Wann
das anfing, weiß ich nicht mehr genau, dass ich Noah mit diesem gehässigen
Blick ansah, der nur noch die Fehler wahrnahm: wie aufgedunsen seine Wangen
waren, wie großporig und unrein seine Haut, wie fahl sein Blick, wie verzögert
seine Bewegungen und Gesten, wie verschliffen die Aussprache. Er war kein
Alkoholiker, das nicht, aber er nahm eben die Medikamente und sie veränderten
sein Aussehen und seine Persönlichkeit und dafür konnte er ja nichts, sagte ich
mir immer wieder.
Noah
ist einer meiner ältesten Freunde. Wir kennen uns schon seit der Grundschule.
Und jetzt fürchtete ich mich davor, aus dem Bus zu steigen und über den Hof zu
gehen, an der Tür zu klingeln, Noahs schlurfende Schritte im Flur zu hören und
seine Umarmung über mich ergehen zu lassen. Ich hatte zu Noah gehalten, als
seine Schwester über die Autobahn gelaufen und verunglückt war, als sein Vater
gestorben und seine Mutter wieder aufgetaucht war, nach der Trennung von Anja
und auch, als er in die Klinik eingeliefert worden war. Ich hatte sogar mal die
Stromrechnung für den Hof bezahlt, heimlich.
Noahs
Leben, dachte ich, als der Bus eine scharfe Kurve im Wald nahm, ist von vorne
bis hinten verpfuscht. Ich schaute zum Fenster des Buses hinaus, auf die grauen,
welligen Felder unter dem trüben Himmel, die sich jenseits des Waldes erstreckten. Hier draußen ist tote Hose, töter
geht´s gar nicht mehr. Darüber waren wir uns immer einig gewesen, Noah und ich.
Warum war er bloß hier geblieben? „Ich hatte gar keine Wahl“, sagte Noah,
wenn ich das Thema anschnitt. Ganz früher hatten Noah und ich eine Menge Spaß
miteinander. Wir verkleideten uns als Cowboys und ließen die Peitschen in der
Dorfdisko nur so knallen, dass denen die Country-Show im Hals stecken blieb.
Als wir jung waren, war Noah der Schönste im ganzen Land und alle Mädchen waren
hinter ihm her. Aber keine war gut genug für ihn, bis Claudia auftauchte. „Die
oder keine.“ Claudia war ein blonder Engel, siebzehn Jahr und einfach eine
Wucht. „Was willst du mehr?“ Claudia war die Tochter vom neuen Hausarzt, der
die Praxis von Dr. Schäfer übernommen hatte. Das schien gut zu passen: die
Tochter vom Arzt und der Sohn vom Pfarrer.
So
sah es aus, aber es war nicht so. In den Augen von Claudias Mutter waren Noah
und seine Familie einfach asozial. Meiner Mutter und den anderen Frauen im Dorf
tat der Pfarrer damals leid, der halt überfordert war mit zwei Kindern, sitzen
gelassen von seiner Frau, dieser Schlampe, was sollte er denn machen? Klar,
dass im Pfarrhaus nicht alles piccobello war und die Kinder vom Pfarrer in
schlampigen Klamotten herumliefen, genau wie der Pfarrer selbst, dem auch immer
das Hemd halb aus der Hose hing. Die Hausfrauen aus dem Dorf halfen so gut sie
konnten und wollten, brachten was zu essen vorbei oder fegten und wischten mal
durch die Pfarrei. Vor allem aber schnatterten sie und stellten aufdringliche Fragen.
