Mittwoch, 24. Juli 2013

DIE NEUE ÄRZTIN ("Schwäne können nicht tanzen.") (Entwurf)


Ff. aus der Serie "Fabelwesen"



Schwäne können nicht tanzen.“

Die Patientin stieß es hervor, trotzig klang es, als wolle sie ihr mit diesem Satz etwas entgegen schleudern, sich gegen eine Aufforderung oder Anforderung stemmen, der sie sich nicht zu stellen wünschte. Dr. L. senkte den Kopf für einen Augenblick tiefer über die Akte, die sie nur zum Schein aufgeblättert vor sich liegen hatte, aber längst beinahe auswendig konnte, so intensiv hatte sie sich auf diesen Termin vorbereitet. Sie wollte nicht, dass die Patientin das Leuchten in ihren Augen wahrnahm, von dem sie wusste, dass sie es nicht zurückhalten konnte. Das war der Durchbruch.

„Schwäne können nicht tanzen.“, wiederholte die B., leiser diesmal, beinahe resignierend, der Trotz nur noch angedeutet in der Art und Weise, wie sie die Stimme beim letzten Wort noch einmal hob. Dr. L. wagte es, ihrem Blick zu begegnen.
„Habe ich etwas anderes behauptet?“
Wie blau die Augen der B. waren, mit grünen Einsprenkeln. Wie eine wogende See. Die L. musste blinzeln. Sie war diesem Blick nicht gewachsen, sie hätte versinken mögen darin. So verschenkte sie den ersten Vorteil, den ihr die B. eingeräumt hatte.
„Nein. Aber Sie haben noch nie darüber nachgedacht. Geben Sie es zu. Dass Schwäne watscheln. Gerade so wie Enten.“
„Das stimmt. Das habe ich nicht.“
Die B. nickte. Diesmal suchte sie die Begegnung mit dem Augenpaar der Ärztin.
„Ich wusste es.“
Deren Augen waren weich und warm wie flüssiger Honig. Ihre Brauen hatten die gleiche Farbe. Man hätte meinen mögen, dass die Konturen dieser Frau schwach seien, so floßen die Brauntöne ineinander: ihr schulterlanges Mahagony-Haar, die zart gebräunte Haut, die hellbraunen Brauen, die golden glimmenden Funken in den Augen, der in tiefem auberginerot schimmernde Mund. Die B. hätte die Hand ausstrecken mögen, um deren Brauen nachzuziehen. Oder entlang ihrer Wangenknochen hinab zum Kinn. Sie versteckte ihre Hände unter der Schürze, die sie sich wie ein Zitat an ein Dirndl umgebunden hatte. Auch das konnte als ein Widerstand gegen die Schwanen-Existenz gelesen werden. Wenn eine lesen könnte... Doch immerhin ließ man sie in diesen Fragen neuerdings gewähren. Die Mundwinkel von Dr. L, registrierte die B. mit Genugtuung, zuckten. Wieder würde die Ärztin zuerst die Lider schließen müssen. Es begann ihr Spaß zu machen.
„Sind Sie ein Schwan?“
Das traf die B. völlig unerwartet, wie ein Schlag aus dem Hinterhalt. Die L. hatte nicht gewagt ihrem Blick standzuhalten, aber sie hatte die einzig richtige Frage gestellt. Niemals wäre Dr. H. soweit gekommen. Oder gegangen, dachte die B. verächtlich. Sie hatte ihn von Anfang an nicht leiden können. Und das, was der M. geschehen war, würde sie ihm niemals verzeihen. Andere offenbar auch nicht, sonst wäre er ja nicht so plötzlich verschwunden und durch die L. ersetzt worden. Die Augen von Schwester Hanna waren gerötet gewesen, mehrere Tage lang. Dann hatte sie sich beruhigt. Dumme Kuh.
„Sind Sie ein Schwan?“
Die L. wiederholte die Frage, hielt den Blick jedoch weiter fest auf die Papiere vor sich gerichtet. Die Frage war gut. Sie hatte einen Punkt getroffen. Sie war vorgedrungen. Sie hatte etwas gesehen. In deren Augen. In dieser See. Sie würde schwimmen lernen. Immer weiter hinaus.

