Es
gibt ein Davor und Danach. Es gibt immer ein Davor und Danach. Denkt man. Bis
es passiert. Bis passiert, wonach es kein Danach merkt gibt. Von nun an bis in
alle Ewigkeit. Sie sitzt und denkt. Auch das Denken ist langsam geworden,
langsam wie ihre Glieder, langsam wie ihre Sprache. Dass er...
Er
hat ein Abschleppseil benutzt, elastisch und reißfest. Elastisch. Deshalb hat
es länger gedauert. Sein Körper hat gekämpft gegen ihn. Als wären Geist und
Körper keine Einheit. Als wäre der Körper ihm fremd. Konnte diese Entscheidung
nicht billigen. So wenig wie sie. Was für eine Entscheidung? Denkt sie. Denkt
sie?
Der
Morgen. Der Morgen war ein ganz gewöhnlicher Morgen gewesen. Da musste er es
lange schon gewusst haben. Geplant haben. Sein Kopf voller Pläne.
Vorbereitungen. Auch an den Tagen zuvor. In den Wochen zuvor. Sie haben
zusammen am Tisch gesessen und über das Wetter geredet, die Nachbarn, seine
Freunde, seine neuen Schuhe und er muss daran gedacht haben. Nur so lässt sich
das erklären. Das lässt sich nicht erklären. Er hat gelacht an diesem Morgen.
Wie an den Tagen zuvor. Er hat immer die Schokoflocken gegessen, ertränkt in
Milch. Soviel Milch, dass sie sich aufgelöst haben. Eine eklige Pampe ist das
gewesen, jeden Morgen. Sie war guter Dinge. Sie war gestresst. Sie war
erkältet. Sie war müde. Sie machte Witze. Sie las ihm aus der Zeitung vor. So
war es am Morgen. Ein Morgen wie der andere. Jeder Morgen ein bisschen anders.
Sie war immer in Eile. Und Tschüss. Bis heute Abend. Bis heute Abend. Sie kann
sich nicht erinnern, wie er es gesagt hat. Sie kann sich nicht daran erinnern,
wie er es an diesem Morgen gesagt hat. So wie immer wahrscheinlich. Mal so, mal
so. Er war guter Dinge, gestresst, erkältet, müde, machte Witze. Sie wusste
nicht genau, wie es an diesem Morgen gewesen war. Wie immer. Anders. Daran
müsste sie sich doch erinnern. Sie muss sich erinnern.
Ihr
Denken ist langsam. Es gibt keinen Grund mehr zur Eile. Sie wird nie mehr in
Eile sein. Er war so gründlich. Das sah ihm nicht ähnlich. In seinem Zimmer
herrschte dasselbe Chaos wie immer. Er hatte sich keine Mühe gegeben. Dabei
nicht. Dabei schon. Bei dem. Dabei hatte er alles richtig gemacht. Bis auf das
elastische Seil. Daran wollte sie nicht denken. Sie will nicht mehr denken. Sie
muss immerzu denken. Dass elastische Seil. Deshalb hat es so lange gedauert.
Sie ist trotzdem zu spät gewesen. Sie hätte nicht früher da sein können. Es war
ein Tag wie jeder andere. Sie schaltete ihr Mobilfon erst ein, als sie aus dem
Seminarraum kam. Geh nicht auf den Dachboden. Schick jemanden hoch. Sie hatte
die Nachricht nicht verstanden. Sie hatte sie dreimal gelesen. Das hatte keinen
Sinn ergeben. Geh nicht. Er hatte sie schützen wollen. Er hatte nicht gewollt,
dass sie ihn fand. Einerseits. Andererseits. Er hatte doch wissen können, dass
sie auf den Dachboden rennen würde, nach dieser Nachricht. Was hatte sie
gedacht? Sie hatte nicht gedacht. Sie hatte nicht gedacht, dass es das war. Sie
hatte gedacht, dass... Nicht das. Das hatte sie nicht gedacht. Wie er da hing.
Da war er schon nicht mehr er.
Es
gibt kein Danach. Es gibt danach kein Danach. Sie hat ihn nicht runter geholt.
Sie hat sich hingesetzt. Sie sitzt viel. Danach. In dem Leben, das es nicht
gibt, sitzt sie viel. Kein Wort. Sie kann sich an kein Wort erinnern, keinen
Blick, der das erklärt. Er war ein guter Junge, immer. Er war doch ein guter
Junge. Ein guter Junge tut so was nicht. So was tut ein guter Junge nicht. Sie
krampft die Hände. Sie denkt. Sie denkt so langsam. Da war der Zettel. Auf
ihrem Kopfkissen. In seiner schönsten Schreibschrift. „Es war Zeit, Mama. Mach
dir keine Sorgen.“ Er ist zwölf Jahre alt geworden.
Es
gibt kein Danach.
Himmel hilf, Melusine, so kurz vor Weihnachten eine Geschichte, die mir das Herz stillstehen lässt. Sie schrecken aber auch vor gar nichts zurück!
AntwortenLöschenEine Zeitungsnotiz - vor der ich nicht zurück schrecken konnte (wie ich wohl wollte). Vor einigen Jahren. Schlummert auch diese Erzählung schon.
Löschen(Mir ist noch nicht weihnachtlich. Ich arbeite dran.)
Der Himmel hilft nie, Phyllis, habe ich festgestellt.
Ein Grog?