Montag, 12. August 2013

"...that life still held infinite possibilities for change". BARBARA PYM LESEN (3) DIE ALTERSWERKE


Alterswerken wird seit altersher ein besonderer Habitus zugeschrieben: mehr Gelassenheit, mehr Toleranz, mehr Versöhnlichkeit, mehr Weisheit. Alterswerken fehle umgekehrt, so geht die Metaerzählung, das Konzentrierte, sie mäanderten unentschlossen, unabschließbar, drückten in ihrer offenen Form gleichsam die Furcht des alternden Schreibenden vor dem näher rückenden Tod aus, gegen den das Werk als autonome Schöpfung seit jeher anschreibt.


Barbara Pym hat vor ihrem viel zu frühen Tod 1980 drei Werke geschrieben, die sich durchaus als ein Alterswerk von ihrem Schaffen abheben. Pym verändert ihr Setting (die englische Mittelklasse in London und der Provinz) nicht, doch sind ihre Figuren – quasi mit ihr - gealtert und in ihren Ton, so spröde-komisch wie je, hat sich eine unüberhörbare Melancholie, eine dunkle Note eingeschlichen. So entsteht ein tieferes Verständnis für diese endlichen Leben im unspektakulären, "mittleren" Zwischenbereich: ohne existenzielle Not, ohne Glamour und Reichtum, ohne hohes Pathos und tiefes Ethos. Lächerlich bisweilen, armselig, versteift, beschränkt, aber nicht hoffnungslos können Menschen sein, solange sie leben. Solche „mittleren“ Menschen eben, deren „Trotz allem“-Leben in seiner Einsamkeit und Bedeutungslosigkeit ohne Überhöhung von Barbara Pym ein Denkmal gesetzt wird, eines das dank ihrer erzählerischen Kunst ebenso sehr anrühren kann wie der tiefste Fall einer mythischen Gestalt. Pym gelingt - entgegen dem Vorurteil gegen alternde Autor_innen -  in ihren späten Werken eine bis dahin nicht gekannte Geschlossenheit und Schlüssigkeit der Komposition, auf die ihre früheren Werke bisweilen um des einen oder anderen Wortwitzes oder einer Handlungspointe noch verzichtet hatten.

Quartet in Autumn (1977) gilt vielen Rezensentinnen als Pyms Meisterwerk. „Four people on the verge of retirement, each one of us living alone, and with no close relative near – that´s us.“, so fasst Edwin das erzählte „Quartett“ zusammen, um dessen Umgang mit Ruhestand, Alter, Einsamkeit und Krankheit es in diesem Roman geht. Sie arbeiten seit Jahren in einem Büro als Angestellte zusammen: Edwin, der verwitwete Kirchgänger, Norman, der Zyniker und Eigenbrötler, Marcia, die sich zunehmend isoliert und Letty, eine leidenschaftliche Romanleserin. Sie alle sind „alleinstehend“, ihr Tag wird strukturiert durch die Arbeit im Büro, die selbst seltsam konturlos bleibt. Obwohl die vier schon so lange miteinander arbeiten, stehen sie einander nicht nahe und obwohl sie – ein jedes auf seine Weise – einsam sind, streben sie mehr Nähe auch nicht an. Als Marcia und Letty pensioniert werden, verändert sich ihr schlichtes Leben radikaler als erwartet: Marcia, die eine Brustamputation wegen Krebs hinter sich hat, lässt sich vollkommen gehen und hört auf zu essen. Es gelingt ihr, die Hilfsangebote der Sozialdienste abzuwehren und auch Lettys zögerliche Einladung, sich öfter zu treffen, kann sie nicht davon abhalten, sich zu Tode zu hungern. Letty dagegen entschließt sich zum Umzug, weil das Haus, in dem sie ein möbliertes Zimmer bewohnt, von einem schwarzen Geistlichen gekauft wird. Die lautstarke Frömmigkeit unter ihr meint sie nicht ertragen zu können, aber das Zusammenleben mit einer alten, vermögenden Witwe, der Kirchgänger Edwin sie als Mieterin empfohlen hat, erweist sich nicht weniger als Herausforderung. Der über Jahre gehegte Plan, im Ruhestand mit einer Freundin in ein Cottage auf dem Land zu ziehen, zerschlägt sich für Letty, als die Freundin ihr ankündigt, dass sie einen wesentlich jüngeren Geistlichen heiraten werde.

