Als
wir im Frühjahr 2013 Amsterdam besuchten, verpassten wir die Wiedereröffnung
des Rijksmuseums nur um wenige Tage. Das war bedauerlich; aber vielleicht war
es auch gut so. Da mir das Wiedersehen mit den Werken Rembrandts, Hals und Vermeers verwehrt blieb,
wurde Zeit gewonnen für die Reize der Stadt, die mir bei vergangenen Besuchen,
die fast ausschließlich dem Rijksmuseum und seinen Schätzen gegolten hatten,
verborgen geblieben waren. Lange Spaziergänge durch das Jordaan-Viertel, über
die Brücken, entlang der Grachten, das Rembrandt-Haus und der – mindestens mir
– neue Ableger der Petersburger Hermitage zeigten mir eine andere Stadt, die ich noch nicht kannte. Die
Ausstellung zu Peter dem Großen, die wir eher zufällig sahen, führte zu meiner
aufwändigsten und längsten Lektüre des vergangenen Jahres, der ausschweifenden,
gigantischen Biographie über den Zaren von Robert K. Massie, einem 1000-Seiter,
den ich mir zum Glück auf den handlichen Kindle laden konnte. Geschichte und
Geschichten – es war die Fülle der Details, die Massie ausbreitet, über
Kanalisation, Trinkkultur, Städtebau, Folter- und Bautechniken, Kriegsführung
und Diplomatie, Kleidermode und Religion, die mich faszinierten. Ganz ähnlich auch im Rembrandt-Haus: Der Einblick in die Fülle der Interessen und
Leidenschaften des Malers, die Verbindung zwischen Geschäft, Handwerk und Kunst, das Leben des "Künstlers als Unternehmer", das Svetlana Alpers sich vorgestellt hatte, wurde hier nachvollziehbar.
Dennoch blieb das
Gefühl, etwas „verpasst“ zu haben, als ich wenige Tage nach dem Besuch die
begeisterten Berichte der ersten Besucherinnen und Besucher des neuen
Rijksmuseums las. In der Financial Times schrieb Simon Shama, der Autor des
Klassikers „Überfluss und schöner Schein“, von einer „reunion“ of „´high´and ´low´
art“, in Anführungsstrichen selbstverständlich, denn es war und ist eben Teil
eines niederländischen kulturellen Selbstverständnisses, diese Trennung nicht
zu akzeptieren und aufzulösen: „When we look at Vermeer’s servant
girl pouring a jug of milk, or a goblet of wine and a herring by Pieter Claesz,
we now take for granted that ordinary acts and objects may be intensely charged
with sublimity. But it was in the Netherlands that this translation of the
sacred from the religious to the worldly realm was most dramatically realised.“
Das (inzwischen selbstverständlich überkommene) Narrativ der europäischen Moderne indes hat die
neuerliche Trennung von „hoher“ und „niederer“ Kunst (nach der ersten durch die
italienische Renaissance) entweder zu einem „Fortschritt“ erklärt und/oder zu
einer Notwendigkeit: die Autonomie der Kunst und den autonomen Künstler. (Die
weibliche Form kann eine hierbei getrost weglassen: Die Ausgrenzung des Kunsthandwerks,
des Dekors und der Mode aus den Künsten fällt zusammen mit dem Ausschluss der
Frau aus dem öffentlichen Leben. Das ganze Konzept ist daher für künstlerisch
tätige Frauen nicht anschlussfähig.)
