Dienstag, 18. August 2015

KLEINE, RUNDE EHEFRAUEN. Zwei Sommer auf Rügen

Verrisse schreibe ich nicht. Deshalb wird dieser Post eine Mischung: Impressionen einer Badereise im Sommer 2015, vermischt mit Lektüreeindrücken von einem ärgerlichen, wenngleich auch amüsanten Buch, das ebenfalls eine Reise nach Rügen beschreibt: "Elizabeth auf Rügen", erschienen 1904. Dieser "Roman" gilt als "hinreißend" und "bezaubernd" (Verlagswerbung). In Zusammenfassungen las ich auch, die Protagonistin wandere "allein" um die schöne Ostseeinsel. Das ist schlicht falsch: Die Ich-Erzählerin Elizabeth, die nicht zufällig große Ähnlichkeit mit ihrer Autorin Elizabeth von Arnim hat, lässt sich von Kutscher August auf der Insel herumfahren und von Dienerin Gertrud die Koffer ein- und auspacken, die Badesachen zurechtlegen und die unerquicklichen Verhandlungen mit den Hotel- und Pensionswirtinnen führen. 



Von Arnims "Rügen-Abenteuer" sind ein interessantes Beispiel dafür, wie durch eine weibliche Autorin als Kronzeugin ausnahmslos alle weiblichen Figuren der Lächerlichkeit preisgegeben werden: die um Emanzipation ringende Cousine Charlotte ebenso wie die unermüdliche, sich als "Perle" aufopfernde, "unansehnliche" Dienerin Gertrud, die fleißigen, aber schlichten und schlecht kochenden Wirtinnen der Pensionen oder die bigotte, britische Bischofs-Gattin Mrs. Harvey-Browne. Selbstverständlich: Auch die männlichen Figuren, Charlottes berühmter Gatte Professor Nieberlein oder Ambrose, der Sohn der nervenden Harvey-Browne, genannt Brosy, werden von der Erzählerin ironisch dargestellt, doch anders als die weiblichen Figuren mit jener "mütterlichen" Nachsicht geschildert, die bis heute eine der stabilsten Säulen des Patriarchats ist. 

"Elizabeth auf Rügen" wird von einer bornierten Erzählstimme getragen, die nicht mal klammheimlich auf das zwinkernde Einverständnis einer patriarchalen (männlichen wie weiblichen) Leserschaft schielt, die sich mit dieser patent-fröhlichen Erzählerin über Bigotterie, Wissenschaftssprache und Emanzentum gleichermaßen lustig macht, den eigenen privilegierten Status ungeniert genießt und heiter-charmant ausnutzt, gelegentlich putzig aus dem gewohnten Trott ausschert (nämlich in diesem Fall als Gattin und Mutter eine Reise ohne Ehemann unternimmt), um desto sicherer und gestärkter die Normativität (hier: britisch, pseudo-weltoffen, großbürgerlich und/oder adelig, heterosexuell) zu vertreten. 




Im Sommer 2015 ist Binz, der Hauptbadeort der Insel Rügen, überfüllt mit Badegästen, die meisten von ihnen Familien mit kleineren Kindern oder ältere Paare. Und damals wie heute: Heteronormativität rules everywhere. Alleinreisende möchte eine hier im Sommer nicht sein. Auf der Promenade ist nur selten ein Durchkommen, die Hauptstraße boomt, aber schon in den Seitengassen sieht´s mau aus. Hässliche Badeklamotten, die in der großen Stadt nur in Ein-Euro-Kaufhäusern angeboten werden könnten, werden hier zu Höchstpreisen verhökert. Man will irgendwie ein bisschen auf Haute Couture machen. Das Publikum ist aber nicht danach, weder figürlich noch preislich. Männer strecken am Strand ihre Bäuche vor und in die Sonne. Die meisten Frauen ziehen ihre ein. Wie immer gibt es auch hier Ausnahmen von der Regel. Es riecht nach verkohlter Bratwurst und Räucherfisch. Aber eine kann ja auch aufs Meer rausschauen. Oder wandern gehen.