Noahs Vater jedoch, das kam eben zu dem ganzen Schlamassel noch dazu, war nicht
die Sorte Mann, die es gern gehabt hätte, wenn ein Haufen besorgte Frauen um
sie herumschwirrte und sie bemutterte. Noahs Vater war ein Bücherwurm und
Leisetreter, der am liebsten für sich blieb und mit einer Mischung aus Angst
und Abscheu auf das Interesse der Leute reagierte. Er war für die Stelle eines
Landpfarrers ungefähr so geeignet wie ich als Opernsängerin. Für ihn war es die ihm vom HERRN ganz persönlich auferlegte Prüfung. Drum hielt er durch und
tat, was er für seine Pflicht hielt: Sorgte so gut er konnte, was nicht viel
hieß, für die beiden Kinder, mühte sich
ab bei den Beerdigungen und Taufen, saß verlegen an den Holztischen in den
Waschküchen und suchte nach seelsorgerischen Ratschlägen für die Erkrankten und
Gekränkten.
Als
wir Jugendliche waren, dachte ich, dass Noah es gar nicht so schlecht getroffen
hatte. Der Pfarrer sagte bloß zu Noah und Miriam: „Kinder, übertreibt´s
nicht.“ Noah konnte rauchen und kiffen und in der Scheune Claudia entjungfern,
ohne dass sein Vater was davon mitbekam. Claudia und Noah waren dann das Traumpaar
des Abiballs. Ich drückte mich um die Veranstaltung, weil ich es albern fand:
die sonderbaren Frisuren und Abendroben. Unsere Clique zog stattdessen ins
Akropolis und kippte Ouzo. Später fuhren wir in mehreren Autos und Motorrädern
hoch zur Ruine, kifften und lagen zufrieden im Mondschein. Nur Noah war an dem
Abend nicht dabei. Er hatte sich breitschlagen lassen von Claudia. Ich nahm es
ihm nicht übel, denn zu der Zeit gab es schon Mike, wegen dem ich die Freunde aus dem Dorf
immer mehr vernachlässigte.
Mit
Claudia war es nach dem Abi bald vorbei. Claudia war so ehrgeizig und klug, wie
sie aussah, während Noahs charmante Art Hoffnungen weckte, die er nicht einlösen wollte
oder konnte. Sie begann ihr Medizinstudium in einem anderen Bundesland und so
ging das auseinander. Es passte halt doch nicht, soweit behielt Claudias Mutter
Recht. Noah dagegen hatte keinen Plan, was er machen wollte und dachte deshalb auf dem Sofa im Pfarrhaus nach. Miriam, seine Schwester, war drei Jahre jünger, bleich
und verhärmt, als wäre sie schon eine alte Jungfer. Wurde sie aber nicht,
sondern wanderte eines Nachts im Nachthemd über die 3 km entfernte Autobahn,
wurde angefahren, mitgeschleift, schwerverletzt ins Krankenhaus transportiert,
wo sie starb. Noahs Vater ließ es sich nicht nehmen, die Trauerrede zu halten,
was ganz furchtbar war. Denn was immer Miriam getrieben hatte, ihr Vater
hatte keine Ahnung davon und redet über sie wie über einen Säugling, der zu
einem Engelchen geworden sei.
Der
Bus schlängelte sich weiter durch die engen Gassen der Dörfer, vorbei an den
geschlossnen Hoftoren, den Fachwerkhäusern mit den winzigen Fenstern, den
Dorfgemeinschaftshäusern und freiwilligen Feuerwehrwachen. Ein Kaff wie das
andere: eine Hauptstraße, ein paar Seitenstraßen, mit Glück noch ein kleines
Geschäft, auf der Straße tagsüber nur Rentner und Kleinkinder. Warum war Noah
geblieben? Jedes von den Käffern hatte sich eine eigene Kirche gegönnt, früher
einmal, aber schon zu Zeiten von Noahs Vater waren die Gemeinden zusammengelegt worden und er hatte mal hier, mal dort seinen Sonntagsgottesdienst
halten müssen. Der Pfarrer wurde noch blasser und noch dünner, während der zwei
Jahre nach dem Abi, in denen Noah überlegte, was er mit seinem Leben anfangen
sollte. Wir sahen uns selten, denn auch ich nahm ein Studium auf und war nur
noch alle paar Wochen zu Hause. Wenn wir telefonierten, erzählte Noah, dass er
mit diesem oder jenem, der auch in der Gegend geblieben war, „abgehongen“
hatte. Das nervte mich damals schon: Die Art, wie er das Partizip Perfekt von
„abhängen“ falsch bildete, und wie häufig er es benutzte.
