Samstag, 22. Februar 2014

VOR DEM RUHM. Die Beatles als junge Punks

Beatles 1962

Ein Beitrag von Morel


Jede Biographie verwandelt Zufälle in Notwendigkeit, indem sie das Nacheinander der Ereignisse in eine Geschichte verwandelt. Wer aus wissenschaftlicher Redlichkeit oder avantgardistischem Trotz dieses Zauberkunststück zu unterlaufen versucht, verliert nicht nur den Faden sondern oft auch sein Publikum. Aber eine Biographie, die ganz auf die Sandkörner des Lebens verzichtet, Sackgassen meidet, die nirgends hinführen, ist auch langweilig. Gelungen ist die Lebensbeschreibung, die das Gefühl wach hält, dass alles auch ganz anders hätte ausgehen können.

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Mark Lewisohns erster Band einer geplanten Trilogie der Beatles (Tune in. The Beatles. All these years. 1) ist in diesem Sinne gelungen, gerade weil er das Tempo in der Geschichte des schon oft atemlos erzählten Aufstiegs von vier Jungen aus Liverpool zu Weltruhm an den richtigen Stellen zur Zeitlupe verlangsamt. Die Frage ist ja, gibt es überhaupt noch etwas Neues über die Beatles zu erzählen? Eigentlich nicht. In groben Zügen ist aus Film, Fernsehen und tausend Artikeln bekannt, wie sich John und Paul auf einem Gartenfest kennengelernt haben, wie George hinzustieß und nach den ersten Erfolgen Pete Best durch Ringo ersetzt wurde. Der Rest ist Geschichte: Massenhysterie, schreiende Teenager, Konzerte, Drogen, der Rückzug ins Studio, Indien und schließlich am Ende der Streit um Geld, das Erbe, den Mythos. Aber jeder Mythos wurzelt in einem Ort, der nicht beliebig ist. Bei den Beatles heißt dieser Ort Liverpool und hier beginnt Lewisohns Biographie und ich kann mir kaum vorstellen, dass sie jemals Liverpool verlassen wird.

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Mein biographisches Wissen über die Beatles stammt aus einer inzwischen rechtschaffen zerfledderten Bildband in LP-Größe, der so beginnt: "Als John Lennon Paul McCartney zum ersten Mal traf, waren beide vierzehn." Schon dieser Satz ist schlicht falsch, wie man bei Lewisohn nachlesen kann: sie waren nicht beide vierzehn, John Lennon war mehr als ein Jahr älter und dieser Unterschied spielte bis zum Ende der Beatles eine Rolle. John Lennon war der lauteste und arroganteste, gleichzeitig aber der innerlich unsicherste und verletzlichste der Beatles, und in den ersten Jahren ihr unbestrittener Anführer. Immer wenn Entscheidungen zu treffen waren, warteten die Anderen auf ihn. Lewisohn vergleicht die Dynamik der Gruppe mit einer Kette. John wählte Paul, Paul brachte später George in die Gruppe, George schließlich war ganz entscheidend dafür, dass Ringo kurz vor Ende des ersten Bandes dazu stiess. Lewisohn schreibt nichts komplett Neues, aber durch sein Interesse an Details, Fakten, Orten und Einflüssen korrigiert er das Bild das sich die Millionen Beatles-Fans von ihrer Gruppe gemacht haben. Die Biographie ist aber auch für Nicht-Fans interessant. Die Beatles veränderten eben nicht nur die Musikgeschichte (die vielleicht am wenigsten), sondern die Gesellschaft. In einer Zeit, die von Stagnation und Zukunftsängsten geprägt ist, mag es vielleicht interessieren, was die Voraussetzungen für diese Veränderung waren.

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Eine Erkenntnis aus dem ersten Band: es war kein Generationenkonflikt, der im Aufstieg der Beatles aufbricht. Viele der Eltern der Beatles waren selber musikalisch, haben in Kneipenbands Unterhaltungsmusik gespielt und das "Hobby" ihrer Söhne zum Teil tatkräftig unterstützt (wenn auch keiner sich gewünscht hätte, dass sie daraus einen Beruf machen). Die größten Widerstände gegen den Rock'n Roll kamen von Johns Tante Mimi, bei der er aufwuchs (seine Mutter Julia dagegen lebte bis zu ihrem frühen Tod ein Leben gegen den Strich der Konventionen ihrer Zeit). Aber auch die Konflikte zwischen John und Mimi führten nicht zum Abbruch der Beziehungen. Widerstände gegen die Musik der Beatles kamen nicht von ihren Eltern, sondern von den Oberschichten Englands (Lehrern, Journalisten, BBC-Musikdirektoren u.a.). Hier wurde diese Musik, die in Liverpool eine der unteren Mittelschicht war, als Krach wahrgenommen. In den frühen Berichten über Rock und Beat standen daher Gewalttaten im Umfeld der Konzerte und weniger die Musik im Vordergrund. Dieser Klassenkonflikt spiegelt sich auch in einem anderen, der für den Aufstieg der Beatles wesentlich ist: dem zwischen dem Norden Englands, insbesondere Liverpool, und dem Süden mit London.