Schon wenige hundert Meter fern von dem hektischen Geschehen wird's still und schön: die Granitz, ein lichtdurchfluteter Buchenwald erstreckt sich zwischen Binz und Sellin. Mitten drin das verwunschene Grabmal eines finnischen Kriegers, an dem schon "Elizabeth auf Rügen" einschlief, bis sie von den Harvey-Brownes geweckt wurde, Mutter und Sohn aus England auf der Suche nach dem deutschen Geist um die Jahrhundertwende. Die Mutter mag Nietzsche nicht, der Sohn schwadroniert prächtig daher über Sein und Sinn und sucht die Begegnung mit einem deutschen, verbeamteten Philosophen, mit dem Elizabeth verschwägert ist und der späterhin - in einem wetterdichten Regenmantel - noch auftauchen wird auf der Suche nach seiner Frau Charlotte, einer deutsche Suffragette, die Streitschriften verfasst, über die sich die Kreuzzeitung (für die unter anderem Fontane schrieb) nicht weniger lustig macht als unsere patente, "bezaubernde "Elizabeth, der der emanzipatorische Furor der eheflüchtigen Charlotte gehörig auf die Nerven geht. 





Durch den märchenhafte Granitz-Wald wanderten auch wir im Sommer 2015 - mit einem Abstecher an den sagenumwobenen schwarzen See, auf dem gelb die Seerosen schaukeln - nach Sellin. Für mich zweifellos der schönste Ort der Insel. Das machen die Seebrücke und die Wilhelmsstraße und die Erinnerungen. Zweimal waren wir mit unseren Söhnen in Sellin. Morgens liefen wir mit unseren Badetaschen eine kurze Strecke die pittoreske Wilhelmsstraße hinauf, jedes Mal wieder überwältigt vom sich plötzlich steil öffnenden Blick auf die See. In einem Sommer verschwanden die Jungs fast vollständig in ihrem Strandkorb. Sie hatten sich Blöcke und Stifte kaufen lassen im letzten Kiosk vor dem Abstieg die "Himmelsleiter" vom Hochufer hinunter in den Sand. Mehr wussten wir nicht. Sie spielten nicht Ball, sie stürzten sich nicht in die Wellen. Gelegentlich hörten wir sie miteinander murmeln, manchmal erklang ein Siegesruf oder ein enttäuschtes "Oh". Über die Tage erfuhren wir, dass sie sich ein Spiel erfunden hatten, eine eigene "Tour de Ostsee": Radsportteams, Bergetappen, Sprints, eigentümliche Bepunktungen, Pannen und Stürze inklusive. Für unseren beschränkten Intellekt war es zu komplex und zu kompliziert. Aber sie waren glücklich und ließen sich nur selten überreden, Ausflüge mit uns zu unternehmen. 

"Elizabeth auf Rügen" und ihre Cousine Charlotte, die einander wenig mögen, weil die eine ihre Ruhe und Naturbeschaulichkeit will und die andere sie zur Emanze bekehren, eint in jedem Fall ihr Standesdünkel und ihr Misstrauen gegen die Lust der anderen, der "einfachen" Frauen an ihren Körpern. Dienstmägde wie Gertrud sind am besten schweigsam und unattraktiv. Die gute Gertrud bleibt immer angezogen und hilft lediglich ihrer "Herrin" zum Bade aus den Kleidern. Versuchungen kann sie stets widerstehen. Ganz anders als "die Mädchen", die Elizabeth auf der Insel Vilm beobachtet, die sich beim Baden "überhaupt nicht zu genieren" scheinen. Elizabeth, die genierliche bürgerlich-adelige Beobachterin, unterstellt den einfachen Mädchen erotische Absichten. Ihre Lust am gemeinsamen Spielen und Toben im Wasser kann sie sich anders nicht erklären, denn als Versuch, junge Männer anzulocken. Auch hier zeigt sich noch einmal, dass von Arnims Blick auf Frauen sich niemals aus einer patriarchalen Sicht löst. Charlotte dagegen, die "emanzipierte" Frau, die theoretisch für die Berufstätigkeit und Unabhängigkeit aller Frauen kämpft und an die weibliche Solidarität über Klassengrenzen hinweg appelliert, kennt keine Gnade für ein Stubenmädchen, das sich nachts heimlich auf der Veranda der Pension mit einem Liebhaber verabredet. Dieses "unmoralische" Verhalten petzt sie nicht nur bei der Pensionswirtin, sondern will diese auch zwingen, die junge Frau zu entlassen. Die gibt ihr gegenüber auch nach, kaum ist die Kutsche mit den feinen Damen jedoch die Straße hinunter gerollt, so berichtet Elizabeth, die Erzählerin süffisant, sieht man das "gefallene" Stubenmädchen oben im Haus die Fenster putzen.