Pym wechselt immer wieder die personale Perspektive, so dass die von außen verschrobenen wirkenden Motive Marcias, Letty, Edwins und Normans der Leserin ganz einsichtig erscheinen. Schon ganz zum Beginn kann sie vermitteln, mit welcher Scheu und Achtsamkeit die Protagonisten Nähe vermeiden, indem sie eine typische Mittagspause im Büro erzählt, bei der Edwin, Norman, Marcia und Letty viel gedankliche Energie darauf verwenden, einander nicht in dem Londoner Viertel zu begegnen, in dessen Parks, Bibliotheken und Cafés sie zur Mittagszeit ausschwärmen. Während Norman und Marcia beide Misanthropen sind und den Kontakt mit anderen Menschen gewollt vermeiden, verzweifelt Letty häufig an ihrem Unvermögen, sich in Gruppen einzufügen. Als sie eine Einladung von Mr. Olatunde, dem neuen Hausbesitzer annimmt, endet es im Desaster: „Letty withdrew, embarrassed by the crowd of smiling faces that seemed to be pressing in on her. We are not the same, she thought hopelessly. She wondered what Edwin and Norman and Marcia would have done in the cirumstances, but came to no conclusions. Other people´s reactions were unpredictable and while she could imagine Edwin entering into the religious aspect of the evening and even taking part in the service, it might well be that Norman and Marcia, usually so set in their isolation would in some surprising way have been drawn into the friendly group. Only Letty remained outside.“ 

Aber Letty bemüht sich dennoch um Anpassung an die neuen Lebensumstände, während Marcia ihre Isolation gezielt vorantreibt. Sie drückt einer jungen Sozialarbeiterin, die sie besuchen will, die Tür vor der Nase zu: „Marcia watched her getting into her car and driving away. Young people couldn´t  walk a step these days, she thought. And what was all that about hairdressers? ...Marcia didn´t like going to the hairdresser, anyway, she hadn´t been for years. Not like Letty, who went every week. Not doubt she would be taking advantage of the reduced charges for pensioners...Marcia stood in the hall, a feeling of dissatisfaction creeping over her at the idea of Letty. It was that business of the milk bottle, chiefly, but there was something else too. Letty had sent her a postcard, suggesting that they might meet sometime – as if she would want to do that! There was no knowing what Letty might foist on her, given the chance. She was certainly going to ignore the card.“ Pyms Wechsel der Perspektiven lässt die Leserin sehr nahe an jede der Figuren heranrücken: Marcias Wahnvorstellungen, die sie leere Milchflaschen horten lässt, ihre romantischen Phantasien über den Arzt, der ihre OP durchgeführt hat und den sie stalkt, Lettys Schamgefühle und ihre oft hilflosen Versuche, sich gegen stärkere Persönlichkeiten zu behaupten, Edwins Besessenheit von rituellen Terminen im Kirchenkalender, Normans einsamer Trip im Bus und seine verstohlene Beobachtung von Marcias Haus, alle diesen eigentümlichen, gar grotesken Verhaltensweisen werden so erzählt, dass die Leserin den Figuren folgt, ihre Motive nachvollzieht und doch immer ein wenig auf Distanz bleibt. Um diese Haltung geht es in Pyms Altersromanen: um einen distanzierten Respekt, der die Armseligkeit, die Verlorenheit und vielleicht auch die Verrücktheit des Anderen nicht kommentiert, beklagt oder durch sozialfürsorgliches Mitleid entwürdigt, sondern wie ein stiller Beobachter draußen vor dem Fenster steht, ein wenig neugierig, aber ohne den Impuls eingreifen zu wollen oder zu müssen. Pyms Roman leuchtet den Raum aus, den der europäische Sozialstaat dem (alternden) Individuum (noch?) lässt und erzählt von Selbstbehauptung im Kleinen, im Beharren gerade auf der Eigenart, auf den Neurosen und den Ängsten. Das Ende ist nicht versöhnlich, sondern hoffnungsvoll: Marcia hat ihr Häuschen an Norman vererbt und Letty hat zum ersten Mal wirklich die Wahl. Die geplante Hochzeit ihrer Freundin Marjorie ist nicht zustande gekommen. Sie muss entscheiden, ob sie bei der Witwe wohnen bleibt oder doch aufs Land ziehen wird. Sie lädt Edwin und Norman ein, sie zu einem Besuch ihrer Freundin zu begleiten: „Any new interest that might take Marjorie´s mind off her disappointment was to be encouraged, Letty felt, though it was difficult to think of Edwin and Norman as objects of romantic speculation, and two less country-loving people could hardly be imagined. But at least it made one realise that life still held infinite possibilties for change.“

