmalereien oder Gedichten, Rocksongs oder dahin geworfenen Bemerkungen) Anzeichen für ein anderes Leben zu finden, das jeden Moment um die Ecke kommen könnte oder gerade eben in den letzten Bus eingestiegen ist. 


2 Kommentare:

  1. Subjektive Erzählhaltung, aber mit dem Blick nach außen gerichtet - da bin ich sofort angefixt. Ich habe von dem Autor noch nie gehört, aber wenn das übergeordnete Thema dann noch die Suche nach einem alten, vergessenen Amerika ist, Bluessongs und ausgerottete Ureinwohner, dann weiß ich, dass ich das lesen muss. Ihr könnt jetzt aber bitte wieder kurz aufhören, Bücher zu empfehlen, die Alice Munro liegt ja schon bereit, Hilary Mantel auch, und jetzt auch noch der Sullivan - wann soll ich denn das alles lesen? (Ich les einfach zu langsam, so könnte man es auch sehen.)

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  2. Wir sind ja auch zu zweit :-). Pulp Head habe ich auch nicht gelesen. Ich hoffe, ich komme im Sommer an der Ostsee dazu. Dass es keinen Mangel, gar keinen, sondern einen riesigen, einen nicht zu bewältigenden Überschuss an großartiger Literatur gibt, ist eine Kränkung für das narzisstische Ego einer jeden, die schreibt und sich in ihrer Hybris einbilden mag, Leserinnen und Leser hätten gerade auf ihren Text gewartet. Es ist ja anders rum: Man schreibt, weil man muss und kann dankbar sein, wenn es eine oder eine liest und etwas darin findet.

    Alice Munro hat den Vorteil, dass sie mittellange Erzählungen schreibt, keine "Wälzer". Jede steht für sich. Und für eine findet sich schon Zeit :-). (Ha, Missionarin!, die ich bin, wenn´s um Munro geht.)

    Herzliche Grüße

    ("Sullivans Reisen" ist auch der Titel eines wunderbaren Films von Preston Sturges mit der Widmung: „To the memory of those who made us laugh: the motley mountebanks, the clowns, the buffoons, in all times and in all nations, whose efforts have lightened our burden a little, this picture is affectionately dedicated.“ Eine Hommage an die vielgeschmähte "Unterhaltungsindustrie".)

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