Freitag, 15. März 2013

VERFEHLUNG (Über Ulrike Edschmids: "Das Verschwinden des Philip S.")


„Vor dem Krankenwagen sind die Fotografen da.“ So könnte eine Anklageschrift anfangen gegen die sensationslüsterne Presse oder den Staat, der seinen sterbenden Feind ausstellt, statt für Erste Hilfe zu sorgen. Doch darum geht es hier nicht. Der erste forschende Blick der Ich-Erzählerin gilt dem toten Polizisten, den der Geliebte erschossen hat: „...niedergesunken an einem Maschendraht. Er liegt auf dem Rücken zwischen zwei Autos. An der Uniform ein großer dunkler Fleck in Höhe des Brustkorbs.“ Erst dann nimmt sie den in den Blick, dem ihre Suche gilt. Der Ton bleibt nüchtern, mit dem sie sein im Bild festgehaltenes „öffentliches Sterben“ beschreibt: „Philipp S. liegt im harten, niedrigem Gestrüpp. In einer letzten Fluchtbewegung. Wie im Sprung.“

Hans Holbein: Bonifacius Amerbach
Ulrike Edschmids schmalen, weniger als 200 Seiten umfassenden Roman „Das Verschwinden des Philip S.“  habe ich an einem einzigen Abend gelesen. Die Ich-Erzählerin sucht nach Bildern wie jener Fotografie aus der Zeitung, die ihr den verschwundenen Geliebten wieder vor Augen führen. Wenige Fotos nur sind seiner gründlichen Arbeit der Spurenvernichtung entgangen, durch die er sein Verschwinden, zunächst aus ihrem Leben und zuletzt aus der Welt, vorbereitet hat. Einige sind ihr geblieben, auf den meisten ist er indes nur schemenhaft zu erkennen, nur ihre Erinnerung kann das Bild vervollständigen und in Bewegung versetzen. Sie sucht Orte auf, an denen er gelebt hat, an denen sie ihm begegnet ist und mit ihm gelebt hat. Edschmid dringt nicht in die Bilder ein, die ihr begegnen und die sie erinnert, sondern gibt nur deren Oberfläche so genau wie möglich wieder: „Philip S. kommt im Spätsommer 1967 nach Berlin. Er trägt einen Anzug, der nicht zu seinem Alter passt, und einen Vornamen, der nicht in seinem Ausweis steht, mit dem schmalen Bart, der seinem ländlichen Gesicht eine altmodische Strenge verleiht, ähnelt er dem Baseler Bonifacius Amerbach, wie ihn der jüngere Hans Holbein vor fünfhundert Jahren gemalt hat.“

Dieser Roman ist autobiographisch. Die Geschichte des jungen Mannes, von dem Ulrike Edschmid erzählt, der ihr Geliebter war in jenen turbulenten politischen Jahren in Berlin, der sich 1972 einer terroristischen Vereinigung anschloss und 1975 in Köln nach einem Schusswechsel starb, ist bekannt. Sein Name und die Daten seines Lebens sind bei Wikipedia nachzulesen. In allen Rezensionen des Romans, die ich gelesen habe, wird der Name genannt und den Leserinnen und Lesern werden vom Feuilleton die Fakten nachgereicht, die Edschmid eben gerade nicht erzählt. In ihrem Roman wird der Nachname dieses Mannes auf den Anfangsbuchstaben verkürzt, wie auch der jenes Mitbewohners, der sich später in Haft zu Tode gehungert hat, wie auch ausgelassen bleibt der Name des Studentenführers, der von seinem Fahrrad geschossen wurde oder der Name der Bewegung, zu der Philipp S. gehörte. Dieser allzu bekannten Geschichte und den Geschichten von Revolten und Revolutionär_innen, die wahlweise als Held_inn_en verehrt oder als Staatsfeinde geächtet wurden, noch immer romantisch verklärt werden oder als monströse kriminelle Psychopathen verhasst sind, hat Edschmid nichts hinzuzufügen.

„Das Verschwinden des Philip S.“ erzählt stattdessen eine Liebesgeschichte und vom Scheitern dieser Liebe. Dass und wie die Liebe an seiner Entscheidung für den bewaffneten Kampf scheitert, ist jedoch nicht das Ende der Liebe. Deshalb muss dieses Buch auch im Präsens erzählt werden. Denn Liebe, wenn es Liebe ist, endet nicht, auch nicht wenn sie scheitert. Ich teile die Kritik von Ursula März in der ZEIT-Literaturbeilage an diesem Roman, den sie ganz treffend eine Elegie nennt, daher nicht. Denn es ist meiner Ansicht nach keine Elegie auf den toten Terroristen, sondern eine auf die vergangene und immer gleichwohl gegenwärtig bleibende Liebe. Der Vorwurf der „Selbstromantisierung des deutschen Terrors“, den März erhebt, trifft viele Machwerke, die sich mit diesem Thema beschäftigt haben. (Als besonders widerwärtig habe ich zum Beispiel den erfolgreichen Film von Uli Edel empfunden mit der Inszenierung des entzückenden Lederjacken-Bohéme-Randale-Pärchens Baader-Ensslin.) Edschmids Roman „Das Verschwinden des Philip S.“ trifft er dagegen nicht.