1978 erschien der Roman The Sweet Dove Died. Es ist für mich das traurigste, in gewisser Weise aber auch das schönste Buch Barbara Pyms. Im Zentrum steht Leonora Eyre, eine alleinstehende, wohlhabende, elegante Dame in mittleren Jahren. Sie lernt den Antiquitätenhändler Humphrey Boyce und dessen Neffen James bei einer Auktion kennen. Humphrey, der etwa gleichaltrig ist, bemüht sich um Leonora, aber sie ist angetan von dem jungen James. Eine sonderbare, platonische Liebe entwickelt sich zwischen den beiden, während James heimlich seine sexuelle Orientierung sucht, eine Affäre mit der jungen Phoebe beginnt, aber schließlich seine Homosexualität mit dem Amerikaner Ned entdeckt. Dem Buch vorangestellt sind diese Zeilen aus dem Gedicht von John Keats

„I had a dove, and the sweet dove died;
And I have thought it died of grieving;
O, what could it grieve for? Its feet were tied
With a single thread of my ohn hand´s weaving...“

Leonoras Welt besteht aus „what one ´s doing“-Überlegungen, denen sie sich hingibt. Sie umgibt sich mit schönen Dingen, sie kleidet sich exquisit, sie sehnt sich nach Beziehungen, die durch keinerlei körperliche oder seelische Disharmonien geprägt sind. „Leonora liked to think of her life as calm of mind, all passion spent, or, more rarely, as emotion  recollected in tranquillity. But had there ever really been passion, or even emotion? One or two tearful scences in bed – for she never enjoyed that kind of thing – and now it was such a relief thant one didn´t have to worry anymore.“ Doch Leonora irrt sich. Auch ihr steht eine Passion bevor: Ihre Liebe zu James, um derentwillen sie sich demütigen wird. Sie wird den sanften, unentschiedenen James zum Lügen zwingen und zu hässlichen Aktionen, um sich von ihr zu distanzieren. Als sie ihn am Ende, nachdem ihn Ned verlassen hat, zurück haben kann, ist er in ihren Augen beschädigt. Sie liebt die Perfektion oder die Illusion der Perfektion, die er nicht mehr erzeugen kann: „...the sight of such large and faultless blooms, so exquisite in colour, so absolutely correct in all their finer points, was a comfort and satisfaction to one who loved perfection as she did. Yet, when one came to think of it, the only flowers that were really perfect were those, like the peonies that went so well with one´s charming room, that possesed the added grace of having been presented to oneself.“