Fine Art |
Das "neue" Rijksmuseum also wollte ich sehen
und mit eigenen Augen und Sinnen prüfen, wie hier zusammen gezeigt und gedacht
wurde, was eben zusammengehört: die Werke Vermeers und Rembrandts und Hals,
ebenso wie die Gläser und Tassen, die Taschen und Hüte, die Puppenhäuser und
Schiffsanker, die Vitrinen und Kleiderschränke. Ich kann nun bestätigen, was
andere schon geschrieben haben: Diese ungewöhnliche Präsentation der
Sammlung ist nicht nur überzeugend, sondern wirklich belehrend, überraschend, begeisternd. Das Rijksmuseum, wie es
sich jetzt präsentiert, könnte (und sollte, wie ich meine) Vorbild werden für
andere Häuser, für eine veränderte Museumskultur, die sich verabschiedet von
der Idee der „autonomen Kunst“ und stattdessen wieder – wie auch schon die letzte documenta – Zusammenhänge
aufzeigt und Fragen aufwirft, statt eine (wahre?) „Geschichte
der Kunst“ erzählen zu wollen, die auf Ausscheidung und Abspaltung
beruht, auf der Definition dessen, was nicht „fine art“ ist und also nicht
gezeigt werden braucht.
Dabei ist das Rijksmuseum gerade auch darin
vorbildlich, dass darauf verzichtet wurde, möglichst viel vorzeigen zu wollen.
Von den über eine Million Werkstücken, die das Museum besitzt, werden nicht
einmal 8000 gezeigt. Doch zu den „Meisterwerken“ aus der Sammlung, die
ausgestellt werden, zählen Landschaftsbilder von Jacob Ruisdal genauso wie
silberne Wildmühlen als Tischdekoration, gehört die „Nachtwache“ von Rembrandt ebenso
wie ein prunkvoller Kachelofen, eine vergoldete Schale genauso wie ein
Stilleben von Van Dijck. Im Rijksmuseum wird dieser Zusammenhang auch im
dritten Stock nicht aufgehoben, in dem Werke aus dem 20. Jahrhundert zu
sehen sind: Jugendstilmöbel, Art deco und Expressionismus, Mondrian und
Baupläne, eine Propellermaschine und die Malerinnen der „Amsterdam Joffers“ wie Elizabeth
Ansingh.
Im Rijksmuseum liefern die
kunsthandwerklichen Artefakte, die Möbel, Kleidungsstücke und Schmuckstücke
nicht den „Kontext“ für die „große Kunst“, sondern werden mit dieser in einen
gleichberechtigten Dialog gebracht. Die „hohe Kunst“ dominiert nicht. Sie
erzählt nicht die eine, die „wahre“ Geschichte (der Kunst). Erzählt wird, wie
die Kunstwerke und kunsthandwerklichen Objekte beauftragt, hergestellt,
gebraucht, gehandelt wurden, wer sich in ihnen darstellen ließ und in welchem
Rahmen, wozu sie benutzt wurden und wie sie an Wert gewannen oder verloren
(nicht nur im finanziellen Sinne). Die Kunst unterhält, bestätigt, verwirft,
kritisiert, belohnt, schließt aus, grenzt ein: Sie ist Teil des
gesellschaftlichen Diskurses. Sie existiert nicht außerhalb von diesem. Sie
bedient ihn, benutzt ihn, verändert ihn. Das wird hier sichtbar. Für eine
Gesellschaft, für die niederländische Gesellschaft, die sich hier, im
Rijksmuseum ihrer eigenen Geschichte/n vergewissert und stellt. Dabei wird nicht
ausgeklammert, wie sich der Reichtum der Niederlande dem Kolonialismus
verdankt, wie dies auch eine Geschichte der Ausgrenzung und Enteignung anderer
Kulturen ist. Die Geschichte, die das Rijksmuseum erzählt, wird kenntlich
gemacht als eine, die nicht mehr vorgibt und nicht mehr vorgeben will, die Geschichte zu sein. Es ist keine
Geschichte der Notwendigkeiten oder gar des Fortschritts, keine Geschichte, in
der die Kunst „zu sich selbst“ kommt oder zum Erkenntnismedium wird, die hier ausgestellt ist. Kunst,
wie sie hier präsentiert wird, ist Teil des Lebensvollzugs, des Alltags, der
Feste und des Brauchtums, der Technik und der gesellschaftlichen
Repräsentation. Sie verwandelt sich durch den Blick, den die Betrachterinnen
und Betrachter auf sie werfen, durch die Art und Weise, wie die sie nutzen
oder gerade nicht nutzen wollen oder können, wie sie sie in aktuelle
Lebensformen integrieren oder unmittelbar ins Museum oder Sammlerdepot
entsorgen.
