Samstag, 12. Oktober 2013

LALANDE. Über Clarice Lispectors NAHE DEM WILDEN HERZEN


Sie gilt als die „Grande Dame“ der brasilianischen Literatur. In Brasilien gehöre sie, schrieb mir Markus Hediger, zur obligatorischen Schullektüre, was ihrem Werk, wie das meistens so ist, nicht gut tue. Es werde darin herumgestrichen und mancherlei weggelassen, um "das Ganze" angeblich verständlicher und vermittelbarer zu machen. Davon sind wir hierzulande weit entfernt. In den 80er Jahren wurde Clarice Lispector in feministischen Seminaren, angeregt durch die Rezeption von Julia Kristeva und Helène Cixous, begeistert gelesen. Einem größeren Publikum dagegen blieb die aus der Ukraine stammende brasilianische Schriftstellerin weitgehend unbekannt. Der Schöffling Verlag hat nun, rechtzeitig zur diesjährigen Buchmesse, auf der Brasilien das Gastland ist, ihren Debüt-Roman „Nahe dem wilden Herzen“ (erstmals erschienen 1944) neu aufgelegt.

Nahe dem wilden Herzen“ erzählt keine Geschichte, handelt von keinem Geschehen, obzwar sich eine Inhaltsangabe erstellen lässt: Joana, ein verwaistes Mädchen, wächst bei Onkel und Tante auf, heiratet Otávio, wird von diesem mit seiner Kindheitsfreundin Lídia betrogen, die er schwängert, lernt einen anderen Mann kennen, der bei seiner älteren Geliebten wohnt, dieser geht fort; sie verlässt Otávio und macht sich auf eine Reise ohne Hoffnung. Aber davon handelt der Roman nicht, höchstens von diesem Ende, das jedoch kein Ende ist, sondern ein Ausgang. 

Clarice Lispector erzählt, was nicht geschieht, sondern gedacht und gefühlt wird, die Bewegung des wilden Herzens zwischen den Dingen und Menschen, mit denen es sich doch niemals ganz verbindet, die es aber zum Sprechen bringt: „De Profundis? Etwas wollte sprechen ... De Profundis ... Sich hören! ... die flüchtige Gelegenheit ergreifen, die leichtfüßig am Rande des Abgrunds dahintanzte. De Profundis. Die Türen des Bewusstseins schließen.“ Was aus der Tiefe gesagt werden kann, ist keiner Kritik entrungen, keinem Wissen und Wollen, sondern der Durchlässigkeit, dem Fluss, dem Plätschern, in dem man die Gedanken nicht hat, sondern in sie fällt, wenn das Gehirn nicht arbeitet, sondern sich selbst sieht, ein Moment, der nicht zu halten ist, denn diese (Selbst-)Erkenntnis, der hier nachgeschrieben wird, ist kein Besitz, sondern eine Vision, die nicht dem Willen dient. Das Leben rinnt auf den Tod zu, nur dann ist es Leben. Das ist erbarmungslos und wird am Ende gar zum grausamen Gebet: „Oh Herr, Herr – komm zu mir, nicht um mich zu erretten..., aber um mich mit deiner schweren Hand zu ersticken.“

Clarice Lispector schreibt diesen Gedankenstrom so fließend hin, dass erst beim genauen Lesen auffällt, was das nicht ist: eine Fixierung auf die personale Perspektive der Joana. Das Denken der Joana löst sich auf und ab im Denken des Otávio, der Lídia, des Geliebten, der Tante. Die sich denkt und fühlt, erdenkt und fühlt sich durch die Anderen hindurch, denkt und fühlt sich abwechselnd als „sie“ oder „ich“, sieht sich voraus im konjunktivischen „sie würde“, das doch nicht wirklich wird, sondern wahr bleibt, gerade auch wenn es als Vergangenes widerlegt wird durch eine nie erreichte Gegenwart. Es gibt die Dinge und die Art, wie die Dinge sich erinnern und sagen lassen und beides existiert nebeneinander, ohne jemals zur Deckung zu gelangen: „In sich fühlte sie die erlebte Zeit sich von neuem aufstauen. Das Gefühl war fließend wie die Erinnerung an ein Haus, in dem man gelebt hat. Nicht das Haus selbst, sondern die Lage des Hauses in ihr selbst, in Bezug auf den Vater, der an der Schreibmaschine sitzt, den Garten des Nachbarn und die Sonne am späten Nachmittag. Vage, fern, stumm. Ein Moment ... vorbei. Und sie würde nicht erfahren, ob nach dieser erlebten Zeit eine Fortsetzung käme oder eine Erneuerung oder gar nichts, wie eine Barriere.“

