Sonntag, 28. April 2013

Vilém Flusser: DAS GESPRÄCH, DAS WIR SIND


"Wir sind leider gezwungen, unsere Einstellung zu ändern. Wir können uns nicht mehr verbeugen, sei es vor der Transzendenz, vor den Dingen, sei es auch nur vor und über uns selber. Wir sind gezwungen uns aufzurichten. Aber was heißt denn das eigentlich: ´aufrichtig leben´? Es heißt vor allem, sich nicht mehr an irgend etwas klammern wollen. Keinen Anhaltspunkt aus der konkreten Lebenswelt extrapolieren wollen. Aufrichtig einsehen, daß die Lebenswelt ein Kontext von einander kreuzenden und überdeckenden Beziehungsfeldern ist, und daß in ihr nur die Beziehungen konkret sind. Alles übrige wie Transzendenz, Objekt und Subjekt sind nichts als abstrakte ideologische Extrapolationen. Aufrichtig leben heißt vor allem, die realistische und idealistische Einstellung zugunsten einer relationellen aufzugeben bereit sein. Und das allerdings ist außerordentlich mühsam.
Wenn man nämlich die Welt und sich selbst als eine Vernetzung von Beziehungen ansieht, wenn man ´topologisch´ ´ökologisch´, ´systemanalytisch´ zu sehen beginnt, dann müssen alle überbrachten Kategorien umgedacht werden. Es gibt dann keine ´objektive´ Erkenntnis mehr, und nicht ´absolut´ Gutes und Schönes. All dies gewinnt dann einen relationellen, konsensuellen Charakter. Wissenschaft, Politik und Kunst müssen umgedacht werden. Alle Werte erscheinen dann als Projektionen aus einem intersubjektiven zwischenmenschlichen Beziehungsfeld ( aus dem ´Gespräch das wir sind´) auf andere Beziehungsfelder (auf ´die Welt die wir besprechen´). Alle Werte, vor allem auch die göttlichen und die Naturgesetze. Sie werden dann alle aus unveränderlichen ´ewigen´ Formen zu sich ständig verschiebenden Modellen. Wir erkennen uns dann als Knoten in einem netzförmigen Projekt, und die Welt erkennen wir als eine netzförmige Wand, gegen die wir Modelle entwerfen. Wobei noch dazu diese beiden Netze sich immer wieder miteinander vernetzen, schwingen, sich verschieben, in Nichts zerfransen, und sich an anderen Stellen verdichten. So etwa sieht es aus, wenn wir beginnen aufrichtig zu leben."
Aus: Vilém Flusser: Einiges über unnütz baumelnde Arme und das zwischenmenschliche Beziehungsfeld. Ein Kapitel über die Fortsetzung des Abenteuers der Menschwerdung. (1997)  (Hervorhebungen M.B./J.S.P.)

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