Jan Vemeer: Der Liebesbrief |
Im Rijksmuseum sah ich ein Bild wieder, das
mich im Jahr 1987 über ein halbes Jahr beinahe Tag und Nacht beschäftigte: „Der Liebesbrief“ von Vermeer. Ich sollte dazu während einer Exkursion nach
Amsterdam im Museum ein Referat halten. Ich weiß nicht mehr, was ich den
Studienkolleginnen damals erzählte. Die Unterlagen zu diesem Referat sind
irgendwann während der Umzüge seither verloren gegangen. Das Bild erzählt eine
Geschichte und erzählt sie nicht. Es lässt den Voyeur, in dessen Rolle es die
Betrachterin zwingt, unbefriedigt. Zugleich, indem es den Moment des Schauens
festhält, im Zauber dieses Einblicks aus dem Dunkel in das hell erleuchtete
Zimmer, führt es auf paradoxe Weise das Lauschen in den Blick ein. Man spitzt
die Ohren und hört – Nichts. Man sieht – Alles. Und: Nichts. Eine Verschwörung.
Eine Beschwörung. Es geschieht etwas, das nicht geschieht. Der Moment auf der
Leinwand ist ewig und - nicht. Ein
Augenblick und – für immer. (Ich bin froh, dass ich Bilder (und Texte) nicht
mehr analysieren (also zerstückeln) muss. Es war ein wunderbares Wiedersehen.)
Auch mit Jan Steen, freilich, dem feinen
Humoristen des Alltags, der so oft hinter dem gefeierten Dreigestirn Rembrandt,
Vermeer, Hals im Schatten bleibt. Seine „Leidener Bäcker und Bäckerin“ haben es mir diesmal besonders angetan. Dann: Die riesigen Puppenhäuser, die im 17. Jahrhundert kein Spielzeug für Kinder, sondern
Damenunterhaltung waren. Spielhäuser, in denen in Miniatur das Leben detailgenau
nachgebaut wurde. Ein filigranes Arrangement, gestellte Szenen häuslicher
Eintracht, geselligen Beisammenseins, des privaten Lebens, das hier im Zentrum
der Selbstverständigung steht. Wer diese Frauen waren, das zeigte sich ihnen in der Ausstattung ihrer (Spiel-)Häuser, in der Gestaltung ihrer Küchen und
Wohnzimmer, ihre Ankeideräume und Speisekammern.
Am Ausgang des Rijksmuseums steht eine
Standuhr. Sie ist leicht zu übersehen. Das Ziffernblatt wird jede Minute neu
geschrieben. Eine Hand wischt scheinbar von innen, aus dem Inneren der Uhr, das
alte Blatt weg und schreibt das neue hin. Sie geht ziemlich genau, diese Uhr. Das
Zeigeblatt wird improvisiert. Hingehuscht. Skizziert. Was die Kunst ist und
wir, das hat vor allem mit der Zeit zu tun. Nicht mit der Geschichte. Geschichte
ist nur die Art und Weise, wie wir Zeit gerade verstehen. Und aufmalen. Oder sticken. Oder Glas blasen. Wer
aus dem Rijksmuseum heraustritt, kommt an dieser Standuhr vorbei. Die meisten
müssen lachen, wenn sie erkennen, was die Hand im Inneren des Gehäuses zu tun
scheint, Minute für Minute. Auch das Messen der Zeit in Minuten und Stunde ist
eben ein vergängliches Konzept. Das nächste Mal im Rijksmuseum wird etwas
anderes zu sehen sein, eine andere Geschichte zu erzählen. Und für die Nächste.