Clarice Lispector erzählt davon, wie das Denken in der Sprache die Gegenwart des Lebens niemals einholen kann, wie es ihr in einer verzweifelten Anstrengung gleichsam hinterher hechelt und davon wie eine Frau, die sich dieser Differenz von Denken und Leben bewusst ist, die Einsamkeit, in die sie diese Erfahrung, die keine Erkenntnis zu werden vermag, stellt, genießt und erleidet. Lispectors Joana wählt diese Position des „Dazwischen“ nicht, sondern erfährt sie schon als Kind als eine Eigentümlichkeit ihres Wesens, die sie von den anderen schmerzlich unterscheidet. Wer ist Joana?, ist eine Frage, die die Anderen so sehr quält, wie Joana sich damit, die lebendige Verbindung zu den Dingen nur aufrechterhalten zu können, wenn sie sich den Konventionen (zu denen die Sprache gehört) entzieht. Joanas Fremdheit beunruhigt ihren Vater, ihre Tante, ihren Mann, ihre Nebenbuhlerin.

Joana ist die Tochter einer Mutter, die sich nie hingab, wie der Vater erinnert, der sich zugleich bewusst wird, dass seine Erinnerungen nicht stimmen können. Joana ist eine Natter, sagt die Tante in ihrem verzweifelten Zorn und Joana nimmt das Urteil an. Eine Natter ist kein Mensch. Eine Natter kann die Ewigkeit spüren, die Verbindung zum Wasser, aus dem alles geboren ist. Die Natter will ein Kind von dem Mann, den sie verlassen wird. Daraus wird nichts. Eine Natter im Menschenfrauenkörper kann sich nicht fortpflanzen. Der Wille zum Festhalten und Besitzen, der menschlich ist, und sich auch als Sprache und durch das Schreiben manifestiert, stellt das Leben still. Otávio, der Mann, der das Leben an Joanas Seite nicht ertragen kann, weiß am Ende warum: „Allmählich erkannt er, dass er den Verzicht auf das gewählt hatte, was in seinem Wesen am kostbarsten war, den Verzicht auf diesen kleinen leidenden Teil, der an Joanas Seite leben konnte.“

Die Bewegung erklärt die Form.“ Es gibt nichts Fertiges, Geschlossenes, Vollkommenes, nur sich verändernde Formationen. Das ist die Freiheit. Mit dieser Einsicht hört aber auch das Urteilen auf, das die Sprache ist, durch die die Dinge benannt, erklärt, bewertet werden. Clarice Lispector schreibt auf diese Grenze des Symbolischen zu, an ihr hin. Wo die Worte keinen Sinn mehr machen, aber sind. Lalande. „Sag noch einmal, was Lalande ist´, bat er Joana flehend. ´Es ist wie Engelstränen. Weißt du, was Engelstränen sind? Eine Art kleine Narzisse, bei dem leisesten Windhauch biegt sie sich von einer Seite zur anderen. Lalande ist auch das Meer am frühen Morgen, wenn noch keine Augen den Strand betrachtet haben, wenn die Sonne noch nicht aufgegangen ist. Immer wenn ich sage: Lalande, solltest du den frischen, salzigen Hauch des Meeres spüren, solltest du den noch dunklen Strand entlanggehen, langsam nackt. Bald wirst du Lalande fühlen... Du kannst mir glauben, ich gehöre zu den Menschen, die das Meer am besten kennen.“

Eine lebendige Sprache ist ver – rückt. Kein Wunder, dass keiner und keine das Leben mit einer wie Joana erträgt, die die Sprache nicht benutzt, sondern die Dinge durch sie hindurch scheinen lässt. Es ist menschlich, die Dinge und die Worte und die Menschen besitzen zu wollen. „Sie ist zuviel für mein Leben!“ Das Romandebüt der 23jährigen Clarice Lispector „Nahe dem wilden Herzen“ umkreist das wilde, lebendig pochende Herz, dem eine schreibend nur nahe kommen kann, das zu beschreiben aber hieße, es zu töten. 

Lesen Sie Clarice Lispector! (Markus Hediger hat mir versichert, dass die deutsche Übersetzung gelungen ist.) 

Kindle-Edition, € 15,99

2 Kommentare:

  1. Danke, kannte ich noch gar nicht, inspirierend, eine echte Neuentdeckung.

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    1. Freut mich. Lispector ist unbedingt lesenswert. Für mich war es eine Wiederentdeckung nach so vielen Jahren. Ich weiß gar nicht mehr, wie ich es damals gelesen habe, nur dass ich begeistert war. Bin jetzt sehr gespannt auf die Lektüre von "Lüster".

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