Noahs
Mutter war gegangen, als Noah dreizehn war und Miriam zehn. Sie hatte jahrelang
kaum Kontakt zur Familie gehabt. Zur Beerdigung von Miriam habe sie kommen
wollen, erzählte sie mir später bei der Trauerfeier für den Pfarrer, aber ihr
Mann habe es ihr verboten. Die Dörfler sorgten dafür, dass Noah seinen Vater, anderthalb Jahre bevor er
dann schließlich starb, in einem Pflegeheim unterbrachte, weil Noah unmöglich den alten
Mann alleine versorgen konnte. Das Haus immerhin gehörte damals schon Noah. Sein
Vater hatte es der Kirche billig abgekauft, als er in den Ruhestand ging. Noahs
Mutter schaffte es in den wenigen Tagen nach dem Tod von Noahs Vater, die Leute im Dorf von ihrer Version der Ehemisere
zu überzeugen. Dabei sprach sie nicht mal schlecht über den Pfarrer. Sie machte
nur ein trauriges Gesicht, wenn sie ihn erwähnte, deutete an, dass er „schwierig“
gewesen war und sie noch so jung, als sie geheiratet hatten. Sie war schwanger
gewesen mit Noah, grade siebzehn und der Pfarrer fast doppelt so alt. „Ich
hatte nix und wusste nix und er betete mich an“, sagte sie. Und immer schloss
sie mit dem Satz: „Er war ein guter Mann. Nur halt nicht richtig für mich.“ Die
Leute nickten. Sie hatten den Pfarrer gekannt und keine hätte es mit ihm unter
einem Dach aushalten wollen. Noahs Mutter war immer noch hübsch, wenn auch ein
bisschen verlebt. Noah schmiss sie nach einer Woche aus dem Pfarrhaus raus. Das wurde ihm übel genommen.
Die
Mutter hätte, glaube ich, Anspruch auf einen Teil des Hauses gehabt, denn die
Schenkung an Noah lag noch nicht zehn Jahre zurück, als der Pfarrer starb und
sie waren nie geschieden worden. Aber sie scheint deswegen nichts unternommen zu haben.
Sie ging einfach und ließ Noah zum zweiten Mal sitzen. So erzählte er es jedenfalls später. Ich denke, er erinnerte sich selbst nicht mehr an die hässliche Szene beim Rauswurf, an die Worte, die er ihr nachgeschrien hatte, an den eleganten gelben Koffer, den er vor die Tür geworfen hatte. Sie rief mich einmal an, um sich nach Noah zu
erkundigen, aber ich wollte nicht mit ihr reden, um Noah nicht zu hintergehen.
