Donnerstag, 19. Dezember 2013

DANACH NIE

Es gibt ein Davor und Danach. Es gibt immer ein Davor und Danach. Denkt man. Bis es passiert. Bis passiert, wonach es kein Danach merkt gibt. Von nun an bis in alle Ewigkeit. Sie sitzt und denkt. Auch das Denken ist langsam geworden, langsam wie ihre Glieder, langsam wie ihre Sprache. Dass er...

Er hat ein Abschleppseil benutzt, elastisch und reißfest. Elastisch. Deshalb hat es länger gedauert. Sein Körper hat gekämpft gegen ihn. Als wären Geist und Körper keine Einheit. Als wäre der Körper ihm fremd. Konnte diese Entscheidung nicht billigen. So wenig wie sie. Was für eine Entscheidung? Denkt sie. Denkt sie?

Der Morgen. Der Morgen war ein ganz gewöhnlicher Morgen gewesen. Da musste er es lange schon gewusst haben. Geplant haben. Sein Kopf voller Pläne. Vorbereitungen. Auch an den Tagen zuvor. In den Wochen zuvor. Sie haben zusammen am Tisch gesessen und über das Wetter geredet, die Nachbarn, seine Freunde, seine neuen Schuhe und er muss daran gedacht haben. Nur so lässt sich das erklären. Das lässt sich nicht erklären. Er hat gelacht an diesem Morgen. Wie an den Tagen zuvor. Er hat immer die Schokoflocken gegessen, ertränkt in Milch. Soviel Milch, dass sie sich aufgelöst haben. Eine eklige Pampe ist das gewesen, jeden Morgen. Sie war guter Dinge. Sie war gestresst. Sie war erkältet. Sie war müde. Sie machte Witze. Sie las ihm aus der Zeitung vor. So war es am Morgen. Ein Morgen wie der andere. Jeder Morgen ein bisschen anders. Sie war immer in Eile. Und Tschüss. Bis heute Abend. Bis heute Abend. Sie kann sich nicht erinnern, wie er es gesagt hat. Sie kann sich nicht daran erinnern, wie er es an diesem Morgen gesagt hat. So wie immer wahrscheinlich. Mal so, mal so. Er war guter Dinge, gestresst, erkältet, müde, machte Witze. Sie wusste nicht genau, wie es an diesem Morgen gewesen war. Wie immer. Anders. Daran müsste sie sich doch erinnern. Sie muss sich erinnern.

Ihr Denken ist langsam. Es gibt keinen Grund mehr zur Eile. Sie wird nie mehr in Eile sein. Er war so gründlich. Das sah ihm nicht ähnlich. In seinem Zimmer herrschte dasselbe Chaos wie immer. Er hatte sich keine Mühe gegeben. Dabei nicht. Dabei schon. Bei dem. Dabei hatte er alles richtig gemacht. Bis auf das elastische Seil. Daran wollte sie nicht denken. Sie will nicht mehr denken. Sie muss immerzu denken. Dass elastische Seil. Deshalb hat es so lange gedauert. Sie ist trotzdem zu spät gewesen. Sie hätte nicht früher da sein können. Es war ein Tag wie jeder andere. Sie schaltete ihr Mobilfon erst ein, als sie aus dem Seminarraum kam. Geh nicht auf den Dachboden. Schick jemanden hoch. Sie hatte die Nachricht nicht verstanden. Sie hatte sie dreimal gelesen. Das hatte keinen Sinn ergeben. Geh nicht. Er hatte sie schützen wollen. Er hatte nicht gewollt, dass sie ihn fand. Einerseits. Andererseits. Er hatte doch wissen können, dass sie auf den Dachboden rennen würde, nach dieser Nachricht. Was hatte sie gedacht? Sie hatte nicht gedacht. Sie hatte nicht gedacht, dass es das war. Sie hatte gedacht, dass... Nicht das. Das hatte sie nicht gedacht. Wie er da hing. Da war er schon nicht mehr er.

Es gibt kein Danach. Es gibt danach kein Danach. Sie hat ihn nicht runter geholt. Sie hat sich hingesetzt. Sie sitzt viel. Danach. In dem Leben, das es nicht gibt, sitzt sie viel. Kein Wort. Sie kann sich an kein Wort erinnern, keinen Blick, der das erklärt. Er war ein guter Junge, immer. Er war doch ein guter Junge. Ein guter Junge tut so was nicht. So was tut ein guter Junge nicht. Sie krampft die Hände. Sie denkt. Sie denkt so langsam. Da war der Zettel. Auf ihrem Kopfkissen. In seiner schönsten Schreibschrift. „Es war Zeit, Mama. Mach dir keine Sorgen.“ Er ist zwölf Jahre alt geworden.


Es gibt kein Danach.

2 Kommentare:

  1. Himmel hilf, Melusine, so kurz vor Weihnachten eine Geschichte, die mir das Herz stillstehen lässt. Sie schrecken aber auch vor gar nichts zurück!

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    1. Eine Zeitungsnotiz - vor der ich nicht zurück schrecken konnte (wie ich wohl wollte). Vor einigen Jahren. Schlummert auch diese Erzählung schon.

      (Mir ist noch nicht weihnachtlich. Ich arbeite dran.)

      Der Himmel hilft nie, Phyllis, habe ich festgestellt.

      Ein Grog?

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