Donnerstag, 19. September 2013

Tagebuchschnipsel: Auto.Perdu.Epik.Neubegehren.Nachruf.KeinTrost

Auto
Ich fahre nicht gern Auto. Gar nicht selbst und auch nicht gerne mit. Ich lebe in der Hoffnung, noch zu erleben, wie das Automobil durch andere, weniger individualistische und umweltverschmutzende Verkehrsmittel ersetzt wird, so dass eines Tages allenfalls noch ein paar Fetischisten mit ihren Oldtimern über verwunschen verwilderte Straßen und von Lupinen überwucherte Autobahnen tuckern, einander bei der Rast auf mühsam vom Unkraut zu befreienden, altertümlichen Parkplätzen wehmütig von alten Zeiten erzählend, als man "mit hundertfuffzig Sachen" von Dortmund nach Frankfurt brettern konnte, ganz allein in seinem Automobil, die Stereoboxen voll aufgedreht: "Highway to hell."

Perdu 
Mir wird nichts abgehen dann, außer jene gemütlichen Fahrten zu zweit mit dem Amazing, der, obwohl im Besitze einer Fahrerlaubnis, sich standhaft weigert, das Automobil zu lenken und lieber den gelassenen, amüsierten Beifahrer seiner Mutter gibt. Beisammen im sich mit höchstens 100 km/h fortbewegenden Blechkasten, einmal in unserer alltäglichen auseinander strebenden Automobilität eingeschränkt, kommen wir in jene Gespräche, zu denen sonst so oft die Zeit zu fehlen scheint. Der Amazing erzählt mir von amerikanischen Serien, die er im Stream (letzte Staffel von "Breaking Bad") guckt, davon dass jede/r  ("außer dir") zurzeit über GTA V spricht und wie der Wahnsinn der US-amerikanischen Rechten sich auf zahllosen Videos bei Youtube bestens dokumentiert. Ich erhalte auch eine kleine Einführung ins Sachenrecht und komme in den Genuss eines Kurzvortrags zu "Einigen grundsätzlichen Überlegungen  über die  Altersdiskriminierung der Jugend" durch das geltende Wahlrecht.  Das ist alles höchst interessant und lehrreich für mich. 

Epik
Der Amazing war als Kind und Jugendlicher ein Vielleser. Jetzt liest er kaum einmal mehr Belletristik. Gelegentlich versuche ich, ihm etwas zu empfehlen. Aber er winkt regelmäßig ab. Sein Bedürfnis nach Geschichten, nach komplexen und ambivalenten Erzählungen wird durch Serie wie "The Wire", "Breaking Bad", "Sopranos" und viele andere, deren Namen ich nicht mal kenne, gedeckt. Er kann über sie, ihre Machart, ihre unterschiedlichen Entwicklungsstadien, ihr gesellschaftspolitische Relevanz, die ihnen innewohnende Poesie und die sprachlichen Feinheiten der Dialoge so eloquent und differenziert sprechen, wie Literaturkritiker in den Feuilletons über literarische Werke. Ich weiß nicht, ob der Amazing repräsentativ für die potentielle junge (männliche?) Leserschaft ist. Aber ich selbst hatte beim Anschauen von "The Wire" den Verdacht, dass Serien auf diesem Niveau in vielerlei Hinsicht mehr erzählerisches Potential entfalten können, einen vielschichtigeren und ausdifferenzierteren Blick auf gesellschaftliche Phänomene, Sprechweisen, Phantasien und Phantasmen entwerfen, als jeder noch so backsteindicke Roman es könnte. Vielleicht wird deshalb "die Literatur der Zukunft" gar nicht mehr diesen Anspruch erheben, wird der "große Gesellschaftsroman" ganz aus der Mode kommen, weil das Bedürfnis nach Großerzählungen in anderen Medien für viele besser und auch anspruchsvoller erfüllt wird. Es wird weiterhin gelesen werden, aber weniger Menschen werden, vielleicht, belletristische Werke lesen und wenn dann solche, die weniger "erzählen", sondern...