Der studierte schließlich ein paar Semester Philosophie in Marburg, ließ den Hof immer weiter verkommen und legte sich die Story zurecht, die er von nun an jedem Therapeuten und jeder neuen Bekanntschaft erzählen würde. Denn Noah schloss das Studium nie ab. Er ging nie weg vom Hof. Er nahm nie eine Beschäftigung auf. Er schrieb ein zwei oder drei wahrscheinlich brillante Hausarbeiten. Und ein paar Gedichte, die in einer Studentenzeitschrift veröffentlicht wurden. Er lernte Anja kennen und sie zog zu ihm. Anja war anders als die Frauen, mit denen Noah vorher zusammen gewesen war. Kein Hingucker. Klein, mausgrau, schüchtern. Sie machte alles: Kaufte ein, kochte, putzte, nahm einen Job an der Uni-Klinik an, arbeitete im Schichtdienst. Einmal war ich dabei, wie sie Noah sogar das Brötchen beim Frühstück schmierte. Noah las viel, erzählte er mir am Telefon, und schrieb. Die Texte zeigte er niemandem. Er konnte sich einfach nicht zwingen, die erforderlichen Scheine an der Uni zu machen, sagte er. Es kam immer was dazwischen. Er konnte das Studium auch nicht abbrechen. Er konnte keinen Aushilfsjob behalten. Er geriet immer an Typen, die krumme Touren machten, ihn ausbeuteten, zuviel von ihm verlangten, erzählte er. Er dagegen verlange nix und von niemandem, wiederholte er stets. Anja bezahlte die Rechnungen und die Einkäufe. Ich kam nie mit ihr ins Gespräch, wenn ich zu Besuch war. Sie war still und hörte Noah zu. Denn Noah hatte es schwer. Es ging ihm nicht gut. Die Professoren fühlten sich von ihm herausgefordert und demütigten ihn deshalb, stellte er fest. Er hasste den ganzen akademischen Betrieb. Besonders in Philosophie hingen die absonderlichsten Schwachmaten ab, sagte er. Und ich glaubte es ja auch: Dass seine Eltern ihn völlig überfordert hatten. Dass sie ihn im Stich gelassen hatten. Dass seine Mutter ihn nicht gewollt hatte. Dass er seine Schwester hatte großziehen müssen, obwohl er doch selbst noch ein Kind war. Dass er immer zuviel Verantwortung getragen hatte. Dass er lernen musste „Nein“ zu sagen. Dass er sich mehr abgrenzen musste. Dass seine ganze Geschichte wie ein Mahlstein um seinen Hals hing.
Der studierte schließlich ein paar Semester Philosophie in Marburg, ließ den Hof immer weiter verkommen und legte sich die Story zurecht, die er von nun an jedem Therapeuten und jeder neuen Bekanntschaft erzählen würde. Denn Noah schloss das Studium nie ab. Er ging nie weg vom Hof. Er nahm nie eine Beschäftigung auf. Er schrieb ein zwei oder drei wahrscheinlich brillante Hausarbeiten. Und ein paar Gedichte, die in einer Studentenzeitschrift veröffentlicht wurden. Er lernte Anja kennen und sie zog zu ihm. Anja war anders als die Frauen, mit denen Noah vorher zusammen gewesen war. Kein Hingucker. Klein, mausgrau, schüchtern. Sie machte alles: Kaufte ein, kochte, putzte, nahm einen Job an der Uni-Klinik an, arbeitete im Schichtdienst. Einmal war ich dabei, wie sie Noah sogar das Brötchen beim Frühstück schmierte. Noah las viel, erzählte er mir am Telefon, und schrieb. Die Texte zeigte er niemandem. Er konnte sich einfach nicht zwingen, die erforderlichen Scheine an der Uni zu machen, sagte er. Es kam immer was dazwischen. Er konnte das Studium auch nicht abbrechen. Er konnte keinen Aushilfsjob behalten. Er geriet immer an Typen, die krumme Touren machten, ihn ausbeuteten, zuviel von ihm verlangten, erzählte er. Er dagegen verlange nix und von niemandem, wiederholte er stets. Anja bezahlte die Rechnungen und die Einkäufe. Ich kam nie mit ihr ins Gespräch, wenn ich zu Besuch war. Sie war still und hörte Noah zu. Denn Noah hatte es schwer. Es ging ihm nicht gut. Die Professoren fühlten sich von ihm herausgefordert und demütigten ihn deshalb, stellte er fest. Er hasste den ganzen akademischen Betrieb. Besonders in Philosophie hingen die absonderlichsten Schwachmaten ab, sagte er. Und ich glaubte es ja auch: Dass seine Eltern ihn völlig überfordert hatten. Dass sie ihn im Stich gelassen hatten. Dass seine Mutter ihn nicht gewollt hatte. Dass er seine Schwester hatte großziehen müssen, obwohl er doch selbst noch ein Kind war. Dass er immer zuviel Verantwortung getragen hatte. Dass er lernen musste „Nein“ zu sagen. Dass er sich mehr abgrenzen musste. Dass seine ganze Geschichte wie ein Mahlstein um seinen Hals hing.