Den Nächsten. Jederzeit.
Von dem "oft im Schatten bleibenden" Jan Steen hängt bei mir jahrzehntelang das dem Vermeerschen "Liebesbrief" irgendwie korrespondierende Gemälde "Die Liebeskranke" an der Wand. Die holländische Genremalerei ähnelt sich in vielen Motiven. Der Räumlichkeit schaffende Blick in irgendwelche Flure und Zimmerfluchten, das zumeist schachbrettförmige und die Dreidimensionalität unterstützende Parkett und das Anhalten der Zeit in einem Augenblick der Kommunikation. Ein Brief wird übergeben, bei Steens Liebeskranker macht der Arzt eine ähnliche Handbewegung, als könne er bei dieser Diagnose auch nicht helfen. Eine weitere oft anzutreffende Parralele sind die teuren, pelzbesetzten Umhänge der Damen, meist in einem Gelbton, wobei wohl nur der Blick aufs Original feststellen könnte, ob das Vermeersche Gelb dem Steenschen so weit überlegen ist. Ein wenig habe ich mich immer mit den dunkelbraunen Farbtönen der Melancholie identifiziert, immer dann, wenn ich an der gleichen Krankheit litt wie die "Liebeskranke". Wobei Steen das mehr von der humorvollen Seite nimmt. Ein Moment der Kommunikation, das Lesen oder die Überbringung einer Nachricht, zumindest zwei weitere Bilder von Vermeer haben den Brief zum Mittelpunkt: "Lady Maidservant holding letter" und "Brieflesendes Mädchen am offenen Fenster". Das letztere spiegelt ihr Gesicht im Bleiglasfenster.
AntwortenLöschenDanke für den schönen Beitrag. Sein besonderer Reiz liegt darin, sehr persönliche Eindrücke mit soviel Sachverstand zu paaren.
Herzliche Grüße und ein gutes, vor allem ein möglichst krankheits- und schmerzfreies 2014 wünsche ich Ihnen, lieber Bücherblogger.
LöschenJa, die Ähnlichkeiten, die so offensichtlichen Beziehungen zwischen den Malern des "Goldenen Zeitalters" sind ungeheuer spannend. Vielleicht muss man/sollte man gar keine Hierarchie aufmachen wollen, nicht abgleichen, ob Vermeer "überlegen" ist, sondern einfach das je Eigene gelten lassen und genießen, nicht wahr? Jan Steens Bilder sind was ganz Besonderes: Vordergründig zu seiner Zeit (wahrscheinlich?) moralisierende Warnungen vor Trunksucht, Übermut, Liebestollheit und allen möglichen anderen unvernünftigen Anwandlungen, sind sie heute vordergründig erst einmal komisch. Und gerade dies interessiert mich - die Faszination am Unvernünftigen und die Angst vor ihr, die genaue Beobachtung der menschlichen Schwächen, Liebhabereien, Tollheiten, Freuden, Wahnvorstellungen - und die Idee, die Kunst habe den Auftrag, die Menschen mit sich selbst bekannt zu machen, um sie zu schützen. Ganz ähnlich wie - viel später - Hogarth. Es sind Gesellschaften im Aufbruch, sozial mobil, die Verlierer_innen und Gewinner_innen produzieren, in denen (noch?) vieles möglich erscheint, die alten Ordnungen sich auflösen und neue etablieren. Momente der Offenheit, die immer mit Angst verbunden sind. Vermeer schließt den Augenblick ein, verewigt ihn. Jan Steen eröffnet ein Gespräch. Man ist nicht immer liebeskrank. Aber immer wieder, nicht wahr? Das hat beides eine Wahrheit für sich. Jeder Moment kann lächerlich gezeigt werden oder tragisch. Sublim oder komisch.
Liebe Grüße
M./J.