Donnerstag, 26. Juni 2014

SCHÖNE KÖNIGIN UND NACKTE KAISER. Ein Abend mit Marlene Streeruwitz im Literaturhaus Frankfurt



Gestern Abend stellte Marlene Streeruwitz ihren Roman „Nachkommen.“ im Frankfurter Literaturhaus vor. „Nachkommen.“, wie schnell klar wurde, ist die erste Hälfte eines Doppelroman-Projektes: Im Herbst wird ein Roman der Protagonistin Nelia Dehn aus „Nachkommen.“ erscheinen: „Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland“, geschrieben von Marlene Streeruwitz als Nelia Fehn. „Nachkommen.“ ist auf jener Ebene, die der Literaturbetrieb überwiegend wahrnehmen wird, wie ich wage zu prophezeien, ein Roman über den Literaturbetrieb. Wenn er allerdings nur das wäre, bliebe der Titel  irreführend. Ich glaube allerdings, gestern Abend verstanden zu haben, dass es für Marlene Streeruwitz vor allem ein Familienroman ist, vielleicht einer, der sich in die neu entstehende Traditionslinie der matrilinearen Familienromane einreiht.

Ich fange gerade an zu lesen, kenne also bisher nur jene beiden Passagen, die Marlene Streeruwitz gestern Abend vorgetragen hat: Als erstes den brillant geschriebenen Anfang des Romans, der Nelia am Sarg ihres Großvaters vorstellt, einen Bewusstseinstrom, in dem sich die Erinnerung an die Beerdigung der früh verstorbenen Mutter mit den Empfindungen beim Anblick des toten, alten Mannes verknüpfen. Die patriarchale Familie, aus der „die Mami“ kam, erscheint als ein Gefüge, das einengt und unterdrückt, aber von dem her doch die Einzelne wenigstens wahrgenommen wird: „Der Opi hatte ihr wenigstens zugesehen. Bei ihrer Trauer. Mit so einem prüfenden Blick. Wie bei einem Experiment. Wenigstens. Den Blick vom Opi. Diesen Blick hatte sie nun verloren. Das war ihr Verlust.“

Die 1950 geborene Streeruwitz schlüpft  in „Nachkommen.“ nicht in die Rolle der 20jährigen Nelia Fehn, sondern hockt dieser als Autorin sozusagen über der Schulter oder gar hinter der Stirn, eine Beobachterin, die sich nicht abschütteln lässt. Nelia steht in diesem Roman, so scheint es mir nach den ersten Seiten, unter diesem strengen und zugleich wohlwollenden, ich möchte beinahe sagen: mütterlichen Blick, der sie begleitet auf ihrer, wie Streeruwitz gestern Abend sagte, „Odyssee“ durch den Literaturbetrieb, auf dem sie die eigene Mutter, die verstorbene Schriftstellerin Dora Fehn, nicht mehr begleiten kann.

Später trug Marlene Streeruwitz dann noch jene Passage vor, an der sich „der Literaturbetrieb“ wohl am meisten stößt und ergötzt: Jenes Kapitel nämlich, in dem Nelia Fehn, die für ihren ersten Roman „Die Reise einer jungen Anarchistin durch Griechenland“ für den Deutschen Buchpreis nominiert ist, an der Preisverleihung teilnimmt. Das Hollywoods Oscar-Verleihung nachäffende Prozedere ist lustig und entlarvend beschrieben. Der eine oder die andere wird sich sicher auch wiedererkennen oder wiedererkannt werden. Mich, die ich die „Betroffenen“ nicht kenne, muss das nicht weiter interessieren. Mich interessiert, wie am Beispiel des Literaturbetriebs Mechanismen einer patriarchalen und kapitalistischen Ordnung entlarvt werden, die es auch in jedem anderen kommerziellen „Betrieb“ und jeder anderen marktkonformen Branche gibt. Einziges Unterscheidungsmerkmal der Buchbranche ist die groß- und bildungsbürgerliche Attitüde der Protagonisten, die ihre Privilegienpflege, Macht- und Marktstrategien mit pseudophilosophischem und –ästhetischem Gefasel aufpeppen. Das verleiht deren Stewardessen-Träumen und Macho-Allüren halt noch einen zusätzlichen Ekelfaktor, sozusagen – in ihrer eigenen schwülstigen Terminologie – eine „Ästhetik des Hässlichen“, deren Pointe es ist, dass die Entstellten sich für besonders schön halten. Ein Redner bei der Buchpreisverleihung in „Nachkommen.“: „Er schaute sich nach den Kandidaten um. Suchte sie und sagte ihre Namen. Bei den Frauen. Er sagte weiter Kandidat. Sie war also der Kandidat Nelia Fehn. Sie rief ´Kandidatin.´ Der Redner verstand sie nicht. Man rief ihm zu, dass es sich um eine junge Frau handele. Um eine Kandidatin. Der Mann schaute verärgert. Er verstand nicht, worum es ging. Dann begriff er und lachte. Für ihn sei das eines dieser Ärgernisse. Dass man die männliche und die weibliche Form verwenden müsse. Er fände das unästhetisch. Die junge Dame solle das nicht gegen sich gerichtet sehen. Es ginge um die Ästhetik der Rhetorik. Da habe das keinen Platz. Die Frauen seien ja doch immer mitgemeint. Dann ging er. Er hatte sich aber gefangen und sich launisch und jovial an sie gewandt.“