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Auch in der Zentrale halten sie den Atem an. Aber die B. krümmt sich in ihrem Stuhl zusammen, zitternd, krampft, keucht, muss von zwei Pflegern hinaus gebracht werden. Sie sehen auf den Monitoren, wie Dr. L. ans Fenster trittt und hinaus in die Parklandschaft blickt, über den See hinweg, hinter dem sich die Sonne schon dem Horizont zuneigt. Einigen kommt es vor, als lächele die L.. Aber sie sind sich hinterher bei der Besprechung nicht ganz einig darüber, ob dieses ganz schwache Heben der Mundwinkel so interpretiert werden kann. Sie spulen die Stelle mehrfach vor und zurück, ohne sich schlüssig zu werden.

Schließlich fasst die Vorsitzende zusammen: „Es kommt nicht darauf an. Wie zuversichtlich die L. in diesem Augenblick ist. Wir haben etwas erreicht. Wir wissen noch nicht, wie weit das führt. Oder wohin. Wir beobachten und versuchen, nicht zu bewerten. Sie begreifen alle, was unsere Aufgabe ist. Dass es hierfür keine Präzedenzfälle gibt, keine Erfahrungen, auf die wir uns stützen können. Nicht einmal Wahrscheinlichkeiten. Wir wurden ausgewählt für diese Aufgabe, weil wir bereit sind, solche Entscheidungen zu treffen. Und bereit, sie, wenn nötig, zu revidieren. Wir hatten schwere Rückschläge zu verkraften. Auch ich persönlich hatte große Hoffnungen in Dr. H. gesetzt. Sie wissen das. Wir haben ihn eingeweiht und er ist daran gescheitert. Diesmal gehen wir anders vor.“ Jemand räuspert sich. „Es wäre dennoch, meine ich nach wie vor, gut gewesen, wir hätten gründlicher analysiert, woran H. scheiterte. Wusste er zuviel oder zu wenig?“ Die Vorsitzende nimmt den Einwand gelassen: „Auch das wissen wir nicht. Dr. S. hatten wir alles gesagt und es endete in einer, ich wage es das Wort zu benutzen, Katastrophe. Zumindest für ihn.  Er bemühte sich um jene Distanz, die wir forderten. Nun, er war schon alt. Die Krankheit möglicherweise unvermeidlich. Dr. H. ließen wir wissen, mit wem er es zu tun hatte, aber wir stellten ihm nicht alle Risiken vor Augen. So kam es dazu, dass er Ekel empfand.“ „Und Mitleid. Vergessen Sie nicht, wie sehr er die M. bedauerte und sich schuldig fühlte.“ „Ja, wir ließen zu, dass H. Gefühle investierte. Wir hoffen sogar darauf. Die L. dagegen weiß nichts. Sie hat nichts zu befürchten. Sie geht professionell vor.“ Ein Gemurmel in den hinteren Reihen lässt erkennen, dass nicht alle die Einschätzung der Vorsitzenden teilen. „Damit meine ich gerade nicht, dass sie sich heraushält. Sie stellt eine Beziehung her. Das haben Sie gesehen. Darauf setzen wir diesmal. Lassen Sie uns optimistisch sein. Und unvoreingenommen. Wir wissen wenig über die Unmenschlichen und ihre Absichten. Die Klinik ist derzeit unser einziger Versuch, den Kontakt herzustellen. Geben Sie Dr. L. ihre Chance. Ich danke Ihnen für Ihre kritische Begleitung, Ihre Entscheidungsfreude und Ihren Mut. Meine Damen, meine Herren, bis morgen!“ Zögerlich wird mit den Handknöcheln Beifall auf den Tischen geklopft.

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