Sonntag, 22. September 2013

Worte des Tages: Die Liebeskultur der Frauen und die Krise des "Autorenkinos"

Sofonisba Anguissola, Selbstbildnis 1554
"Vor allem aber hat das Kino eine Bildungstradition in der Liebeskultur der Frauen, und das heißt einer Alltagskultur der Liebe im Unterschied zu einer Liebestradierung im Erkenntniszusammenhang. Im Erkenntniszusammenhang bildete die Liebe immer nur den unbeachteten Raum, der genutzt wurde, in dem Liebe selbst nie geschichtlich wurde, in dem man sie schließlich immer nur brauchte und verbrauchte, aber nicht kultivierte. Die Frauen trieb in die Kinos, dass sie sich in ihrer Alltagskultur der Liebe und damit in ihrer Geschichtlichkeit bedroht fühlten. Sie gehen ins Kino, weil sie einen Ort für ihre Geschichte suchen. Das heißt aber, dass sie dort die äußere Wirklichkeit für eine in ihr Inneres verbannte Geschichte suchen - das gerade Gegenteil also zum Innenraum, der die Wiedergewinnung physischer Seekraft verspricht. Sie wollen, dass ihre Geschichte und sie selbst als geschichtliche Personen sichtbar werden. Das Kino, das kleine Ladenkino um die Ecke, ist ihnen eine Ort im städtischen Raum, an dem sie in zweifacher Weise sichtbar werden: als Teil des Publikums und als Erscheinung auf der Leinwand. Das Kino, als Konstitution der Wahrnehmung verstanden, wird durch die Frauen aus einem abstrakten Subjektapparat zu einer Öffentlichkeit, in der sich nicht über Diskussionen, sondern über Wahrnehmung eine wechselseitige Anerkennung und ein Zusammenhang bildet.

Ästhetik verliert angesichts des Kinos und am Leitfaden der Liebe ihre Einheit und Abstraktheit. Sie öffnet sich den vielfältigen Gestalten des Kinos in dem Augenblick, da die konkrete alltägliche Liebe sich ihrer eigenen kulturellen Tradition bewusst wird. Dann nämlich wird bewusst, dass die dem Kino als Apparat eingeschriebene Liebe ebenso wie - schon vor dem Kino - die theoretische Bildung einer Ästhetik von der Liebeskultur der Frauen abhängig ist. Der Rückzug dieser  Kultur vom Kino - die Vernachlässigung des Frauenpublikums seit den sechziger Jahren - lässt das Kino der Cineasten verfallen. Die Krise des Kinos hat so gesehen auch etwas mit Emanzipation zu tun."


Links
Über Gabriele Schärers Dokumentarfilm: Sottosopra (Die schönste Revolution)
Öffentliche Frauenplätze: Labyrinthplatz Zürich

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