Die Kaiser sind nackt. Sie merken es aber (noch) nicht (alle). Sie geben sich weiterhin launisch und jovial. So auch gestern Abend - :

Es war ein toller Abend mit einer klugen, schlagfertigen und schönen Königin Marlene Streeruwitz, die vieles sagte, was zum Lachen, zum Nachdenken, zum Kopfschütteln und zum Weitermachen anregte. Und mit einer Interviewerin Ina Hartwig, die sich Mühe gab und Streeruwitz offensichtlich sehr schätzt, aber gestern Abend vor allem daran mitwirkte, dass ein schaler Nachgeschmack blieb. Denn da saßen sie eben, die nackten Kaiser des Betriebes und freuten sich und gaben sich jovial. (In der ersten Reihe zum Beispiel Joachim Unseld.) Sie lächelten großmütig, als Streeruwitz erzählte, dass es die Wut über einen Satz von Adalbert Stifter gewesen sei, der sie zum Schreiben gebracht habe: „Nach vier Jahren gebar sie ihm einen Sohn.“ Diese Wut, die diesem Schreiben zugrunde liegt, ist noch spürbar, aber sie lief an diesem Abend weitgehend ins Leere.

Hartwig wollte dem Erzeuger der Nelia Fehn, der offenbar auch im Roman auftritt, nicht absprechen, dass er die Mutter doch „irgendwie“ geliebt habe, aber Streeruwitz schmetterte das ab: „Manche Männer lieben ja alle Frauen und man muss das dann auf sich beziehen.“  Und sie beharrte darauf, das „Nachkommen.“ ein Frauenbuch sei, gerade weil die Protagonistin die Erbschaft des Erzeugers ablehne, indem sie bewusst das Erbe der Mutter wähle. Erst jetzt sei ein solches Schreiben, sei eine solche Protagonistin möglich geworden, sagte Streeruwitz, weil erst jetzt eine Generation herangewachsen sei, die die Wut der Mütter weiter trage, ohne sich wieder und wieder in die Verantwortung für  „Männer-Sachen“ nehmen zu lassen. Und sie klagt an: Die Generation der 68er-Männer in ihrem „kleinlichen Desinteresse“  an der Wut der Frauen.

Streeruwitz darf das alles sagen. Sie darf es nicht nur, es wird erwartet von ihr. Dafür steht sie, das ist ihr„Markenkern“ im „Betrieb“, in dem sie eine Größe ist, verdientermaßen. Sie bleibt Feministin und ist eine große Autorin, aber dieses „und“  muss stets betont werden. Dafür war gestern Abend Ina Hartwig zuständig: Für die Einordnung des Streeruwitz´schen Werke in die Literaturgeschichte der Moderne, die Großstadtliteratur, die Verknüpfungen mit der Kunstgeschichte und den Mythen des Abendlandes (Griseldis). Ambiente, Tonfall und Vokabular schufen eben jene gediegene Atmosphäre mit all den Anklängen an groß- und bildungsbürgerliche, patriarchale Traditionen, in der Marlene Streeruwitz´ Anliegen, dem  Niedergang dieser Welt  nicht - im Verein mit den nackten Kaisern - nachzutrauern, sondern auf das Neue, auf die erst zu begründende postpatriarchale Tradition zu hoffen, beinahe wirkungslos bleibt. Denn dort, in solchem Umfeld, fühlen sich die nackten Kaiser noch sicher genug, um Streeruwitz´  kalt vorgetragener Wut und ihrer radikale Absage daran, sich als Frau zum Sprachrohr für „Männer-Sachen“ machen zu lassen oder auch durch Männer „mitgemeint“ gesagt zu werden, nicht mal zu widersprechen.


Die lesen das, dachte ich, als Streeruwitz die Passage über die Buchpreisverleihung vorlas, als Ironie. Das uneigentliche Sprechen ist jedoch genau jenes, das bei Streeruwitz nicht vorkommt. Es ist ja nicht lustig, weil es nicht so gemeint ist, sondern es ist lustig, dass es so ist und ernst genommen wird. Sie sei, sagte Marlene Streeruwitz gestern Abend, eine Anti-Utopistin. Aus dieser Haltung heraus verbietet sich ein geschlechtsneutrales Schreiben. Es gibt in unserer Kultur, wo an den meisten Orten, an denen sich Macht und Geld versammeln, noch immer nicht mit Frauen gerechnet wird, kein geschlechtsneutrales Erleben (Vgl. z.B. hier: ) Wenn es die Aufgabe der Literatur ist, wie Marlene Streeruwitz sagte, ein „Archiv der Gefühle“ bereitzustellen und zu erweitern, dann fehlen in diesem Archiv, wie wir es kennen, noch immer vor allem die Gefühle der Frauen, die nicht archiviert wurden, von denen es immer noch viel zu wenige geschafft haben in den Kanon, der tradiert wird. Marlene Streeruwitz gehört zu denjenigen, die es geschafft haben. Gestern Abend konnte ich beobachten, was – solange das Patriarchat nur bröckelt, aber sich noch hält – der Preis dafür ist.

 ***

Eine Buchbesprechung wird - hoffentlich - folgen.

Bis dahin - hier noch mal die Links zu meinen Rezensionen zu:
"Die Schmerzmacherin": Selbst-Los. Schmerz-Haft

und 

"Das wird mir alles nicht passieren...Wie bleibe ich Feministin": "Es war nicht wegen..."

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