Die Entscheidung von Philip S., in den Untergrund zu gehen, hat hier weder etwas Heroisches, noch wird sie als politisch zwingend oder konsequent dargestellt. Sie ergibt sich vielmehr aus der Persönlichkeits- und Verhaltensstruktur des Geliebten, die sich der Ich-Erzählerin erst im Rückblick schon in dessen erster Verwandlung, unmittelbar bevor sie ihn kennenlernt, offenbart: „Zu Semesterbeginn, Anfang September, bringt er seine wenigen Sachen in einem kleinen roten Citroen nach Berlin. Er kommt an wie ein Mensch ohne Hinterland. Er, der Mann der Bilder, besitzt kein Foto aus seiner Vergangenheit, keines, das ihn als Kind oder als Jugendlichen zeigt. Seine Familie, sein Elternhaus, seine Geschichte – von allem hat er sich getrennt, selbst von dem Namen, den ihm seine Eltern gegeben haben. Auch seine Freunde lässt er zurück. Nichts davon spielt mehr eine Rolle in den acht Jahren, die er noch leben wird.“ Das wird sich wiederholen. So radikal und rücksichtslos wie Philip S. seine großbürgerliche Familie am Zürichsee verlässt, so wird er einige Jahre später seine Geliebte, deren Kind und die Wohngemeinschaft verlassen, sich einen neuen Namen, einen anderen Kleidungsstil, eine neue Identität zulegen.

Was ihn auszeichnet, so wie er in den Erinnerungsbildern Edschmids aufscheint, ist ein unbedingter, man kann sagen, totalitärer Formwillen, dem sich vor allem er selbst, seine Erscheinung und seine Lebensformen zu unterwerfen haben. Mit der Übersiedlung nach Berlin entwirft sich Philip S. als Künstler: „Von seinem ersten Geld kleidet er sich ein. Kleidung ist für ihn mehr als etwas zum Anziehen; er bringt darin sein Anderssein zum Ausdruck, ein Bild von sich selbst, das er in Sorgfalt und Eile entwirft: seine Form des Aufbegehrens gegen die Eltern. Er lässt sich anfertigen, was nicht nützlich ist, was er nicht braucht und was er sich eigentlich nicht leisten kann – drei Hemden mit Monogramm, einen Anzug, Schuhe aus Pferdeleder und den langen schwarzen Mantel aus feinem Tuch. So hat er sich in der Erinnerungen derjenigen festgesetzt, die ihn gekannt haben.“ Später, bei der Verwandlung in den „Terroristen“ wird Philip S. den umgekehrten Weg gehen. Er wird sich unsichtbar machen, versuchen, das Bild von sich zu verwischen in der Erinnerung der anderen: „Er ist der, der er sein will, ein anderer, ein Mensch, wie er ihn sich vorgestellt hat. Das Bild, das er von sich selber schafft, ist stärker als das wirkliche Leben. Er hat den Schritt vollzogen, raus aus den für ihn nicht zu bewältigenden Widersprüchen eines offenen Daseins in eine fast mönchische Zelle, wo ihn nichts von seinem Ziel ablenkt.“

Edschmid erzählt wenig bis nichts von den Diskussionen über politische Ziele und Strategien in den Kreisen, in denen sie sich mit Philip S. in Berlin bewegte. In ihrem Rückblick geht es nicht darum, wer Recht hatte und womit. Es geht weder darum, die Taten der Terroristen zu rechtfertigen, noch darum, den Staat, das „System“ anzuklagen, auch nicht darum, sich von früheren Überzeugungen und Freunden zu distanzieren oder diese zu denunzieren.

Dennoch ist Edschmids Roman, gerade durch den Verzicht auf Introspektive, durch die Beschränkung des Erzählens auf die Oberfläche, das Sichtbare moralisch nicht indifferent. Zwischen den beiden radikalen Verwandlungen und Trennungen, die Philip S. sich und anderen zumutet, liegt die Liebesbeziehung, die er mit der Ich-Erzählerin eingeht. Sie ist nicht allein. Sie hat einen kleinen Sohn. „Er hatte Affären gehabt, mit Frauen, die jünger waren, und mit Frauen, die Jahre älter waren als er. Aber er hatte noch nie Tag für Tag mit einer Frau und einem Kind zusammengelebt. Jetzt macht er sich klein im Kinderbett und singt meinem Sohn leise schweizerische Einschlaflieder . (...) Wenn er neben ihm geht, ihn an der kleinen Hand hält, berührt sein langer, schwarzer Mantel den Bürgersteig. Mit zwanzig Jahren versucht er, für ein Kind da zu sein, das nicht das seine ist. Und er hält einen Schmerz aus, den nicht er mir zugefügt hat. Seine Liebe ist eine auf den ersten Blick. Aber er stürzt sich nicht in Erfahrungen; er entscheidet sich für sie. Von allem Neuen lässt er sich nicht überwältigen, sondern eignet es sich an. Er will auch wissen, wie es ist, das Leben mit Frau und Kind. Seine Liebe ist nicht blind. Sein Begehren verwirrt ihn nicht. Es ist der kleine Tod, sagt er.“

