Freitag, 24. Oktober 2014

KNIEFREI ("Warum ans Meer?")

Der Herbst nahte. "Kurzmäntel sind im Angebot.", hatte die L. gelesen. Seit sie die B. kannte, brauchte sie keine Kurzmäntel mehr. Kurze Mäntel in bonbonen Farben passten zu schmalen, beigen Hosen und hochhackigen braunen Pumps. Augenmerk auf Fessel-Spiele. So etwas trug die L. nicht mehr, seit die B. sie im Griff hatte. Sie hielt es jetzt mit dem Knie, das ein grüner Rock umspielte. "Ich hab dein Knie gesehen, das durfte nie geschehen.", flüsterte die B. ihr ins Ohr und knabberte am Ohrläppchen. Immer links. "Ich will dich in einem schulterfreien Kleid sehen." Die L. lachte. Sie durchlief die Therapie, die ihr die B. verpasste, im Schnelldurchlauf. Nur dass die B. selber nicht wusste, wohin das führen sollte. "Ich wünschte," probierte sie aus, "ich hätte dich wie ein Schwester geliebt." Der L. stiegen die Tränen in die Augen. "Wir hätten Freundinnen sein können. Dann wäre alles anders gekommen." Als ob sie wüssten, was kam oder gekommen wäre. Als lebten sie in der Zeit, die sich davon stehlen konnte. Sie hatten die Anstalt verlassen, bildeten sie sich ein. Die L. hatte der B. einen Entlassungsschein geschrieben und ihre Stellung gekündigt. 

Sie waren ans Meer gezogen. "Warum ans Meer?", hatte die L. gewagt zu fragen. Aber die B. hatte das mit einer flüchtigen Bewegung weggewischt. Was sonst? Wo die Schiffe anlegen könnten, wenn... Und unsere Flügel... "Was weiß ich schon", dachte die B. Über uns braut sich etwas zusammen. Vielleicht werden schon bald wieder Kutschen über das Kopfsteinpflaster holpern, hinunter zum Hafen. Oder auf dem Salzhaff könnte ein UFO landen. "Das ist lächerlich.", ermahnte sie sich selbst, wenn die L. schlief. Dennoch: Warten ist ein Glück, dem wir uns anvertrauen, weil wir müssen. Wir tun so, als seien wir entkommen. Solange es geht. Auf dem Kirchturm zitterte im frischen Wind der Hahn. Der Himmel stand hoch und blau, als verdecke er nichts und niemand. In der Nacht funkelten kalt die Sterne am Firmament. Die B. wirbelte um die eigene Achse, bis die Welt sich drehte und Sternschnuppen kreisten. Fielen die Schuppen von ihr ab? Eines Tages..."Komm herein", rief die L. in den Garten, "denn: Gott ist tot." Das war nicht zu glauben, solange es wahr blieb.

In der Zentrale herrschte Verzweiflung. Dass die L. und die B. Liebe spielten, war nicht nur unerwartet, sondern gefährlich. Jede Verbindung, dachte man, so sie je bestanden hatte, war nun abgerissen. Hätte man die beiden mit Gewalt in der Anstalt halten sollen? Es lag einiges an Material gegen die L. vor. Das hätte sich machen lassen, vergleichsweise unauffällig. Dr K., noch aus dem Ruhestand, hätte das Gutachten so gut schreiben können wie der H., der ohnehin einiges gut zu machen hatte. Doch hatte man davon abgesehen. Man glaubte fest daran, die L. auch so loszuwerden. "Die B. wird sie schon bald wieder sitzen lassen. Und dann..." Diese Auffassung hatte sich durchgesetzt. "Die B. kann nicht treu sein." Dabei war gekichert worden und geflüstert. Diese Leute ließen sich leicht lenken. Die Vivipara seufzte, wenn sie daran dachte. Trotzdem fühlte auch sie sich verwirrt: Die Zartheit, mit der die B. die L. in die Kissen drückte... Sie verstand es gerade deshalb nicht mehr: Wonach suchten sie? Was war noch mal ihr Auftrag gewesen? Gott und die Liebe. Falls wir nicht Gott sind... Die Vivipara zuckte die Achseln. Na und? Es erschien ihr immer unbedeutender. Sie las Epikur. Den konnte man so gut missverstehen wie jeden. Die Menschlichen blieb unbegreiflich. Sie wollte es nicht mehr wissen.

Von oben kam nichts. In all diesen Jahren.


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