Der letzte Roman, den Barbara Pym schrieb, trägt den Titel A Few Green Leaves. Er erschien in dem Jahr (1980), indem sie starb. Auch in diesem Roman ist die Hauptfigur eine alternde Frau, die Anthropologin Emma Howick, die sich in das Cottage ihrer Mutter auf dem Land zurück zieht. Pym spielt hier offensichtlich mit dem Genre des englischen Kriminalromans, enttäuscht aber die Erwartungen permanent. Nie liegt eine Leiche im Gras, wenn sich Emma durch das Gestrüpp kämpft oder findet sich im alten Gemäuer, das die Wandergesellschaft besichtigt, ein Gerippe. Es geschieht : nichts. Außer: dem Besuch eines verflossenen Liebhabers, Spannungen zwischen dem Pfarrer und seiner Schwester, die ihn versorgt, ein paar Abendessen, viel Unentschlossenheit, eine zögerliche Annäherung Emmas an den ein wenig eingerosteten Pfarrer. Es ist die Umgebung, in der die großen englischen Gesellschaftsromane spielen: eine Ortschaft auf dem Land, dominiert von einem Herrenhaus, alte verschrobene Damen, eigenbrötlerische Herren, das Pfarrhaus. Aber hierhin ist die Moderne mit ihren Errungenschaften vorgerückt: Frauen sind inzwischen berufstätig, selbst Mütter, während ihre Männer noch immer Schwierigkeiten haben, sich das Essen selbst aufzuwärmen; das Herrenhaus ist verlassen, das Pfarrhaus heruntergekommen und schlecht beheizbar; die Sozialsiedlungen und Reihenhäuser wachsen rundherum wie Pilze aus dem Boden; ein Autofriedhof stört die Idylle und fügt ihr zugleich ein melancholisches Element hinzu. Doch die Sehnsucht nach Liebe vergeht nicht, auch nicht mit dem Alter: „Emma sitting between her mother and Isobel, found herself wishing that she had a man with her...Some nebulous, comfortable – even handsome – figure suggested itself, which made her realize that even the most cynical and sophisticated woman is not, at times, altogether out of sympathy with the ideas of the romantic novelist.“ Das Ende bleibt offen. Vielleicht wird es was mit dem Pfarrer. Vielleicht ist er auch nicht nebulös, nicht bequem genug. Wie ein Mann sein sollte...

Barbara Pym hat ihr Leben lang über jene Gesellschaftsschicht, jene Berufsgruppen und Verhältnisse geschrieben, die sie genau kannte und beobachtete hatte. In ihren Romanen beschränkte sie sich auf dieses eng umrissene Gebiet, darin einer Jane Austen gleich, die für einen Roman nicht mehr brauchte als „3 or 4 families in a country village“. Diese Selbst-Beschränkung erst eröffnete den Spielraum für Figuren, die ohne bedeutsame Ereignisse erleben und ohne auffällige Handlungen begehen zu müssen, zeitlose Gültigkeit erlangen können. Gerade weil Barbara Pyms Figuren so fest in ihrer kleinen Welt und in einer ganz bestimmten Zeit verankert sind, gelingt es ihr, ihre Menschlichkeit, ihre Eigenheit herauszuarbeiten, dasjenige, was nicht „der Gesellschaft“ oder den Umständen geschuldet ist, sondern bleibt, wiederkehrt, in anderen Umständen und aus einer anderen Position heraus wieder verstanden werden kann. 

Immer wieder steht in Pyms Romanen auch das Geschlechterverhältnis im Zentrum. Hier und nur hier bleibt Pyms Perspektive einseitig: Sie sieht die Welt aus der Perspektive einer alleinstehenden Frau, die den patriarchalen Ritualen mit ethnologischem Interesse, aber gelegentlich auch Tränen in den Augen zusieht, manchmal vor Lachen, manchmal vor Weinen. 

LESEN SIE BARBARA PYM!
Barbara Pym: Quartett im Herbst (deutsch), antiquarisch ab  € 0,01 

Barbara Pym: Quartet in Autumn (englisch), € 12,99
Barbara Pym: The Sweet Dove Died (englisch), € 13,99
Barbara Pym: A Few Green Leaves (englisch), € 18,99


Zum Gesamtwerk von Barbara Pym:
BLESSED. Barbara Pym lesen! (1) - Das Frühwerk
ROMANE AUS DER SCHUBLADE. Barbara Pym lesen! (2) - Die unveröffentlichen Romane




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