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Liverpool hat eine Hauptrolle in der Geschichte der Beatles, wie sie Lewisohn erzählt. Bombenangriffe der deutschen Luftwaffe hinterließen in der Hafenstadt Ruinen, die noch in den 60er Jahren das Stadtbild prägten, während der Rest des Landes boomte. Die Vernachlässigung durch die politische Klasse prägte das Klima in Liverpool, Die Aufsässigkeit bricht dann zum Beispiel nach der ersten Plattenaufnahme der Beatles auf, wenn sie der Produzent George Martin distanziert-höflich fragt, ob es etwas gebe, dass ihnen nicht gefallen habe. "I don't like your tie", lautete die legendäre Antwort von George. Die Beatles, das unterscheidet sie von vielen Popgruppen unserer Tage, waren kein Produkt der schon damals existierenden Popindustrie. Sie brachten aus ihrer Stadt an der Peripherie aber mit Hafenanschluss an das Königreich des Rock'n Roll in Memphis und Detroit genügend Widerstand und Witz mit, um nicht alles mit sich machen zu lassen. Lewisohn beschreibt die Atmosphäre Liverpools in den 60ern atmosphärisch genau und mit Blick für die Details, die dann in späteren Songs wie Penny Lane plötzlich nach Surrealismus klangen.

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Auch wenn es sich um eine Biographie der Beatles handelt stehen nicht nur vier junge Männer als aufsässige Punks im Mittelpunkt. Lewisohn erzählt von Müttern und Vätern, Freundinnen und Fans, Hamburger Unterwelt-Größen und Liverpooler Barbetreibern, aber auch dem schwierigen Doppelleben des homosexuellen Managers der Beatles, Brian Epstein. Gerade hier hat das Buch seine Stärken, die es vom üblichen Starkult abheben.  Die robusten, die Familie dominierenden Mütter haben ebenso ihren Auftritt, wie die mehr als einmal schäbig behandelten Freundinnen der Beatles. Cynthia, die Freundin Johns, nahm seine Gewalttätigkeit ebenso hin wie seine Untreue. Paul war äußerlich charmanter, aber genauso verlogen. Als seine Freundin Dot schwanger wird (ein in den Zeiten vor der Pille häufiges Schicksal), sagt er seinen Eltern nichts und ist froh, als es zu einer Fehlgeburt kommt. Als Cynthia schwanger wird, reagiert John unerwartet konsequent und bietet ihr sofort die Hochzeit an, die dann zwischen Konzertterminen auf einem Standesamt absolviert wird. Danach versteckt sich Cynthia monatelang in einer Wohnung Brian Epsteins, um Diskussionen über ihren wachsenden Bauchumfang aus dem Weg zu gehen. Musikalisch waren John und Paul Frauen gegenüber aufgeschlossener - ein großer Teil der Magie ihrer frühen Songs geht auf die Imitation von Mädchenstimmen zurück, etwa die Adaption der revolutionären Songs von Carole King und Gerry Goffin für Tin-Pan-Alley-Girlgroups wie die Shirelles. "Will you love me tomorrow?" fragen die sich zurecht skeptisch vor dem ersten Sex.  Der entgegen allen Mythen der angeblich prüden 50er nicht unbedingt in der Hochzeitsnacht stattfand.

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Als sich auf den letzten Seiten von Lewisohns Biographie das Jahr 1962 dem Ende zuneigt, scheint eigentlich alles über die Beatles gesagt, obwohl bisher nur eine, eher durchschnittliche Single erschienen ist. Was die Beatles konnten, haben nur einige wagemutige Fans in Kellerlokalen in Liverpool und Hamburg erlebt. Für den Rest der Welt sind die Beatles und ihre Musik unbekannt oder ein reines Modephänomen. Aber Lewisohn, der mehr als zehn Jahre an diesem Band gearbeitet, unbekannte Quellen erschlossen und vor allem mit Menschen gesprochen hat, mit denen noch nie jemand geredet hatte, erschließt das Phänomen der Beatles eben aus seinen Anfängen. Aus diesen Ursprüngen folgt alles andere. So spannend wie dieser erste Band werden die folgenden wahrscheinlich nicht sein.




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