Schon in den Nuller-Jahren führte uns einer der wenigen Ausflüge nach Putbus, von wo der Aufstieg Rügens zum Tourismusmagnet im vorvergangenen Jahrhundert ausging. Fürst Malte, dem die halbe Insel gehörte, gründete die Stadt 1810. Die Leibeigenschaft war erst einige Jahrzehnte zuvor aufgehoben worden, doch die Gesetze, die eine freie Ansiedlung weiterhin verboten und die Beibehaltung der Eigentumsverhältnisse verhinderten eine echte Befreiung der ansässigen Bevölkerung. Fürst Malte schuf eine geweißte, klassizistische Stadt, deren Zentrum der überdimensionierte Circus ist, ein - für die Verhältnisse der Kleinstadt - riesiger, runder Platz, in dessen Mitte sternförmig die Wege zusammenlaufen. Putbus heute ist eine eigentümliche Mischung aus Restauration, Puppenstuben-Nolstagie, kritischer Befragung der Vergangenheit und Verfall. Die meisten alten Häuser tragen Schilder, die ihre Geschichte zusammenfassen. Es lohnt sich, auch durch die Seitenstraßen hinter dem Circus zu spazieren. Auf den Tafeln an den Häusern wird deutlich, wie Maltes Stadtgründung auch einen kleinbürgerlichen Aufschwung auslöste, Möglichkeiten für Handwerker, Ärzte und die Lehrerschaft des am Circus eingerichteten noblen Internats, sich repräsentative Häuser zu bauen. 

Im Sozialismus wurde die berechtigte Kritik am Feudalismus ins Zentrum gerückt. 1960 wurde das Schloss der Putbusser Fürsten weggesprengt. Geblieben sind der herrliche Landschaftspark und die lichtdurchflutete klassizistische Kirche, vor deren großen Fenstern die Hirsche grasen. Der Kapitalismus von heute erfreut sich am verklärten Blick auf eine Vergangenheit, in der alle sich zierlich in Reifröcken auf den Promenaden flanieren sehen, aber keine den Regenschirm über die fürstlichen Häupter halten will. Es wurde sicher viel gefroren und oft gehungert, auch in Putbus, fühlte ich und fröstelte. Ich kaufte mir in einem chinesischen Billigstore einen maritimen Kapuzenpullover und schlenderte durch den Park und eine lange Allee hinunter ins idyllische Neuendorf und weiter, am Bodden entlang, zum Hafen nach Lauterbach, dem ersten fürstlichen Badeort, wo heutzutage vom Kutter aus angeblich die leckersten Fischbrötchen der Insel verkauft werden. Aber Fischbrötchen sind nicht mein Ding. Ich lutschte Lakritze. 

Elizabeth auf Rügen wird auf ihrer Reise gen Norden weiter belästigt von ihrer aufdringlichen Cousine bis deren Ehemann, der Professor, in der Stubbenkammer auftaucht. Das "brave Lottchen" liebt er gar aufrichtig, wenn er auch ihre Rebellion nicht versteht. Elizabeth, die Erzählerin, schildert das Wiedersehen der Eheleute trefflich: "´Ach ja´, seufzte der Professor, streckte die Beine unter dem Tisch aus und rührte in der Kaffeetasse, die der Kellner vor ihn hingestellt hatte, (zu Brosy) ´vergessen Sie nie, junger Mann, das einzig wirklich Wichtige im Leben sind die Frauen. Kleine, runde, weiche Frauen. Kleine schnurrende Miezekatzen. Eh, Lotte? Manche von ihnen wollen zwar nicht immer schnurren, nicht wahr, Lottchen? Manche miauen viel, manche kratzen, manche schlagen zuweilen tagelang zornig mit ihren unartigen Schwänzchen. Aber alle sind weich und angenehm und eine Zierde vor dem Kamin." Mit dieser herzigen Rede erweckt der Professor die Bewunderung aller anwesenden Damen mit Ausnahme seiner eigenen, die eisern schweigt. Kaum ergibt sich die Gelegenheit flieht sie. Die Ich-Erzählerin opfert sich, ihrer eigenen Sehnsucht nach Alleinsein zum Trotz, nimmt sich des verlassenen Professors an und eilt der Cousine nach, quer durch Rügen, um die "tugendhafte" Ehe zu retten. Es geht über Glowe und Kap Arkona schließlich nach Hiddensee, wo die arme Charlotte gestellt wird und der "Roman" zu Ende geht. 

