Mittwoch, 25. September 2013

ANKUNFT (aus: STERNCHEN UND SCHNUPPE. Ein Familienroman aus der Zukunft)

"Da wird sie rauskommen." 
Sternchen und Schnuppe saßen vor einer der breiten Schiebetüren im Terminal B, die sich gelegentlich automatisch öffnete, um die Reisenden auszuspeien mit ihren Rollkoffern, schwarze noch in der Überzahl, aber immer öfter auch bunte dazwischen, eingefasst auch mit gestreiften Gurten oder wild beklebt mit Abziehbildern von Ferienorten. Braungebrannte Menschen aus dem Süden, noch in Bermuda-Shorts und mit Sonnenbrillen, zogen die Koffer hinter sich her, das Urlaubsgefühl krampfhaft konservierend. Daher auch die lauten Stimmen und das schallende Gelächter, wenn sie von ihren Abholern in Empfang genommen wurden. Eine letzte Nachahmung der Feierlaune am Ballermann, bevor der Alltag sie wieder hatte.
"Wenn sie kommt."
"Du glaubst, das war nur ein Warnschuss. Ein Test. Sie kommt gar nicht."
Sternchen wollte das nur zu gerne glauben.
"Nein. Sie kommt."
"Aber warum?"
"Weil sie am Ende doch zu schwach ist. Wie alle anderen auch. Wie wir. Wer kann schon gehen, ohne sich umzudrehen?"
"Denkst du an Orpheus?"
"Nein. Orpheus wendet sich aus Liebe. Das ist nicht ihr Motiv. Wenigstens das wissen wir genau."
Sternchen schluckte. 
"Aber sie könnte doch..."
Schnuppe drückte Sternchens Arm so fest, dass es weh tat.
"Du musst damit aufhören. Von ihr haben wir nichts zu erwarten. Nicht einmal die Wahrheit. Aber wir können sie benutzen. Vielleicht. Um es herauszukriegen. Woher wir kommen. Und wozu."
Sternchen machte sich los und stand auf. 
"Ich will das nicht. Ich will das nicht wissen. Lass uns gehen."
Schnuppe sah an Sternchen vorbei.
"Zu spät. Da ist sie."
Sternchen drehte sich herum.
Das war sie. Die Mutter. Die sie nicht war. Sie lächelte. Sie sah aus wie immer. Wie ein Filmstar auf Reisen. Perfekt gestylt. Mondän. Bigger than life. Sie war so schön und so unecht. Sternchen zensierte sich in Gedanken selbst. Es gibt nichts Echtes. 
Küsschen links in die Luft. Küsschen rechts in die Luft. Zweimal. Spanisch. Oder so. Sternchen und Schnuppe war es sowieso egal. Sie verzogen die Gesichter.
"Da seid ihr. Meine Schönen!" Sie übergab Schnuppe den Haltegriff ihres Rollkoffers. Glänzendes Metallic-Rot. Passend zum Lippenstift. Und zu ihren Strümpfen. Was für eine Frau. Ein Eyecatcher. 
Sie schwiegen auf dem Weg zum Parkhaus. So klug war sie, dachte Sternchen. Jede andere hätte jetzt überstürzte Konversation gemacht. Seichtes Geschwätz, um die Peinlichkeit zu übertünchen. Sie nicht. Sie schwieg, als sei gar nichts Peinliches dabei. Als gäbe es nichts Dringendes zu besprechen, nach all den Jahren, nach einer Trennung, die dramatischer nicht hätte sein können. 
"Ich bin nicht eure Mutter. Nicht eure leibliche Mutter. Und er war nicht euer Vater." 
War er nicht. Wir also sind adoptiert, hatten sie gedacht. Mit Nachforschungen gedroht. 
"Ihr könnt nicht zu den Behörden gehen", hatte die Frau erklärt, die nicht ihre Mutter war. "Weil es uns nicht gibt. Keinen von uns. Alles ist gefälscht." 
Sie hatte für Ruhe gesorgt und ein letztes Gespräch am Esstisch: Dass ihr Verschwinden, gleich dem des Vaters, der keiner war, von langer Hand vorbereitet sei. Ihre Existenzen in Dateien der Behörden gut vernetzt und dokumentiert. Nur dass nichts davon einer Überprüfung standhalten würde. "Ihr könnt hingehen. Nachforschungen fordern." Das bliebe aber zweifellos ohne Erfolg. Dafür sei vor langer Zeit gesorgt worden. Sie wären dann  nicht mehr vorhanden, sozusagen. Elternlos sowieso. Sternchen und Schnuppe. "Wie vom Himmel gefallen." Sie hatte durchaus boshaft dazu gelacht. Der Running Gag des Vaters, der so nett gelungen hatte, so harmlos, so liebevoll. 
Sie hatten sich entschieden. Gegen das Gefühl. Für einander. Als Brüderchen und Schwesterchen. Seitdem. Immerdar. Wie im Märchen. Nur dass die böse Stiefmutter keine war, nur so aussah, so wunderschön.
Schnuppe schloss den Wagen auf. Sie nahm wie selbstverständlich vorne auf dem Beifahrersitz Platz. Schnuppe hielt Sternchen den Schlüssel hin: "Willst du...?" Sie schüttelte den Kopf. Sie setzte sich auf die Rückbank, direkt hinter die Frau. Sie presste sich so eng gegen die Tür, dass kein Blickkontakt im Rückspiegel möglich war. Um Sternchen anzuschauen, hätte die Frau sich heftig verrenken müssen. Fluchtreflexe. 
"Hier wird immer gebaut.", sagte die Frau, als sie am Flughafen vorbeifuhren.
Schnuppe nickte. 
Die Frau schwieg. Sternchen lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe. Schnuppe sah stur nach vorn. 
"Ich hoffe, ihr habt ein Gästezimmer.", sagte die Frau, als Schnuppe die Ausfahrt nahm. Ihre Stimme war jetzt ein bisschen zu hoch. Ob sie doch ein Herz hatte?
"Du wohnst bei keinem von uns. Wir haben dir ein Zimmer im Hessischen Hof gebucht."
Darauf antwortete sie erstmal nicht. War sie irritiert? Sie ließ sich nichts anmerken. Dann sagte sie etwas, was Schnuppe und Sternchen überraschte:
"Das kann ich mir nicht leisten."
Schnuppe räusperte sich. Sternchen hob den Kopf. Was sollte das heißen? Dass die Frau Geld hatte, einen Auftrag, ein System, das hinter ihr stand, schier endlose Ressourcen, das war doch ausgemacht gewesen. 
"Ich habe auf diesen Namen keinen Kredit mehr."
"Warum hast du nichts Bares mitgebracht, wenn das so ist?", Sternchen war sauer. Hatte diese Frau ernsthaft gedacht, sie könne sich bei ihr oder Schnuppe einquartieren. Happy Family spielen. Oder was?
"Ich bin im Moment etwas abgeschnitten von meinen Quellen." Sie klang nicht hilflos. Sie gab sich Mühe, unverfroren und forsch zu bleiben. Aber Schnuppe und Sternchen hatten es gecheckt: Das war es also. Sie wollte bei ihnen unterkriechen.
Schnuppe drehte sich ein wenig zu Sternchen herum, suchte ihren Blick.
"Zwei Tage", sagte er dann. "Du kannst zwei Tage im Hotel bleiben. Das zahle ich. Und dann siehst du weiter. Wie auch immer. Aber nicht bei uns. Nicht mit uns."
Die Frau schien zu nicken.
Das kann ja heiter werden, dachte Sternchen. Da ist das letzte Wort noch nicht gesprochen.


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