Anja wurde schwanger und Noah wollte kein Kind. Er habe, sagte er, das doch vollkommen klargestellt. Anja ging. Oder er schmiss sie raus. Das bekam ich nicht so ganz mit. Dann fingen die Aussetzer an. Das merkte ich nicht sofort. Am Anfang klang es noch plausibel: Dass ihn Frauen an der Uni anmachten, dass er auf keiner Party rum stehen konnte, ohne dass eine ihn in ihr Bett zerren wollte. Noah sah zu der Zeit immer noch ganz gut aus, wenn auch ein wenig angegraut. Erst nach und nach kamen mir Zweifel. Als er immer verzweifelter wurde, weil er angeblich gestalkt wurde, nicht von einer, sondern von vielen, als die Stories, die er erzählte immer abstruser wurden und manche von ihnen nachweislich unmöglich geschehen sein konnten. Ich begann nachzuhaken. Das nahm er sehr übel, da war dann erstmal Funkstille zwischen uns. Ein halbes Jahr nach Anjas Abgang wies er sich selbst in die Klinik ein. Depressionen. Paranoia. Er hatte keine nahen Angehörigen mehr, niemanden, mit dem die Ärzte Klartext gesprochen hätten. Ich erfuhr nur, was Noah mir erzählte. Er bekomme das wieder in den Griff, sagte er. Die Medikamente halfen. Und die Gespräche mit den Therapeuten. Ihm werde jetzt erst richtig klar, wie sehr er sich immer unter Druck gesetzt habe. Wie viel Angst er immer gehabt habe, in den Augen seines Vaters zu versagen. Welchem Leistungsdruck er ausgesetzt gewesen sei. Wie er sich verpflichtet gefühlt habe, das Vergehen der Mutter wieder gut zu machen. Dass er sich immer nur nach anderen gerichtet habe, weil sie ihn nie geliebt habe. Dass er lernen müsse, auf sich selbst zu hören. Auch mit Anja sei es so gewesen. Er habe sich nur nach ihr gerichtet. Gar nicht mehr auf seine eigenen Wünsche, seinen eigenen Körper gehört. Bis sie ihn mit dem Kind zu sehr unter Druck gesetzt habe. Das sei dann einfach zuviel gewesen. Eine Wiederholung von dem, was er aus seinem Elternhaus schon kannte. Die Überlastung. Zuviel Verantwortung. Die Therapie helfe ihm sehr, das alles noch besser zu durchschauen.
Ich
glaubte ihm. Ich wollte für ihn da sein. Es ging ihm so schlecht. Er war
abgemagert, glich seinem Vater immer mehr. Er kam wieder heim, zurück in die
Pfarrei. Da blieb er. Wie vorher. Er nahm auch irgendwie das Studium wieder
auf. Wenigstens ein bisschen. Anja besuchte ihn manchmal. Sie hatte das Kind
bekommen und einen neuen Partner gefunden. Als wir uns einmal trafen, sagte sie:
„Ich bin froh, dass ich entkommen bin.“ Sie sah gut aus. Ein paar helle
Strähnen im Haar, ein farbiger Schal um den Hals. Das Kind wollte Noah nicht
sehen. Dem fühlte er sich nicht gewachsen. Das war ihm zuviel. Vielleicht fing
er da an, mich zu ekeln. Wie er über das Kind sprach. Er durchschaute alles und
alle. Wie durchsichtig seien die Leute für ihn: Sie waren alle wie sein Vater
oder seine Mutter oder Anja. Er sah im Fernsehen den Film eines jungen
argentinischen Filmemachers über die Zeit der Junta und rief mich mitten in der
Nacht an: „Der erzählt meine Geschichte.“, sagte er. „Hundert Prozent.“ Er sah
überall seine Geschichte, seine Verwandten, seine Trauer, seine Wut, seine
Angst. Er freundete sich mit Leuten an, denen es genauso ging: Denen alles
verdorben war und verderblich. Er tat mir trotzdem leid. Ich ließ ihn oft reden am
Telefon und lieferte nur die Stichworte. Wir landeten immer bei seinen Eltern.