Wenn ich Sellin für den schönsten Ort der Insel halte, so Lohme für den nettesten. Lohme erreichten wir als Endpunkt unserer Hochuferwanderung von Sassnitz aus, vorbei an allen markanten und bekannten Aussichtspunkten: Störtebecker Bucht, Wissower Klinken (abgebrochen 2004), Ernst-Moritz-Arndt-Sicht, Viktoria-Sicht, Königsstuhl. Lohme ist ein beschauliches, ehemaliges Fischerdörfchen, heute Hotels, Pensionen, schlichte Wirtschaften und ein kleiner Yachthafen. Im Café Niedlich wird leckerer Kuchen serviert und Männern, die das Damen-Klo benutzen, mit einer Amputation gedroht. Am schönsten, stelle ich mir vor, muss es hier im Herbst sein: die rauere See, die gelben Buchenwälder, der starke Tee. Busse kommen nur selten. Aber es gibt schon einen Golfplatz in der Nähe.

Elizabeth, die ironische Erzählerin, scheitert natürlich. Wieder zu Hause erfährt sie, dass die von ihr dem Ehemann wieder zugeführte Charlotte "die Scheidung eingereicht habe. Als ich das hörte, war ich wie vom Donner gerührt." Die zauberhafte Elizabeth ist ihren Leserinnen und Lesern eben ganz Frau, ein bisschen töricht, stets in charmanten Irrtümern befangen und an Aufklärung nur bedingt interessiert: "Nun, Frauen haben mich schon immer in Staunen versetzt, wobei ich mich selbst mit einschließe, neige ich doch stets zu Torheiten, von denen ich einfach nicht lassen kann." So ist es. Entzückend. Und: Ich habe die Ironie schon verstanden. Sie erscheint mir nur bei Elizabeth von Arnim, wie auch sonst nicht selten, als ein besonders perfides Stilmittel, der sich selbst beweihräuchernden, koketten Feigheit. Ein Roman, den niemand lesen muss. Aber, selbstverständlich, kann, könnte. Ganz nett. Für Miezekatzen, die manchmal miauen. 

Ich badete nur vor Binz (Temperaturen zwischen 17 und 20 Grad). 
Das beste Gasthaus dieser Sommerreise war die Strandhalle in Binz (wenn auch vor Ort "überlobt". Anderswo habe ich, in derselben Preisklasse, auch schon besser gegessen.)
Am glücklichsten war ich in Neuendorf am Bodden.
Am unglücklichsten im Prorarer Treppenhaus-Witz-Museum.
Am billigsten war es in Lohme.
Am teuersten ist es in Binz.
Der schönste Ort der Insel für mich, ich schrieb es schon, bleibt Sellin. Der netteste ist Lohme (siehe oben).


Sommerfrische und Ostsee, das bleibt für mich verbunden, von Kindesbeinen an. 
Als kleines Mädchen, als junge Frau, als Mutter, als alte Frau. 
Auf dem Darß und auf Usedom war ich (noch) nicht.


Elizabeth von Arnim: Elizabeth auf Rügen, Insel 2012

1 Kommentar:

  1. hinterher sind alle schlauer. Wie billig ist es doch, aus der sicheren Entfernung eines Jahrhunderts die Haltung einer Autorin zu be- und verurteilen. So, so, Verrisse schreiben Sie also nicht ...

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