Ich weiß es nicht. Morel äußert gelegentlich den Verdacht, dass die auffällige Geschlechterdifferenz im Umgang mit den Computerspielen und der Mediennutzung insgesamt sich langfristig zum Nachteil der Männer auswirken werde. Tatsächlich ist das Erscheinen von GTA V ein Gesprächsthema vor allem für Jungen und junge Männer und es sind auch vor allem sie, die einen erheblichen Teil ihrer Freizeit mit Computerspielen und dem Schauen von gestreamten US-Serien verbringen. Ob ihnen das mehr schadet oder nützt? Welche Fähigkeiten erwerben sie? Welche verlieren sie? Wie wirken sich diese interaktiven Mega-Erzählungen auf ihr Bewusstsein aus? Bleiben nicht doch die Mädchen zurück, die weiterhin mehr Lesen und sich am Fernsehprogramm orientieren? Die Wertung, dass Lesen "wertvoller" sei als Egoshooter spielen oder TV-Serien zu analysieren, orientiert sich an bildungsbürgerlichen Maßstäben, deren Gültigkeit ich bezweifele. Man muss nicht lesen, um sich "ein Bild von der Welt zu machen". Man kann. 

Nachruf
Sie lagen sicher alle schon lange in der Schublade, die Nachrufe auf Marcel Reich-Ranicki. "Ein Leben für die Literatur", las ich. Dem Amazing erschiene so ein Leben verunglückt. Mir auch. Für Marcel Reich-Ranicki war die Literatur lebensnotwendig, vielleicht war sie für ihn "das Leben". Daraus, aus dem Einzelfall (und auch nicht aus einer Vielzahl von solchen Einzelfällen) lässt sich jedoch nicht folgern, dass "die Literatur" für "die Gesellschaft" notwendig sei (Notwendig, immerhin, sind hier die Anführungsstriche, in beiden Fällen). 
Die Literatur, die für Marcel Reich-Ranicki bedeutsam war, war es für mich häufig nicht. Wenigstens in einem stimme ich jedoch mit ihm völlig überein: Was langweilt, ist Mist. Nur langweilte mich eben häufig was anderes als ihn (und umgekehrt). Sein Urteil (und aufs Urteilen kam es ihm als Kritiker ja vor allem an) war mir fast immer langweilig; es hatte keinerlei Autorität für mich. Ich habe seine Lobeshymnen auf literarische Werke selten zu Ende gelesen und seine Verrisse nie. 
Kein bisschen gelangweilt, allerdings, hat mich seine Autobiographie "Mein Leben". Wie er da die Suche des zwischen den Kulturen und Sprachen hin- und hergerissenen Jungen nach Identität beschreibt und das Glück, das der Jugendliche im deutschsprachigen Theater findet, wie er die Verbrechen und die Verbrecher, deren Opfer er und die Seinen im Warschauer Ghetto wurden, beim Namen nennt und auch den Nachkriegsdeutschen, die ihm einen Broterwerb und eine Position ermöglichten, ihn aber niemals ankommen ließen, nichts schenkt, das ist anrührend und beklemmend zu lesen; das konnte beispielhaft verdeutlichen, auf welchen Trümmern und wessen Knochen der Wohlstand der Westdeutschen gegründet wurde. 
Dennoch schloss er seinen Lebensbericht so: "Aber ich weiß sehr wohl, was ich mir dachte, als ich 1970 das Foto des knieenden deutschen Bundeskanzlers sah: Da dachte ich mir, dass meine Entscheidung, 1958 nach Deutschland zurückzukehren und mich in der Bundesrepublik niederzulassen, doch nicht falsch, doch richtig war. Fassbinders Stück, der Historikerstreit und die Walser-Rede, allesamt wichtige Symptome des Zeitgeists, haben daran nichts geändert."

Kein Trost.
Er ist alt geworden. Die Alten sollten gut gehen können. 

2 Kommentare:

  1. Ja, das wünsche ich auch für mich selbst sehr: dass ich gut gehen kann!
    und ich meine das wirklich sterbensmäßig bzw. sterbensgut :-) Fidi

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    1. Ja. Das wünsche ich mir auch. Sehr.
      Es beginnt vielleicht, denk ich, damit, sich in seiner Endlichkeit zu erfahren, sich von der her zu denken. Vielleicht die Voraussetzung das Leben in seiner Fülle "durchleben" zu können.
      Den Denkumenta-Workshop dazu konnte ich nicht besuchen. Aber ich habe selbst erlebt, welcher Trost es für die Zurückbleibenden ist, wenn eine/r gut gehen konnte, im Einverständnis.
      Liebe Grüße

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