Was sie ihm angetan hatten. Wie er sich abgrenzen musste. Er erklärte mir meine
Probleme: Ich sei genau wie seine Mutter. Immer öfter drückte ich seine Anrufe
auf dem Handy weg, wenn ich die Nummer erkannte. Trotzdem tat er mir leid. Noah. Noch.
Der
Bus näherte sich der Ortseinfahrt. Noah hatte mich angerufen und zu seinem
Geburtstag eingeladen. Das Gespräch war genauso verlaufen wie Tausende vorher.
Es änderte sich nichts in Noahs Leben. Er war fett geworden und sein Haar
schütter, das hatte ich schon die letzten Male bei meinen Besuchen bemerkt.
Noah wurde fünfzig. Er hatte sich immer abgegrenzt und niemanden wirklich an
sich herangelassen. Er hatte nie Verantwortung übernommen, weder für sich noch
für jemand anderen. Er war hocken geblieben, wo sein Vater ihn hingesetzt hatte.
Er hatte sein Kind nicht kennen wollen und sich nie für jemand anderen als sich
selbst interessiert. Er konnte nicht anders.
Ich
dachte daran, wie er mir die Tür öffnen würde, wie es müffeln würde in der
herunter gekommenen Wohnung, an die anderen Gäste, die Noah eingeladen hatte,
freudlos und böse wie er. Es war gemein. Er konnte ja nichts dafür. Die
Krankheit. Er war wirklich nie behütet worden. Aber ich konnte ihm auch nicht mehr
zuhören. Ich wollte lieber ohne Noah weiterleben. Ohne mein Mitleid mit ihm, das die Freundschaft getötet hatte. Der Bus hielt an der einzigen Bushaltestelle im
Ort. Von hier aus konnte man den Pfarrhof sehen. Die Tür hing lose in der
Angel. Im Hof stapelte sich der Unrat von dreißig Jahren. Da war sicher auch
Müll von mir dabei. Das wusste ich. Aber ich konnte es auch nicht ändern.
Der
Busfahrer drehte sich zu mir herum. Ich schüttelte den Kopf. Ich stieg nicht
aus. Die Tür schloss sich, der Bus fuhr an, den Berg hinauf, ins nächste Kaff.
(aus der Serie: AUTO. Logik.Lüge.Libido. Biographische Fiktionen)
Es gibt auch in meinem Leben einen Noah, und so habe ich diese Erzählung sehr, sehr sorgfältig gelesen und mich danach besser gefühlt. Denn ich habe meinem Noah nicht mehr die Tür geöffnet – nach 40 Jahren. Aber die Aufarbeitung fällt mir leichter nach dem Lesen deines Textes. Danke dafür.Der Birkenbaer
AntwortenLöschenDank zurück.
Löschen"Noah" - wie er hier beschrieben wird, ist ja eine fiktive Figur. Mit autobiographischen Bezügen, freilich. Spürbar. "Meinem Noah" (der/die ja ganz anders ist und heißt) habe ich die Tür noch nicht vor der Nase zugeschlagen. Aber gegen den Impuls kann ich mich nicht immer wehren. Und es tat gut, darüber, über eine solche Beziehung und ihr Scheitern zu schreiben. Es tut weh. Und es ist ein Tabu. Heutzutage, denke ich, ist es wesentlich "einfacher", über sexuelle Perversionen zu schreiben, als darüber, wie einer das Unglück, die Armut, die Krankheit abscheulich werden können, wie das ursprüngliche Mitleid die Freundschaft erstickt, weil es jede Begegnung "auf Augenhöhe" unmöglich macht, weil eine irgendwann nur noch auf Zehenspitzen geht (metaphorisch) und dem/der anderen nichts mehr zutraut. Das ist schlimm. Und irgendwie schäbig. Aber wahr. (Es tut immer noch weh und immer wieder.) Lieben Gruß J.