Philip S. wird diesem Kind ein Vater und dieser Frau der Mann. Edschmid braucht nicht viele Worte, um zu zeigen, wie eng die Verbundenheit ist, die sich aus seiner unbedingten Entscheidung ergibt, ein gemeinsames Leben zu teilen. Diese Gemeinschaft zerbricht. Denn Philip S., der Entscheider, entscheidet sich um, radikal, wie bei allen seinen Entscheidungen auch diesmal. Nachdem das Paar einige Wochen in Untersuchungshaft gewesen ist, werden sich ihre Wege trennen, weil sie auf diese Erfahrung unterschiedlich reagieren: „Er zieht jetzt eine scharfe Linie zwischen sich und denjenigen, die er als Feinde begreift. Ich kann nicht in Feindschaft leben, auch wenn ich vieles als feindlich empfinde. Er hat geschworen, sich nie wieder einsperren zu lassen. Ich habe geschworen, mich nie mehr für etwas einsperren zu lassen, für das ich nicht geradestehen kann. Er glaubt, dass er dem Gefängnis nur entkommen kann, wenn er ein anderer wird. Ich glaube, dass ich es nur aushalten kann, wenn ich bei mir selber bleibe. Er ist rausgekommen, um wegzugehen. Ich bin in mein Leben zurückgekehrt. Er hat mich im Gefängnis an seiner Seite gesehen. Aber ich war nicht dort, ich war bei meinem Kind. An dieser Unvereinbarkeit zerbricht das gemeinsame Leben.“

Viele derjenigen, die Anfang der 70er Jahre den Weg in den Untergrund gingen, hatten Kinder: Meinhof, Ensslin, Baader sind nur die bekanntesten. Die Behauptung, für ein besseres Leben für alle zu kämpfen, hat ihnen genügt, um das Leben derer, die ihnen anvertraut waren, radikal und für immer zu verlassen. Nachdem Philip S. ausgezogen ist aus der Wohngemeinschaft kommt es noch zu einigen wenigen geheimen Treffen mit dem Kind, dem er ein Vater geworden ist: „Bei den mühsam organisierten geheimen Treffen im Zoo, im Kino oder auf einem Fußballplatz verwandelt sich das Gefühl von einst in einen fernen Anspruch, sich einer besseren Welt für alle Kinder zu verschreiben. Einmal, als die Interessen eines Sechsjährigen der Vorsicht eines zukünftigen Illegalen entgegenstehen, kommt es zum Konflikt. Mein Sohn lässt Philip S. spüren, dass er längst durchschaut hat, was er nicht sehen soll. Der Mensch, dem er vertraut und den er liebt, ist bereit, ihn aufzugeben, weil er sich nicht, wie er vorspiegelt, wegen einer Arbeit aus dem gemeinsamen Leben absetzt, sondern wegen etwas anderem, über das geschwiegen wird.“ Der Kampf um die Gerechtigkeit für alle, die vorgeblich angestrebt wird, kann die Ungerechtigkeit dort, wo individuelle und exklusive Verpflichtungen bestehen, nicht aufwiegen. Liebe, die aufgegeben werden kann und muss um des „großen Ganzen“ willen, ist keine. Leben, das sich "der Sache" und nicht den konkreten Menschen widmet, ist Verzicht auf Leben, nicht nur im übertragenen Sinn - und nicht nur auf das eigene.

Ulrike Edschmids Roman „Das Verschwinden des Philip S.“ erzählt eine tragische Liebesgeschichte und die Geschichte eines verfehlten Lebens. Die Liebesgeschichte ist tragisch, weil sie einseitig wird. Der Einen bleibt, was Liebe war, immer Gegenwart, dass sie sich 40 Jahre später den Anderen noch einmal schreibend vergegenwärtigt. Dem Anderen war auch die Liebe ein Projekt der totalitären Selbstverwandlung, das beendet werden kann. Das Leben des Philip S. war verfehlt, weil es geopfert wurde, um eines Anspruchs willen, den der Künstler Philip S. schon früh verworfen hatte. Am Ende des Romans listet Edschmid das Wenige auf, was von Philip S. geblieben ist, darunter ein Blatt Papier aus dem Winter 1968: „Er hatte darauf mit einem hellblauen Stift in weicher, leicht nach links geneigter Schrift notiert, dass Menschen und Dinge nicht dazu da seien, etwas zu beweisen, zu bekräftigen oder eine Meinung zum Ausdruck zu bringen, und dass es für ihn nur darum gehe, ihre Gegenwart festzuhalten.“ Indem sie zu diesem Philip S., der 1968 nach Berlin kam, um Filme zu machen, zurückgekehrt ist, kann die Ich-Erzählerin abschließen. Nun kann über ihn in der Vergangensheitsform geschrieben werden. Geborgen und vergegenwärtigt ist ihre tragische Liebe und sein verfehltes Leben jedoch noch einmal in diesem Buch. 

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